Ernst war, als er zum ersten Male meine Lebensbahn kreuzte, schon längst einer der berühmtesten Geiger, obgleich er erst neunundzwanzig Jahre zählte. Für seine Zeit war er ungefähr das, was heute Sarasate ist, nur mit dem Unterschiede, dass dem letzteren zur Zeit eine Unmenge von Rivalen erwachsen sind, während zu jener Zeit wohl nur Vieuxtemps und Ole Bull sich eines gleichen Rufes wie Ernst erfreuten. Spohr und Paganini waren vom Schauplatz abgetreten, der Stern von Joachim und den Schwestern Milanollo waren eben im Aufgehen begriffen, Bazzini aber, Lafont und Sivori hatten wenigstens in Deutschland noch nicht die gleiche Berühmtheit wie Ernst erlangt. Es war daher kein Wunder, dass ich, im Frühjahr 1843 auf der Reise von Altona nach Kopenhagen begriffen, kaum in Kiel angekommen, mich sofort ins Konzert im Saale der Harmonie begab, um Ernst zu hören, dessen Konzertanzeige ich gelesen hatte. Ernst war Virtuose im eigentlichen Sinne des Wortes und machte keinen Hehl daraus, dass er durch seine, freilich auch blendende Virtuosität auf die Menge wirken wollte, wie es zu jener Zeit seitens fast aller Virtuosen mit einer gewissen Naivität geschah. Man konnte damals von Clara Wieck noch Variationen von Herz oder Phantasien von Thalberg hören, ebenso wie der dreizehnjährige Joachim damals noch mit Vorliebe die Othellophantasie von Ernst spielte. Ernst selbst überwand nicht nur die haarssträubendsten Schwierigkeiten mit Eleganz und Humor, sondern er adelte sie auch, ähnlich wie Liszt, durch den Geist, mit dem er sie zu durchsetzen wusste, während er andererseits die Melodie mit einer herzerquickenden Innigkeit und je nach Erfordernis mit einer wunderbaren Glut vorzutragen wusste. Begreiflicherweise entflammte er das Publikum zu enthusiastischem Beifall, dem ich mich mit der vollen Hingabe der Jugend anschloss. Aber es war mir seltsam zumute, als ich da den großen Künstler in seiner Vollkraft, im Strahlenkranze seines Ruhms und von allen umjubelt sah, und dann auf mich selber herunterblickte, der ich auf dem Wege war, um mir in Kopenhagen von König Christian VIII. ein Stipendium zu erbitten, welches mir mein ferneres Studium ermöglichen sollte. Während ich so über die Verschiedenheit der Situationen grübelte, trat ein eleganter Kavalier zu mir heran und fragte mich, ob ich der sei, für den er mich halte, der Klavierspieler Reinecke aus Altona. Ich musste das natürlich bejahen, und da richtete er denn an mich einen Auftrag von der im Konzerte anwesenden Herzogin von Glücksburg aus, welcher dahin lautete, dass ich etwas vortragen möge, da sie mich zu hören wünsche. Vergebens stotterte ich, dass ich nicht begreife, wie ich zu der Ehre komme, von Ihrer Hoheit gekannt zu sein, vergebens wies ich auf meinen Reiseanzug hin, vergebens darauf, dass ich dem Konzertgeber gänzlich fremd sei. Der Hofkavalier entgegnete mir, dass die Gräfin Plessen der Herzogin meine Ankunft in Kiel mitgeteilt habe, dass man auch im Reiseanzug Klavier spielen könne, und dass er selbst mich dem „Herrn Ernst“ vorstellen werde. Was blieb mir übrig, nachdem die Formalitäten vorüber waren, als mich an den Flügel zu setzen und zu spielen? Dass ich das Mendelssohnsche G-moll Konzert mit Haut und Haaren herunterspielte, war gewiss ein sonderbarer Einfall von mir, aber mir fiel in diesem Augenblicke eben nichts anderes ein. Immerhin trug er mir freundliche Worte von Ernst ein und – was mich ganz besonders beglückte – eine Einladung, ihn am nächsten Morgen zu besuchen. Die Morgenstunden des kommenden Tages schlichen mir nur allzu langsam dahin, denn ich konnte die Zeit kaum erwarten, wo ich mit Anstand meinen Besuch machen durfte. Endlich stand ich aber doch in Ernsts Zimmer, ward freundlich willkommen geheißen und nach kurzem Verweilen aufgefordert, mit ihm zu musizieren. Ernst zeigte mir die soeben aus Leipzig angekommenen, fast noch feuchten Exemplare der zwölf Pensées fugitives von Stephen Heller und Ernst, welche später als überaus feine Salonstücke sehr viel gespielt wurden und auch heute