Für den, welcher die Zeit erlebt hat, in welcher Felix Mendelssohns Ruhm im hellsten Glanze strahlte und nahezu ein unangetasteter war, ist es eine eigene Empfindung, heute – wenig mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tode – Zeuge davon zu sein, wie nicht allein mancher wohlbestallte Musiker, sondern sogar mancher angehende Jünger der Tonkunst achselzuckend über ihn lächelt, und wie gar viele Kritiker ihm nur noch widerstrebend einige Gerechtigkeit widerfahren lassen, während sie mit Behagen seine Schwächen bloßlegen. Ist Mendelssohn früher überschätzt worden? Nimmt man an, dies wäre der Fall – ich gestehe es übrigens nicht zu – so muss man doch wenigstens einräumen, dass er heutzutage von gar vielen in weit höherem Grade unterschätzt wird, als man ihn bei seinen Lebzeiten hier und da überschätzt haben mag. Er hat Bachs Matthäus-Passion aus mehr als hundertjährigem Schlummer erweckt, er hat der Welt eine Sommernachtstraum-Musik, einen Elias, ein Violinkonzert, das schon über ein halbes Jahrhundert neben dem Beethovenschen seinen Rang behauptet, manche zu Volksliedern gewordene Weisen, die „Hebriden“, das Oktett und gar manches andere Herrliche geschenkt. Ein solcher Meister dürfte wohl das Anrecht haben, stets wenigstens mit Achtung genannt und beurteilt zu werden, während leider zu konstatieren ist, dass dies häufig, sehr häufig nicht der Fall ist. Nomina sunt odiosa. - Mag auch in unserer raschlebigen Zeit manches der überaus zahlreichen Mendelssohnschen Werke dem heutigen Gefühlsleben schon entrückt sein, mag besonders der italienische Verismus und manch andere Richtung dafür gesorgt haben, dass ein großer Teil des heutigen Publikums nur noch durch gewaltsame Mittel und Anhäufung aller denkbaren Instrumentaleffekte gepackt und ergriffen werden kann, so ist doch des Trefflichen, welches jede gesunde Natur erquicken muss, bei Mendelssohn gar viel zu finden, und man wird gut tun, noch auf lange Jahre hinaus seine besten Werke treu zu pflegen. Jedenfalls sind sie insgesamt gesunden Inhalts und vollendet in der Form, so dass ihre Pflege niemals schädlich wirken kann. Ich glaube nicht, dass meine schwache Feder imstande sein wird, die augenblickliche Strömung in ein anderes Bett zu leiten und die zahlreichen Gegner dieses Mannes eines Besseren zu überzeugen, aber vielleicht vermag sie, die Gleichgültigen, welche im guten Glauben hinnehmen, dass Mendelssohn einfach ad acta gelegt werden könne, zu lebhafterer Beschäftigung mit seinen Werken anzuregen. Hans von Bülow, welcher bei geeigneter Gelegenheit so gern als Autorität herangezogen wird, sagte mir einst während einer längeren Unterredung: „Falls Sie mich einmal brauchen können, wenn es gilt, ein Konzert zur Errichtung eines Mendelssohn-Denkmals zu geben, so rufen Sie mich, dann komme ich gern. Wenn man älter wird, muss man wieder gutzumachen suchen, was man in der Jugend gesündigt hat, und an dem Manne habe ich viel wieder gutzumachen.“Vielleicht, dass der oder jener eine ebenso vornehme Natur hat wie Bülow, die ihm dann gestattet, sein bisheriges Verhalten und seine bisherige Meinung Mendelssohn gegenüber in ähnlicher Weise zu ändern.

