Meine Erinnerungen an Clara Schumann reichen bis in meine Kinderjahre. Es war im Jahre 1834, als ich am Fenster der elterlichen Wohnung stand und sehnsüchtigen Herzens nach dem gegenüberliegenden Altonaer Schauspielhause blickte, wo Clara Wieck in den Zwischenakten als Klaviervirtuosin auftreten sollte; ich wäre gar zu gerne unter der Schar der hineinströmenden Theaterbesucher gewesen, aber mir war's versagt, denn ich hatte die jugendliche, damals fünfzehnjährige Künstlerin schon einige Tage früher in Hamburg gehört, und allzu viel Konzertbillette konnte mein guter Vater nicht für seinen musikhungrigen Sohn kaufen. Aber ich wollte die bewunderte Künstlerin sehen. Endlich kam auch eine Droschke angefahren, und ich sah, wie die Erwartete dem Wagen entstieg und in blassblauem Kleide durch eine Hintertür in den Kunsttempel schlüpfte. Dieser Kunsttempel glich allerdings mehr einem Kornmagazin als einer der Kunst geweihten Stätte, nur die Inschrift auf der Stirnseite „Der Muse unserer Mitbürger!“ deutete auf seine Bestimmung. Die Erinnerung an diesen Moment hat mich nie verlassen, ebensowenig wie der Eindruck, den mir ihr Spiel in dem Konzert in Hamburg gemacht hatte. Selbstverständlich war Clara Wieck noch lange nicht die Künstlerin, die später als Gattin Robert Schumanns die Höhen der Kunst erklomm. Demgemäß war auch ihr Programm ein recht buntscheckiges, und so hörte ich von ihr neben Werken von Bach und Chopin auch die „Bravourvariationen“ von Henri Herz über die Romanze aus Méhul's „Joseph in Ägypten“, ein elegantes, mit allen Virtuosenstücken gespicktes, aber gehaltloses Stück. Indessen was fragte ich als zehnjähriger Bube danach, der ich noch unter demselben Banne stand und mir auch an diesem Stücke die Finger zerbrach. Ich war einfach entzückt.

 Manches Jahr sollte vergehen, bevor ich das Glück hatte, die inzwischen überall hochgefeierte Künstlerin persönlich kennen zu lernen. Sie war im Dezember 1843 zur allerersten Aufführung von Schumanns herrlichem Chorwerk „Das Paradies und die Peri“ mit ihrem Gatten von Dresden nach Leipzig gekommen. Ich war erst seit zwei Monaten in Leipzig und pries mich glücklich, diesem musikalischen Ereignis beiwohnen zu können. Clara Schumann sang im Chore mit, gewiss eine seltene Erscheinung! Um diese Zeit hatte ich den Vorzug, dem edlen, verehrten Künstlerpaare in einer uns gemeinsam bekannten Familie vorgestellt zu werden, doch blieb es einstweilen bei dieser flüchtigen Bekanntschaft. Erst im Jahre 1846, nachdem Schumann in engere Beziehung zu mir getreten war, bildete sich zwischen uns eine Art kollegialischen Verhältnisses. Im Januar desselben Jahres lud mich Schumann nach Dresden ein. Dort verbrachte ich im traulichen Heim des liebenswürdigen Künstlerpaares viel schöne Stunden, ich brachte auch ein schönes Andenken in Gestalt eines Albumblattes von der Hand der genialen Frau mit nach Hause. Gegenwärtig sind berühmte Künstler gewöhnt, kurzweg ihren Namen eilig ins Album zu schreiben, aber Clara Schumann schrieb mir noch nach alter guter Sitte „zu freundlichem Erinnern“ ein ganzes Präludium aus ihrem Opus 16 ein, datiert „Dresden, Januar 1846“. Da ich in den nächsten Jahren ein Nomadenleben führte, war ich dem Ehepaar Schumann oft weit entrückt, doch eines Tages erhielt ich in meiner nordischen Heimat plötzlich einen Brief von der verehrten Frau, der mich ungemein erfreute. Er war vom 4. Oktober 1848 aus Dresden datiert und begleitete das Manuskript von Schumanns berühmtem Album für die Jugend. Sie bat mich im Namen ihres Mannes, einige der Stücke dem Musikverleger Jul. Schuberth in Hamburg vorzuspielen. Rührend ist's zu lesen, wie entzückt sie sich über das Werk ausspricht: „Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Werk, dem ich schon manche genussreiche Stunde verdanke, sich einer großen Teilnahme erfreuen wird, denn nicht allein, dass die Stücke durch ihre Originalität, mit der sie den Spieler und Hörer in die verschiedensten Stimmungen versetzen, aufs Höchste interessieren, so sind sie auch sehr leicht ausführbar.“ Und ferner: „In diesem scheinbar kleineren Werke steckt ein Schatz von Poesie und Gemüt. Die Begeisterung, lieber Herr Reinecke, unter uns – denn es möchte wohl manchem Anderen sonderbar erscheinen, dass ich als Frau so urteile, doch Ihnen, einem Musiker gegenüber, scheint mir das wohl erlaubt.“ Es bedarf wohl nicht der Versicherung, dass ich sofort die Bitte erfüllte, und wie sehr sich das Urteil der Künstlerin bewahrheitet hat, weiß die Welt, denn dieses Werk ist eines der populärsten des großen Meisters, dessen hundertsten Geburtstag man im Jahre 1910 sicher an vielen Orten festlich begehen wird.