noch nicht vergessen sind. Da ich von meinem Vater stets zum „vom Blatte spielen“ oder, wie der Italiener viel prägnanter sagt, zum prima-vista-Spiel angehalten worden war, so konnte ich diese zwölf nicht gerade leichten Sachen zu seiner Zufriedenheit mit ihm spielen, und da während des Vormittags viele Besucher bei ihm erschienen, so mussten die Sachen häufig wiederholt werden; schließlich legte Ernst die sogenannte Kreutzersonate von Beethoven auf, und als wir geendet hatten, sagte er: „Gestern haben Sie in meinem Konzert gespielt, nun müssen Sie ein Konzert geben, und ich werde in dem Ihrigen spielen.“ Natürlich nahm ich dankerfüllt an, und wenige Tage darauf, es war am Freitag den 7. April 1843, gab ich mein Konzert, in welchem Ernst als Solonummer seine berühmte Elegie und mit mir einige der oben erwähnten Pensées fugitives   und die Kreutzersonate spielte. Es wurde mir schwer, mich von dem Manne zu trennen, der mir so viel Güte und eine solche Ehre erwiesen hatte, aber ich wusste, dass ich ihn in wenigen Tagen in Kopenhagen wiedersehen würde. Dort hatte ich allerdings Empfehlungen an den Hof, aber im Übrigen sah es windig genug für mich aus, denn außer Ernst waren noch Ole Bull und der seiner Zeit berühmte Klaviervirtuose Theodor Döhler in Kopenhagen, derselbe Döhler, von dessen vielgespieltem Notturno in Des-Dur einst Robert Schumann sagte, es sei so süß und so kalt wie das Eis, was dazu herumgereicht würde. Diese drei berühmten Virtuosen nahmen natürlich das Publikum der nicht eben großen Residenz dergestalt in Anspruch, dass an mir niemand mehr Interesse nehmen konnte. Ernst gab sein erstes Konzert im Hoftheater und hatte einen Riesenerfolg, so dass er wenige Tage darauf ein zweites Konzert veranstalten musste. Als ich ihn nun am Morgen nach dem ersten Konzerte im Hotel d'Angleterre besuchte, empfing er mich mit den Worten: „Schön, dass Sie kommen, denn ich habe eine Bitte an Sie: Ich habe am kommenden Sonnabend mein zweites Konzert im königlichen Hoftheater, da fehlt mir aber eine Nummer, und so wollte ich Sie bitten, ein Solo zu spielen.“ Der liebenswürdige Künstler wusste, dass ich schwerlich Gelegenheit finden würde, mich in Kopenhagen öffentlich hören zu lassen, wenn er mir nicht dazu die Hand böte, und so wählte er diese Form, um mir einen Wunsch zu erfüllen, den auszusprechen ich niemals gewagt haben würde. Dass ich mich nicht zweimal bitten ließ, begreift jeder. Der Abend des 22. April kam heran, und mit der Unbefangenheit der Jugend trat ich aus den Kulissen heraus und setzte mich an den Flügel, natürlich durch kein Zeichen des Willkommens vom Publikum begrüßt. Ich spielte, so gut ich konnte, ein eigenes Konzertallegro mit Orchesterbegleitung. Kaum aber hatte ich den letzten Akkord angeschlagen, da trat Ernst aus den Kulissen heraus auf mich zu, umarmte und küsste mich angesichts des zahlreichen Publikums und gab dadurch selbstverständlich das Zeichen zu einem Beifall, wie ich ihn sicher nicht verdient hatte. Dass ich solche Herzensgüte nie vergessen kann, ist gewiss begreiflich. Im Jahre 1844 traf ich Ernst wieder in Leipzig, wo er ähnlich wie in Kopenhagen gefeiert wurde. Aus dieser Zeit sind mir zwei denkwürdige Abende im Gedächtnis geblieben: der erste war der des 25. Novembers des Jahres 1844 , als Ernst im Verein mit Bazzini, dem ganz jugendlichen Josef Joachim und Ferdinand David die Conzertante für vier Violinen von Louis Maurer im Gewandhause spielte. Eine gleich brillante Besetzung erfuhr das herrliche Oktett von Mendelssohn-Bartholdy, welches in einer Privatsoirée bei Dr. Hermann Härtel (einem der Chefs der berühmten Firma Breitkopf & Härtel) gespielt wurde, und zwar von den oben genannten Geigern, aber in anderer Folge, nämlich David, Ernst, Bazzini und Joachim, von Niels W. Gade und Otto von Königslöw als Bratschisten, und von den Cellisten Julius Rietz und Andreas Grabau; die Hörerschaft bildete ein Parterre von Königen: Mendelssohn, Robert und Clara Schumann, Moscheles, Moritz Hauptmann, Livia Frege und andere.