Jacob Ludwig Felix Mendelssohn-Bartholdy, wie sein voller Name lautet, wurde am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren als der Sohn des Berliner Bankiers Abraham Mendelsssohn und als Enkel des großen Philosophen Moses Mendelssohn. Der Vater ließ seine Kinder der reformierten Kirche zuführen und schrieb seiner Tochter Fanny nach ihrer Einsegnung in einem längeren Briefe, der von seinem trefflichen Charakter wie von seinem ungewöhnlichen Geiste gleich beredtes Zeugnis ablegt, unter anderem folgendes: „Wir haben Euch, Dich und Deine Geschwister, im Christentum erzogen, weil es die Glaubensform der meisten gesitteten Menschen ist und nichts enthält, was Euch vom Guten ableitet, vielmehr manches, was Euch zur Liebe, zum Gehorsam, zur Duldung und zur Resignation hinweist, sei es auch nur das Beispiel des Urhebers, von so Wenigen erkannt und noch Wenigeren befolgt.“ Von seiner Bescheidenheit zeugt sein Ausspruch: „Früher war ich der Sohn meines Vaters, jetzt bin ich der Vater meines Sohnes.“ - Als Felix drei Jahre alt war, siedelten die Eltern wieder nach Berlin über, wo er sich während seiner Knaben- und Jünglingsjahre fast ununterbrochen aufgehalten hat. Seine um drei Jahre ältere Schwester Fanny zeigte schon in sehr jungen Jahren ein ungewöhnliches Talent für Musik, und dies veranlasste die Mutter (Lilla oder Lea, geb. Salomon), ihr selbst den ersten Unterricht zu erteilen, während der kleine Bruder stets mit auffallendem Interesse beiwohnte; infolgedessen begann die Mutter auch mit ihrem Felix den Unterricht, und nun entstand zwischen dem Geschwisterpaare ein lebhafter Wettstreit. Dieses Verhältnis erinnert lebhaft an das Miteinanderleben und -streben des kleinen Mozart und seiner allerdings vier Jahre älteren Schwester, „des Nannerl“. Nicht lange hielt die Mutter sich für befähigt, den Knaben zu fördern, und so wurde der Klavierunterricht dem damals hochgeschätzten Ludwig Berger, die Lehre im Theoretischen dem alten Zelter anvertraut, während der Königliche Kapellmusiker Hennings als Geigenlehrer herangezogen wurde. Der Vater des Dichters Paul Heyse, der nachmalige berühmte Philologe, war in dem Mendelssohnschen Hause Hauslehrer. Somit war nicht einseitig nur für eine gründliche musikalische, sondern auch für eine umfassende wissenschaftliche Bildung des Knaben gesorgt, ja sogar ein Lehrer im Zeichnen und Malen wurde den Kindern in der Person des „drolligen, kleinen Professors Rösel“ bestellt. So kam es, dass Mendelssohn sich später mit Lust und Geschick auch in dieser Kunst versucht hat.3 Außerdem war das elterliche Haus stets ein Sammelplatz von bedeutenden Männern, Künstlern und Gelehrten. Ich nenne nur Carl Maria von Weber, Spohr, Moscheles, Liszt, Paganini, Hiller, Peter Cornelius (den Maler), Horace Vernet, Kaulbach, Verboekhoven, Thorwaldsen, Rauch, de la Motte Fouqué, Brentano, Heine, A. u. W. von Humboldt, Ranke, Jacob Grimm und die Künstlerinnen Milder, Novello, Grisi, Pasta, Ungher-Sabatier, Schröder-Devrient, Rachel. Und so hat der glückliche Felix in einer selten günstigen Atmosphäre seine Jugend verlebt. - Mit neun Jahren spielte der Knabe zum ersten Male in einem öffentlichen Konzerte, und zwar ein Trio von dem nunmehr gänzlich verschollenen Wölfl . Ein Jahr später trat er als Altist in die Berliner Singakademie ein, woselbst unter Zelters Leitung fast ausschließlich ernste, ältere Kirchenmusik gepflegt wurde. Ein weiteres Bildungsmittel für das junge Talent waren die allsonntäglichen musikalischen Aufführungen im Elternhause, bei welchen sogar ein kleines Orchester tätig war. Dadurch wurde dem jugendlichen Komponisten Gelegenheit geboten, seine eigenen Orchesterkompositionen zu Gehör zu bringen und sich über die Wirkung derselben klar zu werden. Von seinen allerbesten Werken ist unseres Wissens nie etwas veröffentlicht worden, dagegen hat man eine im Jahre 1821 geschriebene Klaviersonate in G-moll nach seinem Tode als op. 105 (!) ediert, gewiss nicht im Sinne des Komponisten, welcher hinsichtlich der Veröffentlichung seiner Werke sehr wählerisch war und selbst seine A-Dur Symphonie ( die sogenannte italienische) der Welt ursprünglich vorenthalten hat. Immerhin kann man aus dieser Sonate die Frühreife des Zwölfjährigen erkennen, denn das ziemlich breit angelegte Werk ist mit sicherer Hand entworfen, durchweg klar, hübsch gearbeitet und wohlklingend; aus dem Klaviersatz aber kann man erkennen, mit welcher Gewandtheit er schon damals dies Instrument behandelt haben muss. Im Jahre 1820 führte sein Meister Zelter in nach Weimar zu Goethe . Felix musste sich vor dem Dichterfürsten in freien Phantasien ergehen, eine Bachsche Fuge, die Ouvertüre zu Figaro spielen und endlich, da Goethe ihm so recht auf den Zahn fühlen wollte, Autographen von Mozart und Beethoven dechiffrieren, die jener selbst herbeigeholt hatte. Goethe war über diese Leistungen im höchsten Grade erstaunt und gewann den aufgeweckten, genialen Knaben ungemein lieb. Zwei Jahre später finden wir Felix abermals als Gast in Goethes Hause, und dieser schrieb an Zelter: „Felix produzierte sein neuestes Quartett zum Erstaunen von jedermann.“ Es war dies das später als op. 3 erschienene, Goethe gewidmete Klavierquartett in H-moll, welches in der Tat als das Werk eines 14 – 15 jährigen Knaben zu bewundern ist, denn es zeugt nicht allein von einer merkwürdigen Formbeherrschung und Kenntnis der Instrumente, sondern auch der Gedankeninhalt ist keineswegs oberflächlich, sondern zum Teil leidenschaftlich erregt, zum Teil sanft schwärmerisch, und das Scherzo weist schon auf den späteren Meister hin, der so wunderbare, noch nicht da gewesene Klänge für die Zeichnung des Elfenvölkchens gefunden hat. Aus diesen Tagen stammt der Goethesche Vers, welchen der greise Dichter dem Knaben ins Stammbuch schrieb, nachdem Adele Schopenhauer ein geflügeltes Steckenpferd , auf dem ein kleiner geflügelter Genius reitet, dazu geliefert hatte:

Wenn über die ernste Partitur 

Quer Steckenpferdlein reiten -

Nur zu! Auf weiter Töne Flur

Wirst Manchem Lust bereiten,

Wie Du's gethan mit Lieb' und Glück,

Wir wünschen Dich allesammt zurück.

 

Was die letzten Zeilen sagen, sprach Goethe in noch weit herzlicherer Weise aus mit folgenden, an die Mutter gerichteten Worten: „Er ist ein himmlischer, kostbarer Knabe! Schicken Sie ihn mir recht bald wieder, dass ich mich an ihm erquicke.“

Zu jener Zeit trat Felix auch zwei großen Musikern näher, welche beide bedeutenderen Einfluss auf ihn gewannen. Als Carl Maria von Weber im Jahre 1821 nach Berlin gekommen war, um dort seinen Freischütz aufzuführen, ging er nach einer absolvierten Orchesterprobe mit seinem Schüler Benedict unter den Linden spazieren, da sprang plötzlich ein reizender zwölfjähriger Knabe mit glänzenden Augen und wallendem Lockenhaar auf ihn zu. Weber reichte ihm freundlich die Hand und sagte, zu Benedict gewandt: „Schau, das ist Felix Mendelssohn“. Man ersieht hieraus, dass der Knabe schon damals gewissermaßen eine musikalische Persönlichkeit war. Während seines Berliner Aufenthaltes war Weber stets ein hochwillkommener Gast im Mendelssohnschen Hause und hat unleugbar auf die künstlerische Entwicklung Mendelssohns nicht unbedeutenden Einfluss ausgeübt. Der andere Tonmeister, dem Felix näher trat, war Ignaz Moscheles  , welcher in Berlin als Klaviervirtuose und Komponist große Triumphe feierte und auf des Vaters Wunsch dem Sohne – wenn auch mit einigem Zögern und einer gewissen Beklommenheit – Klavierunterricht erteilte. Er mochte wohl empfinden, dass das Verhältnis des Lehrers zum Schüler sich bald in das von freundschaftlich miteinander verkehrenden Kollegen umwandeln würde; und so geschah es: zwischen beiden bildete sich bald ein auf gegenseitige Achtung und Zuneigung basiertes Freundschaftsverhältnis heraus, welches bis zu Mendelssohns frühem Tode immer ein gleiches geblieben ist. Inzwischen hatte Mendelssohn immer fleißig geschaffen, eine Menge von Werken: Klaviersonaten, Klavierquartette, eine Sonate für Klavier und Violine, Kantaten, Klavierstücke und Lieder waren entstanden, und im Jahre 1824 konnte schon die vierte Oper des fünfzehnjährigen Komponisten an seinem Geburtstage im Elternhause aufgeführt werden. Am 8. Februar schreibt Zelter darüber an Goethe wie folgt: „Gestern Abend ist Felixens vierte Oper vollständig mit Dialog unter uns aufgeführt worden. Es sind drei Akte, die nebst zwei Balletten etwa drittehalb Stunden füllen. Das Werk hat seinen hübschen Beifall gefunden. Von meiner schwachen Seite kann ich meiner Bewunderung kaum Herr werden, wie der Knabe, der soeben fünfzehn Jahre alt geworden ist, mit so großen Schritten fortgeht. Neues, Schönes, Eigenes, Ganzeigenes ist überall zu finden. Geist, Fluss, Ruhe, Wohlklang, Ganzheit, Dramatisches. Das Massenhafte, wie von erfahrenen Händen. Orchester interessant; nicht erdrückend, ermüdend, nicht bloß begleitend.