Er war eine stürmische Seefahrt, die mich im Juni 1843 von Kopenhagen nach Stockholm brachte. Ich befand mich als einziger Philister in Gesellschaft einiger hundert dänischer Studenten, welche die „Calmarer Union“ in Stockholm feiern wollten, und hatte die Fahrt lediglich aus Reiselust unternommen, weil man mir einen Platz auf dem von den Studenten gemieteten Dampfer freundlichst angeboten hatte. „Wer kann da widerstehen!“ hatte ich mit Don Ottavio gesagt, und so kam ich nach Stockholm. Da ich manche gute Empfehlung an dortige einflussreiche Persönlichkeiten mitgebracht hatte (unter anderem an den berühmten Chemiker Baron von Berzelius, dessen Gattin eine leidenschaftliche Musikfreundin war), und in diesen Kreisen eine wohlwollende Aufnahme zu finden hoffte, so machte ich mich nun auch mit dem Gedanken vertraut, meine Tage in der schwedischen Hauptstadt nicht nur als müßiger Tourist zu verbringen, sondern auch als Klavierspieler mein Glück mit einem Konzerte zu versuchen. Wenn ich nun mit irgend jemandem über dieses etwas kühne Projekt sprach, hieß es sofort: „Ah! Da müssen Sie zu Jenny Lind gehen und sie um ihre Mitwirkung bitten. Wenn die zusagt, sind Sie eines vollen Hauses sicher!“ Ich hörte den Namen Jenny Lind zum ersten Male, und der gleiche Enthusiasmus, der aus aller Leute Rede hervorklang, machte mich äußerst begierig, diesen Liebling von ganz Stockholm, vielmehr den Stolz ganz Schwedens, zu hören. Ich ging in die Oper und hörte Jenny Lind als Lucia in Donizettis Lucia di Lammermoor. Obgleich die Opern von Donizetti und Bellini damals noch lange nicht so von oben herab beurteilt und so verächtlich beiseite geschoben wurden wie heutzutage, so hatte doch auch ich infolge meiner musikalischen Erziehung ein großes Vorurteil gegen diese Art italienischer Opern, wenngleich ich bis dahin nur wenige derselben gehört hatte. Aber mein Urteil wurde doch ein wesentlich anderes, als ich Jenny Lind als Lucia hörte.
Was mir vordem trivial erschienen, war durch ihren wunderbar poetischen Vortrag geadelt worden, und ich musste mir doch mit einiger Überraschung gestehen, dass jene geschmähten Italiener es wohl verstanden haben, für die Stimme so gut zu schreiben, dass der Sänger imstande ist, den reichsten Schatz seiner Empfindungen in ihre Melodien hineinzulegen, selbst wenn diese an sich, meinem deutschen Empfinden gemäß, der jeweiligen Situation widersprechen. Wer je eine Norma oder Lucia oder Sonnambula von Jenny Lind oder einen Romeo von der Schröder-Devrient zu hören das Glück gehabt hat, wird – wenn er auch im Prinzip ein heftiger Gegner jener Opern-Schreibweise ist – milder über jene Komponisten urteilen und eingestehen müssen, dass ihre Werke eine tiefgehende Wirkung hervorzubringen vermögen, wenn sie so vollendet gesungen werden, wie dies bei den damaligen großen Vertretern und Vertreterinnen des bel canto der Fall war. Nachdem ich diesen ersten unvergesslichen Eindruck von den Leistungen Jenny Linds gehabt hatte, fiel es mir gar nicht mehr ein, sie um ihre Mitwirkung zu bitten; denn ich fühlte mich jetzt diesem Sterne gegenüber zu sehr als kleines Talglicht. Infolge dieser Resignation fand ich zu jener Zeit auch nicht Gelegenheit, die persönliche Bekanntschaft der unvergleichlichen Künstlerin zu machen. Ebenso wenig wurde mir dies Glück zuteil, als sie einige Jahre darauf nach Leipzig kam. Es war am 4. Dezember 1845, als sie infolge einer Einladung Felix Mendelssohn-Bartholdys in einem Gewandhaus-Konzerte sang. Schwer zu beschreiben ist es, welchen Eindruck sie damals hervorbrachte, und welchen Enthusiasmus sie entfesselte mit dem Vortrag der Arien „Casta diva “ aus Bellinis Norma, „Ich grausam? o mein Geliebter!