Erst als ich mein Zelt in Bremen aufgeschlagen hatte, sollte ich wieder die Freude einer persönlichen Begegnung haben, als Clara dort ein Konzert gab und mich aufforderte, ihres Gatten berühmte Variationen für zwei Flügel mit ihr zusammen zu spielen. Am darauf folgenden Tage brachten beide mir zum Danke ihr Bild (einen vortrefflichen Stich nach dem Medaillon von Rietschel) mit der Unterschrift „Zur freundlichen Erinnerung an Rob. Schumann, Clara Schumann. Bremen, den 9.März 1850.“

 Ebenso teuer wie dieses Bild ist mir aber auch die Erinnerung an das Zusammenspiel mit der großen Künstlerin. Von Verabredungen zur Erzielung dieser oder jener Effekte war in der Probe keine Rede gewesen, wir spielten einfach Schumann, wie wir ihn fühlten; und ein freundlicher Händedruck des Meisters bewies uns, dass wir ihm zu Dank gespielt hatten. Vorweg will ich noch ein späteres öffentliches Zusammenspiel mit Clara Schumann erwähnen. Am 19. Dezember 1861 spielte ich mit ihr und mit dem Nestor der Klavierspieler, dem damals siebenundsechzigjährigen Moscheles, im Gewandhaus-Konzert das Tripelkonzert in C-Dur von J.S.Bach. So einfach wie in Bremen war das aber nicht, denn Moscheles wahrte seine Superiorität und wünschte manches anders, wobei ihm zuweilen das Wort „Effekt“ entschlüpfte. Außerdem ging es nicht ohne erheiternde Präliminarien ab, bis er einen ihm zusagenden Stuhl fand. Diese schildert Wasielewski in seinem Buche „Aus siebzig Jahren“ sehr getreu mit folgenden Worten: „Mit skrupulöser Sorgsamkeit prüfte er das ihm dargebotene Exemplar, indem er sich versuchsweise niederließ, um schließlich einen zu niedrigen Sessel zu verlangen. Dieser musste nun mit Hilfe von Notenheften erhöht werden. Aber auch das hatte seine Schwierigkeiten. Moscheles erhob sich wiederholt von seinem Sitz, um entweder noch ein weiteres Heft zur Unterlage zu begehren oder dasselbe gegen ein dünneres zu vertauschen. Nun schien alles in Ordnung zu sein. Doch mitnichten! Noch eine letzte Korrektur erfolgte durch Hinzufügung eines einzelnen Notenblattes. Jetzt zeigte sich Moscheles befriedigt, und es konnte losgehen! Moscheles aber schreibt in seiner Autobiographie über diesen Abend folgendes: „Es war mir ein erhebendes Gefühl, als ich vom Publikum wie ein Vater mit seinen Kindern empfangen wurde, als wir unser Stück wie aus einem Guss vorgetragen und ich beim Hervorruf Frau Schumann an meinem Arm herausführte.“