“ Möchten wir auch heute bei Beurteilung dieses Werkes schwerlich alle jene Zelterschen Epitheta anwenden, so ist es doch eigentümlich, wie zutreffend sie den späteren Meisterwerken gegenüber sein würden. - Trotz aller bereits gegebenen eklatanten Talentproben hielt der Vater es dennoch für nötig, das Zeugnis einer unanfechtbaren musikalischen Autorität einzuholen, bevor er seine Einwilligung dazu gab, dass Felix die Laufbahn eines Musikers wandele. Hatte doch der Onkel Bartholdy   seinem Schwager geschrieben: „Ich bin nicht ganz einverstanden, dass Du Felix keine positive Bestimmung gibst. - - Ein Musicus von Profession will mir nicht in den Kopf. Das ist keine Carrière, kein Leben, kein Ziel. - - Lass den Buben ordentlich studieren“ u.s.w. Der Vater aber ließ sich nicht beirren , sondern reiste mit seinem Sohne nach Paris zu Cherubini , den er erkoren hatte, das entscheidende Wort zu sprechen. Cherubinis Urteil fiel, wie nicht anders zu erwarten war, glänzend zugunsten des jungen Tondichters aus, und Cherubini erbot sich sogar, seine fernere musikalische Erziehung zu übernehmen, ein Anerbieten, dass der Vater jedoch dankend ausschlug, wahrscheinlich, weil er die Pariser Atmosphäre für die Entwicklung eines so jungen, impulsiven Menschen, wie sein Felix war, nicht für zuträglich halten mochte. Vom Juli 1824 bis zum August 1825 arbeitete der Jüngling an seiner Oper „die Hochzeit des Camacho“, deren Stoff dem Don Quixote des Chervantes entnommen ist. Sie kam am 29. April 1827 im Schauspielhause zu Berlin zur Aufführung und fand anscheinend Beifall, ward aber dennoch nicht wiederholt. Da Mendelssohn später keine Oper mehr komponierte – abgesehen von dem niedlichen Liederspiele „Die Heimkehr aus der Fremde“, das er lediglich zur Feier der silbernen Hochzeit seiner Eltern geschrieben hatte - , so ist dies die einzige öffentliche Aufführung einer eigenen Oper geblieben, die Mendelssohn je erlebt hat; denn bekanntlich raffte ihn der Tod dahin, bevor er die „Loreley“ hatte vollenden können. Die „Hochzeit des Camacho“ enthält eine flotte, etwas französisch angehauchte Ouvertüre und manche anmutende Nummern, hat aber im Ganzen wohl ihr Schicksal verdient, ein Schicksal, das den jungen Opernkomponisten anfangs allerdings betrübte und niederdrückte, andererseits aber seine energische Natur nur zu fernerem Streben aufrüttelte. Hatte er doch überdies in der zwischen Entstehung und Aufführung der Oper liegenden Zeit schon zwei Werke wieder vollendet, welche jene weit in den Schatten stellten. Im Jahre 1825, als Sechzehnjähriger, hatte er sein Oktett für Streichinstrumente, im Jahre 1826 seine Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum geschrieben, und jeder Unparteiische wird eingestehen, dass beide Werke nicht bloß relativ als die eines kaum dem Knabenalter entwachsenen Jünglings, sondern positiv als künstlerische Taten von hoher Bedeutung anzuerkennen sind. Das Oktett ist von symphonischer Wucht und Breite, von bewundernswerter Klarheit in dem nicht selten komplizierten Stimmgewebe, eigentümlich und doch ungesucht sowohl in der melodischen Erfindung wie in der Harmonisierung. Die Schwester, die spätere Frau Fanny Hensel, verrät uns, dass die Worte aus Goethes Faust:

 

Wolkenflug und Nebelflor 

Erhellen sich von oben,

Luft im Laub und Wind im Rohr,

Und alles ist zerstoben.

 

ihn zur Komposition des Scherzos anregten. „Mir allein sagte er, was ihm vorgeschwebt“, schreibt sie. Und sollte es nicht oft weise sein, wenn der Komponist verschweigt, was ihm vorgeschwebt? Wird nicht mancher im Genuss eines Musikstückes gestört werden können, wenn er etwa den „Wind im Rohr“ nicht herauszuhören vermag und sich dadurch enttäuscht fühlt? In Bezug darauf gehen allerdings die Ansichten weit auseinander, und es ist hier wohl nicht der Ort, darüber zu diskutieren. - Über die Sommernachtstraum-Ouvertüre sind längst die Akten geschlossen, sie ist allgemein als ein ebenso originelles wie vollendetes Kunstwerk anerkannt, und so können wir getrost darauf verzichten, sie eingehend zu würdigen. Selbst Mendelssohns Gegner erkennen willig und freudig die hohe Bedeutung dieses originellen Tongebildes an, welches in der gesamten Musikliteratur als Unikum dasteht, aber sie betonen gerne, dass er sich später nie wieder zu gleicher Höhe aufgeschwungen habe. Obgleich nun, unserer Ansicht nach, manches andere Werk Mendelssohns an sich wohl auf gleicher Höhe steht – nur kann man Kirchenmusik wie etwa sein „Mitten wir im Leben“, ein Violinkonzert, ein Lied, und anderes gar nicht mit einer Ouvertüre vergleichen – so soll doch zugegeben werden, dass Bach größere Kirchenkompositionen, Beethoven gewaltigere Symphonien als Mendelssohn geschrieben hat, während allerdings die Sommernachtstraum-Ouvertüre in ihrer Art ohne Rivalin geblieben ist; aber kann man denjenigen, der schon mit 17 Jahren ein unsterbliches und unantastbares Meisterwerk schrieb, aus dem Grunde geringer achten, weil es ihm nicht vergönnt war, später noch ein Werk zu schreiben, das (wie jenes) in seiner Art ganz ohne Rivalen dasteht? -