“ aus Mozarts Don Juan und einiger Lieder („Auf Flügeln des Gesanges“ und „Leise zieht durch mein Gemüt“) von Mendelssohn. Ebenso schwer zu beschreiben ist, mit wie verklärtem Antlitz und wie leuchtenden Blicken Mendelssohn, der am Flügel saß, seinen eigenen Tönen lauschte, wie sie der Kehle dieser gottbegnadeten Künstlerin entquollen. Ich glaube, dass es geradezu unmöglich ist, mit vollendeterer Virtuosität, mit echterem Empfinden und erschöpfenderem poetischen Ausdrucke zu singen, als die „schwedische Nachtigall“ es tat. Die Mendelssohnschen Lieder sind heutzutage ebenfalls von Sängern und Sängerinnen einigermaßen ad acta gelegt worden. Aber, wenn sie dieselben so im Geiste des Komponisten vorzutragen wüssten wie dereinst Jenny Lind, so würden sie auch heute noch die gleiche Wirkung damit erzielen, wie jene in diesem denkwürdigen Konzerte. Wenn die Künstlerin in Mendelssohns nicht mehr als 14 Takte umfassendem Liede“Gruß“ von Heine die Worte sang „kling hinaus ins Weite – sag', ich lass' sie grüßen“, so war es einem, als dehnten sich die Wände des Saales auseinander, und man sähe in den blauen Frühlingsäther hinein. Selbstverständlich gab sich das Publikum mit diesen auf dem Programm verheißenen Liederspenden nicht zufrieden. So nahm dann die Künstlerin später selbst am Flügel Platz und begleitete sich einige schwedische Volkslieder, die sie mit einer Naturfrische und einem Humor vorzutragen wusste, welche alle Welt in Staunen setzte. Der kolossale Erfolg dieses Abends veranlasste Mendelssohn, gleich am nächsten Tage ein Extrakonzert zum Besten des Fonds für die Witwen der Orchestermitglieder zu veranstalten und die Gefeierte um ihre Mitwirkung zu bitten, während er selbst, den man seit achtzehn Monaten nicht mehr in Leipzig gehört hatte, als Solist mit ihr alternieren und unter anderem sein G-moll Konzert spielen wollte. Somit fiel dem damals noch jungen dänischen Komponisten Niels W. Gade, welcher zu jener Zeit die Gewandhaus-Konzerte mit Mendelssohn abwechselnd dirigierte, die Leitung des Orchesters zu. Ich wohnte schon der Probe bei. Jenny Lind sang in den Proben stets mit voller Stimme, wie sie auch mit dem Glockenschlage zu jeder Probe erschien. Die erste Nummer in der Probe war das erste Finale aus Webers Euryanthe. Der wohlgeschulte Chor hatte bis dahin nicht den geringsten Anlass zu irgendeiner Wiederholung gegeben, nachdem aber Jenny Lind die Worte „Wonnen und Wehen durchwogen die Brust“ mit einem geradezu undefinierbaren Zauber gesungen hatte, setzte nicht einer vom Chor ein, sie alle standen mit geöffneten Lippen da, unfähig, sich nach diesem überwältigenden Eindrucke gleich zu fassen. Jenny Lind lachte, Gade lachte, man begann noch einmal bei geeigneter Stelle, und nun ging alles glatt vonstatten. Am Abend sang sie außer dem erwähnten Finale aus Euryanthe Szene und Arie aus „Figaros Hochzeit“ „Dove sono“, die Freischütz-Arie „Wie nahte mir der Schlummer“ und Lieder am Klavier, darunter wieder nach schier endlosem Jubel einige schwedische Volkslieder, welche damals, als man noch nicht so wie heute mit nordischer Musik überschüttet wurde, durchaus neu und überraschend wirkten. Ein Berichterstatter jener Zeit schrieb: „es riss darin wieder das Abnehmen der Stimme bis zum leisesten Hauche und eine kunstvoll verschlungene Verzierung während dieses pianissimo alles hin. Der Beifall des entzückten Publikums wollte nicht enden. Die Mitglieder des Orchesters aber beeilten sich, der uneigennützigen Künstlerin ein Zeichen ihres Dankes zu geben und vereinigten sich nach Beendigung des Konzertes zu einer Instrumental-Serenade, die sie ihr vor ihrer Wohnung darbrachten.