 Ein häufiger Verkehr aber bahnte sich erst an, als Schumann städtischer Musikdirektor in Düsseldorf geworden war, während ich in Köln als Lehrer am Konservatorium tätig war. Da wurde ich häufig eingeladen, sei es, um der Erstaufführung eines neuen Werkes von Schumann beizuwohnen oder um in einem der von Schumann geleiteten Konzerte zu spielen; dann wohnte ich zumeist bei ihnen und erlebte da manches, was – so harmlos es auch war – doch mit kurzen Worten erzählt werden darf. Einst gab Schumann eine kleine Abendgesellschaft und wurde beim Essen so heiter, dass er schließlich ein Tänzchen vorschlug. Der Vorschlag wurde mit Akklamation angenommen, Tische und Stühle weggeräumt, Clara Schumann und ich spielten abwechselnd zum Tanz, und Schumann walzte sehr vergnügt. Dann aber verlangte er selbst zu spielen, damit ich mit seiner Frau tanzen könne. Meine Versicherung, nicht tanzen zu können und auch in meinem ganzen Leben nie getanzt zu haben, ließ er nicht gelten, versprach mir indessen, langsam zu spielen; aber bald spielte er flotter und – horribile dictu – ich bewies durch die Tat, dass ich nicht tanzen konnte, da ich mitsamt meiner Tänzerin eine harte Begegnung mit dem Fußboden gemacht hätte, wenn nicht rechtzeitig ein wohltätiges Sofa uns freundlich in seine Kissen aufgenommen hätte. Damals lachte Frau Schumann, aber ein andermal war ich Ursache, dass sie dem Weinen nahekam, und das trug sich folgendermaßen zu: Schumann hatte mich aufgefordert, sein Quintett zu spielen, Frau Schumann wendete mir die Notenblätter um, und als wir geendet hatten, sagte sie zu ihrem Manne in etwas gereiztem Tone: „Sag' mal, lieber Robert, warum erlaubst du nur Reinecke, die Tempi so rasch zu nehmen, während ich sie stets ruhiger nehmen muss? Da sagte Schumann mit listigem Augenzwinkern: „Ja, siehst du, liebe Clara, wenn ein Mann schnell spielt, so ist das etwas Andres, als wenn eine Frau schnell spielt.“ Da musste Clara ein Paar Tränen trocknen.

Wie seltsam zuweilen der Zufall zu spielen vermag, dafür ist ein Beweis folgendes kleine Begebnis. Ich sollte in Köln das Konzert in E-moll von Chopin spielen und bestellte die Orchesterstimmen dazu bei einer Musikalienhandlung in Leipzig; da man aber bei den damaligen Postverbindungen nicht mit Sicherheit auf rasche Zusendung rechnen konnte, so schrieb ich vorsichtshalber auch nach dem nahen Düsseldorf an Frau Schumann und bat sie, mir die Stimmen zu leihen, falls sie dieselben besitze. Wenige Tage darauf hält der gelbe Wagen vor meiner Wohnung, und gleich darauf liegen zwei Pakete auf meinem Flügel. Frau Schumann schreibt, sie könne mir leider nur die Stimmen für die Blasinstrumente schicken, da ihr die Quartettstimmen vor vielen Jahren in Leipzig abhanden gekommen seien. Der Leipziger Musikalienhändler schreibt: „Die Rechnung für die Stimmen stellt sich ungewöhnlich billig, da ich die Quartettstimmen antiquarisch erwerben konnte.“ Und siehe da, als ich das Leipziger Paket geöffnet habe und die vergilbten Blätter ansehe, entdecke ich in der Ecke den mit Bleistift geschriebenen Namen Clara Wieck. So fanden sich die seit langen Jahren getrennten Orchesterstimmen jetzt in meinem Zimmer wieder zusammen. Frau Schumann, der ich selbstverständlich auch die Deserteure zusandte, war sehr erstaunt und belustigt über diesen seltsamen Zufall.