Später traf ich mit Ernst abermals in Kopenhagen zusammen, und wieder war er bemüht, mich zu fördern, so viel er konnte. Es war im Jahre 1847, ich war allerdings inzwischen Hofpianist des Königs von Dänemark geworden, aber trotzdem konnte ich es sehr wohl brauchen, wenn ein kleiner Strahl vom Ruhme dieses Mannes mich traf. Da erbot er sich denn sofort, in den von mir ins Leben gerufenen Kammermusikabenden mitzuwirken, und spielte am 4. Dezember 1847 mit mir ein Klavierquartett meiner Komposition (später als op. 34 erschienen) und wiederum die Kreutzersonate von Beethoven, während er am 5. Januar 1848 meine Soirée durch den Vortrag des Beethovenschen C-Dur Quartetts op.59 auszeichnete (die Namen der übrigen Ausführenden waren: Francke, von Königslöw und Sahlgreen). Aus jener Zeit stammt auch der folgende humoristische Brief von Ernst:

 

„Seiner Wohlgeboren

dem Herrn Kapellmeister

Carl Reinecke

(in Es-dur)1  

in der Hauptstadt von Dänemark

Zur Genesung2  

 

Lieber Freund!

 

Es thut mir recht leid, dass wie heute nicht zusammen speisen können, und noch leider , daß ein Unwohlsein Sie daran hindert. Ihren Auftrag werde ich besorgen. Ich sende Ihnen beifolgend die italienischen Lieder von Kullak und Eckert bearbeitet. Sie (nicht Sie, sondern sie) scheinen mir recht hübsch und effektvoll. Sehen Sie sie doch an und bringen Sie sie wieder mit. Vielleicht spielen wir sie den Abend bei Hofe.

Adieu.

Empfangen Sie die Versicherung meiner aufrichtigen Hochachtung und freundschaftlichen Ergebenheit. Wenn ich es Ihnen versichere, so ist es gewiss.

Ernst

 

Kopenhagen, den 26. Dezember 1847.“

 

 