“ Auch einige Männergesangvereine hatten sich dieser Huldigung angeschlossen. In dem weiten, durch Fackeln erhellten Kreise der Versammelten erschien dann Jenny Lind an der Seite Mendelssohns und dankte jedem mit Hand und Wort. Ein donnerndes Hoch auf die Gefeierte erscholl, und sie zog sich wieder zurück. So groß war der Zauber, den die Künstlerin überall ausübte. An vielen Orten, namentlich in Berlin, gab er sich noch viel lärmender kund. Und dabei war Jenny Linds Stimme weder ungewöhnlich groß, noch von außergewöhnlicher Schönheit. Wenn sie begann, klang ihre Stimme meistens etwas verschleiert, und man las dann auf dem Gesichte manches Zuhörers die Frage: „Ist das wirklich Jenny Lind?“ Aber prinzipiell räusperte sie sich niemals (weil sie der Überzeugung war, dass dies der Stimme schade), sondern zog es vor, die Stimme nach und nach frei zu singen und verzichtete lieber auf den ersten großen Eindruck. Wenn dann aber die Stimme frei und durchdrungen von den tiefsten seelischen Regungen erklang, war ihr Triumph gesichert, und über solch tiefstes Durchdringen ihrer Aufgabe vergaß man ganz und gar die unvergleichliche Virtuosin, von welcher ich einst u. a. die chromatische Skala vom dreigestrichenen des bis herab zum eingestrichenen des und dann wieder zurück, auf dem Schlusstone mit einem Triller endigend, hörte! Jenny Lind dachte ebenso scharf, wie sie tief empfand. Demgemäß sang sie z.B. die Anfangsworte des Rezitativs „Wie nahte mir der Schlummer, bevor ich ihn gesehn!“ anknüpfend an die ihr unbegreiflich erscheinende Aufforderung Aennchens: „Aber dann lass uns auch zu Bette gehn“, im Tone des Vorwurfs über eine solche Zumutung, während man gewöhnt war – und wohl noch gewöhnt ist – dieselbe mild und freundlich gesungen zu hören. Dies eine Beispiel nur für viele. Lieder aber sang sie, wie das Wesen des Liedes es erfordert, wenn auch mit erschöpfendem Ausdruck, so doch ohne deklamatorischen Aufwand und dem häufig damit verbundenen Aufbauschen des Liedes zu einer dramatischen Szene.
Erst während meines späteren Aufenthaltes in Bremen hatte ich das Glück, die persönliche Bekanntschaft Jenny Linds zu machen. Sie war befreundet mit einer liebenswürdigen Familie daselbst, bei der ich freundschaftlich verkehren durfte, und deren eine Tochter (die spätere Gattin von Klaus Groth) meine Schülerin war. Gelegentlich eines Besuches, den Jenny Lind dieser Familie in Bremen machte, wurde ihr zu Ehren in diesem Hause eine Gesellschaft gegeben, zu der auch ich eine Einladung erhalten hatte. Zum Spielen aufgefordert, setzte ich mich an den Flügel und gab mein Bestes; als Jenny Lind mich dann aufforderte, ihr einige Lieder zu begleiten, fühlte ich mich sehr reich belohnt. Als sie geendet hatte, und ein Herr ihr einige phrasenhafte Komplimente machte, gewahrte ich mit Erstaunen, aber mit einiger Befriedigung, wie sie ihm stumm den Rücken kehrte und sich zu einem Gespräch an mich wandte. Als