Die ergreifende Tragödie von Schumanns letzten Lebensjahren hatte am 29. Juli 1856 in der Irrenanstalt zu Endenich bei Bonn mit seinem Hinscheiden geendet. Jahre vergingen, ohne dass ich die schwergeprüfte Frau wiedersah. Ich mochte ihre stille Trauer durch mein Erscheinen nicht stören. Erst von dem Tage an, an dem ich Dirigent der Leipziger Gewandhaus-Konzerte geworden war, sah ich sie häufiger wieder, da sie fast alljährlich ein herzlich willkommener Gast dieser Konzerte war. Am 24. Oktober 1878 feierte sie das fünfzigjährige Jubiläum ihres ersten Auftretens im Gewandhause und bis zu diesem Tage hatte ich schon zwölfmal die Freude gehabt, am Dirigentenpulte gestanden zu haben, wenn sie Konzerte von Schumann, Mendelssohn, Mozart oder Chopin spielte. Das eben erwähnte Konzert wurde gar festlich und mit inniger Teilnahme des gesamten Publikums begangen und hat, wie folgender Brief aus Frankfurt beweist, großen Eindruck auf sie gemacht.

 

„Lieber und geehrter Herr Capellmeister!

 Ich möchte Ihnen hierdurch noch einmal meinen Dank für ihre Teilnahme an meinem Fest, die Sie mir im Verein mit dem Orchester in so schöner zwiefacher Weise, sowohl durch die Musik als das werthvolle Andenken erwiesen, aussprechen. Wollen Sie, bitte, den Herren Mitgliedern des Orchesters meinen innigsten Dank vermitteln. Sie vermögen wohl zu beurtheilen, wie werthvoll eine solche Auszeichnung von meinen Kunstgenossen für mich sein mußte. Freundlich grüßend bin ich hochachtungsvoll

 Ihre ergebene Clara Schumann.“

 

 Wie sehr sprechen wohl einen Jeden diese liebenswürdigen Worte an, in denen sie, die echte, vornehme Künstlerin, ihre Kollegialität mit den Orchestermitgliedern betont! Noch einmal begegnete ich ihr in Interlaken, wo sie in den letzten Lebensjahren so gern den Sommer zubrachte. Nun ist auch sie ihrem Gatten in die Ewigkeit gefolgt. Aber ihr Name wird nie in Vergessenheit geraten, wie dies das Los so vieler Virtuosen ist. Mögen auch manche sie später an Bravour und stupender Technik übertroffen haben, an selbstloser Hingabe an das Werk, das sie zu Gehör brachte, an dessen keuscher und doch warmer Wiedergabe kommen ihr sicherlich nur wenige gleich!

 

 

 

 

 

  1. Ernst hatte ein Streichquartett, das oben erwähnte Klavierquartett und ein Klavierstück von mir kennen gelernt, welche zufällig sämtlich in Es-Dur waren. Der Kapellmeistertitel war stark verfrüht, aber Ernst liebte es, mich damals schon mit diesem Prädikate anzureden, halb neckend, halb prophetisch.

  2. Der Brief war, statt mit Streusand, mit Schnupftabak bestreut, und da Ernst voraussetzte, dass ich sofort niesen müsse, so rief er mir auch sogleich „Zur Genesung“ zu.

  3. Im Besitze des Autors befindet sich eine niedliche, während einer Concert-Conferenz in Leipzig entworfene Skizze, die entschieden mehr bedeutet als eine gewöhnliche Dilettantenleistung.