Das Hofkonzert, von dem in diesem Briefe die Rede ist, fand wirklich statt, und wir spielten auch die erwähnte Phantasie von Kullak und Eckert, aber ich muss beichten, dass ich dem guten Ernst an demselben Abend einen argen Streich spielte. Und das hing folgendermaßen zusammen: Zu jener Zeit kursierte in Kopenhagen eine über alle Maßen naive Polka, deren Autorschaft der Prinzess F., einer alten, sehr hässlichen Dame, zugeschrieben wurde, und die Ernst so übergroßen Spaß machte, dass er sie gar nicht genug hören konnte. Er spielte sie einem jeden auf der Geige oder auf dem Klavier vor, er pfiff oder sang sie, wo er ging und stand. Als er nun in jenem Hofkonzerte seinen unvermeidlichen Carneval von Venedig spielte, und ich ihm diesen begleitete, entfaltete er die übermütigste Laune, mischte Mozarts „Non più andrai, farfallone amoroso “, Mendelssohns „Auf den Flügeln des Gesanges“, den Freischütz-Walzer und alles mögliche andere hinein und antwortete dann jedes Mal mit den übermütigen Motiven des Carnevals, während ich hundert und aber hundert Mal die eintönige, nur auf zwei Akkorden beruhende Begleitfigur abhaspeln musste. Da kam mir denn der verwerfliche Gedanke, mich auch auf eigene Faust zu amüsieren, und so fing ich an mit der linken Hand die berühmte Polka von der Prinzess F. zu spielen, welche Ernst gegenüber Platz genommen hatte. Ernst, der sich nur mit Mühe des Lachens erwehren konnte, richtete unwillige Blicke auf mich, aber ich tat, als sähe ich es nicht und hämmerte unbarmherzig meine Polka mit der linken Hand, während die rechte ganz bieder die vorgeschriebene Begleitung spielte. Später löste sich aber sein Zorn sofort in ein heiteres Lachen auf, denn er hatte sehr viel Sinn für Humor und selbst für kindliche Späße. So war ich einst Zeuge, wie er 1843 gemeinschaftlich mit Ole Bull dem Kunstgenossen Theodor Döhler zu dessen Geburtstag am 22. April ein Ständchen brachte, indem er, der Schlanke und Schmächtige, auf den Schultern des reckenhaften Ole Bull Platz genommen hatte und mit dem Bogen die Geige bearbeitete, welche sein edles Ross unter dem Kinn hielt. Es war ein Bild, würdig eines Oberländer. Einstmals forderte er Döhler und mich auf, ihm die Euryanthen-Ouvertüre vorzuspielen. Als wir an die berühmte Pianissimostelle in der Mitte der Ouvertüre kamen, fühlten wir plötzlich unsere Köpfe beschwert, Ernst hatte sich hinter uns geschlichen und uns, um die Dämpfer zu markieren, welche bei dieser Stelle auf den Steg der Geigen gesetzt werden, je eine Butter- und Käseglocke auf den Kopf gesetzt, welche er leise vom Frühstückstisch genommen hatte. Zu solchen und ähnlichen Späßen war er damals stets aufgelegt; und als ich ihm einst meine Bewunderung darüber aussprach, dass er sich trotz der unerhörten Huldigungen, die man ihm stets darbrachte, eine solch unglaubliche Anspruchslosigkeit bewahrt hätte, sagte er: „Ach Gott, lieber Freund, was ist denn ein Virtuose, ein bloß ausübender Künstler? Wir Virtuosen haben alle Ursache, bescheiden zu sein. Nur ein schaffender Künstler darf sich fühlen, wenn er etwas Schönes komponiert hat. Was habe ich denn geschrieben? Einige Virtuosenstücke und die Elegie!“ (Das Fis-moll Konzert existierte damals noch nicht). Zur rechten Zeit aber konnte er auch den echten Künstlerstolz hervorkehren. Als er einst eine Einladung zum Souper bekam mit der Bemerkung, dass er doch seine Geige mitbringen möge, antwortete er „Moi, je viendrai avec plaisir, mais quant à mon violon, il ne soupe jamais“. Als ich ihn dann im Jahre 1849 in Leipzig wieder sah, war er viel ernster geworden. Dort schrieb er in dem damaligen Hotel de Bavière sein Fis-moll Konzert, seine bedeutendste und eine auch wirklich bedeutende Komposition. Dann saß er trotz hellichten Tages bei verhangenen Fenstern und arbeitete bei Kerzenschein, und in seinem ganzen Wesen lag etwas Visionäres.

Am 11. März 1849 spielte er es zuerst im Gewandhause.

Noch einmal begegnete ich ihm, einige Jahre später, in Köln. Da war er schon der halb gebrochene Mann, als welcher er sich bald darauf nach Nizza zurückzog, wo er am 14. Oktober 1865 seinem schweren Leiden erlag.

Als ich seinen Tod erfuhr, musste ich unwillkürlich an die schönen Zeilen von Wilhelm Hauff denken:

 

„Und wird dir einst die Nachricht zugesandt,

Dass zu den Vätern ich versammelt wäre,

So trink und sprich: 'Ich hab' ihn auch gekannt',

Mach hier ein Kreuz und gib mir eine Zähre.“