ich sie nun im Laufe des Gespräches bat, mit ihrer Kunst doch mehr für die Verbreitung Schumannscher Lieder einzustehen als sie bisher getan hatte, sah sie mich groß an, wahrscheinlich um meiner Freimütigkeit willen, und sagte dann: „Sie haben ganz Recht“, fügte auch sofort wie entschuldigend hinzu, dass sie bis jetzt nur auf der Bühne gewirkt habe und erst seit kürzerer Zeit mit der ihr seither fast fremd gebliebenen Liederliteratur bekannt geworden sei. Dieser Charakterzug an ihr, Schmeicheleien unfreundlich aufzunehmen und Offenheit gern gelten zu lassen, gefiel mir ausnehmend, und deshalb scheute ich mich nicht, ihr als Tischnachbar beim Souper zu sagen: „Ich habe schon bemerkt, mein Fräulein, dass sie sich nicht gern zu viel Schönes sagen lassen, viel lieber etwas Derbes, wenn's nur ehrlich gemeint ist.“ „Sie haben ganz Recht“, war abermals ihre Antwort, und von da an waren wir, so zu sagen, gute Freunde. Sie musste oft in Bremen singen, und ich hatte die Freude zu erfahren, dass ihr an meiner Begleitung etwas gelegen zu sein schien, denn ich fehlte in keinem ihrer Konzerte am Klavier. Auch nach dem benachbarten Oldenburg war sie eingeladen worden, aber das Unglück wollte, dass sich dort zu keinem der von ihr gewählten Arien die Orchesterstimmen vorfanden. Man hatte nämlich vorausgesetzt, dass sie die Stimmen mitbringe, und sie war ihrerseits der festen Meinung gewesen, dass man in einer Residenz, und sei es auch eine kleine, die Orchesterstimmen zum „Freischütz“, zum „Don Juan“ oder zur „Schöpfung“ besitze. Um das Maß der Fatalitäten voll zu machen, stellte sich überdies heraus, dass auch nicht einer der zu jener Zeit in Oldenburg aufhältigen Klavierspieler ihr als Begleiter genügte. Unter diesen Umständen wollte sie unverrichteter Sache wieder abreisen. Aber das Hoftheater war am Tage vor dem Konzerte bereits ausverkauft, und man bestürmte sie mit Bitten, sich mit dem Vorhandenen zu begnügen und zu bleiben. „Ich bleibe nur“, war ihre Antwort, „wenn Sie augenblicklich eine Estafette an Reinecke in Bremen schicken, und wenn er kommen will.“ Die Estafette traf bei mir ein, ich benutzte die nächste Post und kam früh genug in Oldenburg an, um mehrere Stunden vor Anfang des Konzertes die nötige Probe mit Jenny Lind abzuhalten. Ja, wir fanden sogar noch Zeit zu einigen musikalischen Exkursionen, indem wir unter anderem Schumanns damals noch neues Quintett aus dem Gedächtnis zu zweien interpretierten, originell genug, da ich die Klavierpartie spielte, und Jenny Lind das Fehlende singend ergänzte. Der damalige Hofkapellmeister P. in Oldenburg, bei dem die Sängerin wohnte, wusste nicht gut mit ihr umzugehen. Schon während des Konzertes sagte er ihr übertrieben viel Schönes, und, obgleich sie Gast in seinem Hause war, ließ sie ihn doch manchmal fühlen, wie ungern sie Derartiges höre. Als man nun nach glänzend verlaufendem Konzerte in der Wohnung des Herrn Hofkapellmeisters in einem Zimmer zu ebener Erde en petit comité versammelt war, äußerte Jenny Lind mit nicht zu verkennender absichtlicher Betonung, eine wie große Freude es ihr sei, wenn sie beim öffentlichen Auftreten mit Beifall, ja mit stärkstem Beifall belohnt werde, dagegen könne sie es nicht ertragen, wenn sie auch in ihrem Privatleben als „Wundertier“ betrachtet werde; da wolle sie schlicht wie jede andere gebildete Dame behandelt werden. Trotz dieser nicht misszuverstehenden Worte versicherte ihr unser gütiger Wirt, dass einer ihrer Zuhörer durch ihren Gesang „vom Übel erlöst sei“ und erging sich fortwährend in ähnlichen Redewendungen. Jenny Lind, welche sehr religiös gesinnt war und jene Worte besonders unangenehm empfunden haben mochte, rückte unruhig auf ihrem Stuhle hin und her, und uns wollten die guten Bissen gar nicht recht munden. Da begann vor dem Hause ein Summen, wie wenn Hunderte von Menschen sich dort sammelten. Der Herr Hofkapellmeister hatte den unglücklichen Gedanken, ganz verstohlen die Fenstervorhänge aufzuziehen, und als Jenny Lind nun zufällig zu den Fenstern hinblickte und dieselben von außen mit unzähligen neugierigen Gesichtern übersät fand, welche unserer Mahlzeit zuschauten, erhob sie sich plötzlich in voller Entrüstung und verließ mit den Worten „das ist doch zu arg“ das Zimmer. Begreiflicherweise war die Stimmung nunmehr eine sehr gedrückte und sank nach jedem vergeblichen Versuche, die Künstlerin zur Rückkehr zu bewegen, immer mehr. Nachdem sämtliche Mitglieder der kleinen Tafelrunde unverrichteter Sache aus dem Zimmer der Erzürnten zurückgekehrt waren, wurde ich gebeten, einen letzten Versuch zu machen, was ich jedoch ablehnte. Aber es half mir nichts: zwei der Herren eskortierten mich gewaltsam, wie einen Arrestanten, bis an die Tür ihres Zimmers, pochten an und eilten davon. Als ich nach wenigen Minuten mit Jenny Lind am Arm ins Zimmer trat, begegnete ich lauter ebenso erfreuten als erstaunten Blicken. Und doch hatte ich keinen Zauber angewendet, sondern mit ihr gesprochen, wie sie es liebte, und zwar wie folgt: „Erlauben Sie, mein Fräulein, dass ich Ihnen noch eine gute Nacht wünsche. Nachdem es drüben jetzt recht unbehaglich geworden ist, will ich nun auch mein Hotel aufsuchen. Aber verzeihen Sie, wenn ich meine, dass es doch nicht Recht ist, so im Groll von den Leuten zu scheiden, die Sie im Grunde doch gastlich und freundlich aufgenommen haben, nur um einer Ungeschicklichkeit willen! Die Fenster sind jetzt wieder verhangen, und, wenn Sie wollten, könnten wir noch ganz gemütlich ein Stündchen beieinander sitzen.“ Zum dritten Male erhielt ich ihre freundliche Antwort: „Sie haben ganz Recht!“ „Geben Sie mir Ihren Arm“, setzte sie hinzu; und auf so einfache Weise war der Missmut dieses eigenartigen Charakters besiegt.
Am andern Morgen fuhr ich mit ihr nach Bremen zurück. In einer Soirée, die am Abend desselben Tages stattfand, sprach die ebenso hochherzige als geniale Künstlerin mir den Wunsch aus, sich für mein häufiges Mitwirken in ihren Konzerten revanchieren zu dürfen, indem sie in einem von mir zu veranstaltenden Konzert singe. Nachdem ich geantwortet hatte, dass man dergleichen doch nicht so genau abzuwägen brauche, drängte sie mich in eine Ecke des Salons und drohte mir, mich nicht eher freizulassen, als bis ich ihr die Hand darauf gegeben habe, dass ich ihren Vorschlag annehmen wolle. Schließlich war es ja keine so schwere Aufgabe, darauf die Hand zu geben. Ich kann es mir nicht versagen, ihren hierauf bezüglichen Brief, den ich einige Zeit darauf aus Stockholm erhielt, hier mitzuteilen, und zwar mit allen den kleinen Schnitzern und Redewendungen, die dem Ausländer so gut stehen und so verzeihlich sind. Er liegt, leider schon etwas chiffoniert, vor mir. Der Briefbogen mutet einen heute mit seinen gemalten Blumen und ausgezackten Rändern recht altmodisch an. Der Inhalt lautet:
„Geehrter Herr Reinecke!
Als ich es Ihnen versprochen, komme ich jetzt bald nach Deutschland wieder um in einem Conzert von Ihnen mitzuwirken. Ich reise von hier am Donnerstag d. 27. d. M. und hoffe, dass Ihnen der 4. Juli ein passender Tag sey, da ich wohl schwerlich später als am 6. am Rhein seyn möchte. Ob nun der Donnerstag für Bremen ein guter Tag ist weiß ich zwar nicht, aber dies hoffe ich. Wenn Sie das Conzert am Tage d. h um 1 oder 2 Uhr machen wollen ist mir auch recht. Ich bleibe wohl ein Tag in Lübeck, vielleicht möchten Sie die Güte haben mich bis den 1. July dort ein paar Zeilen schicken (Adresse dem Herrn Doktor Heyland). Wählen Sie zwischen folgenden Nummern: 1. Arie (der Gräfin) aus Figaro's Hochzeit. 2. Arie aus der Freischütz „Wie nahte mir der Schlummer“. 3. Trio aus der Oper Vielka von Meyerbeer für zwei Flöten und eine Singstimme. Das wäre nett wenn Sie zwei gute Flöten hätten, denn dies ist ein hübsches Conzertstück. 4. eine Arie von Donizetti (aus der Liebestrank) oder sonst wenn Sie etwas wissen was man in Bremen gern mag. Für mich ist es einerlei ob Sie das Conzert mit oder ohne Orchester arrangiren wollen. Sie wünschen vielleicht, dass ich dreimal singe. Haben Sie dann die Güte und wählen Sie von diesen oben genannten Musikstücken welche Sie am liebsten mögen. - Sehr freundlich wäre es, wenn Sie mir der Familje Fincke vielmals grüßen wollen. -
Ich werde wahrscheinlich mit eine bekannte Familje von Lübeck reisen, wünsche aber in einem ruhigen Gasthofe zu logiren. Seyn Sie so gütig mich den Namen eines solchen zu nennen. Ich wünsche Ihnen Glück zu und verbleibe Ihre mit freundlichen Gesinnungen ergebene
Stockholm, d. 13. Juni 1850
Jenny Lind“
Das Konzert fand am 4. Juli statt. Im Solistenzimmer bemerkte sie meine, ich ihre Aufregung, und sie fragte mich: „Müssen Sie denn auch immer gähnen, bevor Sie öffentlich auftreten, gerade so wie ich?“ Ich musste es zugeben. „Ja, ja“, sagte sie, „entweder hat man einen Ruf zu verlieren, oder man möchte sich einen erwerben. Es ist doch im Grunde immer nur Ruhmsucht, die einen befangen und aufgeregt macht; das Kind weiß nichts davon, wenn es sich öffentlich produzieren muss.“ - Obgleich ich das Stadttheater gemietet und ein Orchester engagiert hatte, so lieferte das Konzert doch immer noch einen glänzenden Ertrag; denn das Haus war vollständig ausverkauft; ja, es mussten sogar viele, die aus Bremerhaven, Begesack u. s. w. herbeigeeilt waren, um die berühmte Sängerin zu hören, mit betrübter Miene wieder umkehren, weil sie unbedachterweise versäumt hatten, sich im Voraus Plätze zu sichern.
Viele, viele Jahre waren vergangen; ich saß mit den Meinen in Beckenried am Vierwaldstätter See unter dem bekannten großen Nussbaum und studierte die Fremdenliste. Da las ich „Hotel Axenstein: Herr Otto Goldschmidt und Frau aus London“, und kaum waren wir wieder im Hotel, da trat mein alter Freund und Landsmann Goldschmidt, seit langen Jahren der Gatte Jenny Linds, der auch meinen Namen in der Fremdenliste entdeckt hatte, auf mich zu, brachte mir Grüße von seiner Frau und eine Einladung, sie mit den Meinigen auf Axenstein zu besuchen. Wir folgten mit Freuden der Einladung. Mir erweckte das Wiedersehn wehmütige Empfindungen. Ich brauchte eine ganze Weile, um die anmutigen und beseelten, wenn auch nicht schönen Züge der jugendlichen Künstlerin in dem Antlitz der gealterten Frau wiederzufinden. Und doch – als ich sie später nach einem Spaziergange, den ich mit meinem alten Freunde unternommen hatte, neben meiner Frau sitzend fand, einen Schal über die Knie gebreitet, die Hände im Schoß ineinander verschlungen und freundlich meine Frau anblickend, da war es doch ganz die Jenny Lind, wie Magnus sie gemalt hat, und wie sie in der Nationalgalerie in Berlin prangt. Ein Jahr später war sie nicht mehr unter den Lebenden, aber ich hatte sie doch noch einmal gesehen und gesprochen, Jenny Lind, die größte Sängerin ihrer Zeit, vielleicht aller Zeiten.