Im Jahre 1829 unternahm Mendelssohn die erste Reise nach England. Was er bis dahin geschaffen hatte, war wohl genügend, um ihn in London als Komponisten glänzend einzuführen; denn außer den schon erwähnten Werken brachte er noch zwei Symphonien (in C-moll und D-Dur), eine Ouvertüre in C-Dur und – last not least – die Ouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“ mit, jenes hochpoetische Tonstück in Ouvertüren-Form von blühender Erfindung, welches die Goetheschen Verse so treffend musikalisch illustriert und seine Eindrucksfähigkeit bis heute bewahrt hat. Über die etwas realistische Art, wie der Komponist die glückliche Fahrt zum Ende führt, lässt sich vielleicht streiten; ich muss wenigstens bekennen, dass sie mir nicht vollkommen sympathisch ist. In einem Konzerte in Argyll Rooms, Ende Mai 1829, erschien Mendelssohn zum ersten Male vor dem Londoner Publikum als Komponist, Klaviervirtuose und Dirigent. Er dirigierte seine C-moll Symphonie, von der die beiden Mittelsätze zur Wiederholung verlangt wurden, und spielte das Konzertstück von Weber. So stark der Applaus auch war, so wurde er dennoch weit übertroffen durch den Beifall, welchen er in einem Konzerte am 24. Juni durch den Vortrag des Beethovenschen Es-Dur Konzertes, und die Vorführung seiner Ouvertüre zum Sommernachtstraum errang. Dieser Erfolg blieb ihm bei all seinem ferneren Auftreten treu, und nach allen diesen wohl erfreulichen aber auch anstrengenden Konzerten suchte er Erholung in einer Reise nach den schottischen Hochlanden. Diesen Reiseeindrücken verdanken wir die Entstehung der Ouvertüre „Die Hebriden“ oder „Die Fingalshöhle“ und der A-moll Symphonie, der sogenannten „schottischen“. Zwar wurden die genannten Werke erst nach Jahren niedergeschrieben, aber Mendelssohn hatte doch die Impulse dazu auf einer Reise empfangen, welche indes noch einen trüben Abschluss finden sollte. Kurz vor dem beabsichtigten Abschied von seinen Londoner Freunden traf ihn das Missgeschick, auf einer Spazierfahrt aus dem Wagen geschleudert und am Knie so schwer verwundet zu werden, dass seine Rückkehr ins elterliche Haus um Monate verschoben werden musste. Dann aber kam er auch mit dem schon erwähnten Liederspiele „Die Heimkehr aus der Fremde“ (zu welchem sein Freund Carl Klingemann ihm den Text geliefert hatte) heim und brachte es seinen Eltern zur Feier der silbernen Hochzeit als Huldigung eines treuen und dankbaren Sohnes dar. Eine Wiederholung des Werkes hat er später niemals gestattet, und zwar in durchaus richtiger Erkenntnis; denn die an sich liebenswürdige und reizende Musik ermangelt, wie auch der Text, des für die Bühne unentbehrlichen dramatischen Elements und ist viel zu intim gehalten, um in größeren Theatern auf die Massen wirken zu können. Das bewahrheitete sich auch, als man nach Mendelssohns Tode wiederholte Versuche machte, das Werk auf den Bühnen einzubürgern.

Zu Anfang des Jahres 1830 wurde Mendelssohn die Professur der Musik an der Berliner Universität angetragen, doch lehnte er den Ruf ab und empfahl an seiner Statt den ihm befreundeten A. B. Marx , der die Wahl annahm. Im Mai 1831 zog Mendelssohn nach Italien. Auf der Reise kehrte er wieder in Weimar ein, wo Goethe ihn vierzehn Tage zu fesseln verstand. Der Altmeister ließ ein Bildnis des geliebten jungen Freundes für sich anfertigen, beschenkte ihn mit einem Bogen seines Manuskriptes vom Faust und gab ihm schließlich drei Empfehlungen nach München mit. Hier machte er u. a. die Bekanntschaft der damals sechzehnjährigen Klavierspielerin Delphine von Schauroth, welcher er später sein Klavierkonzert in G-moll zueignete, jenes, von Jugendfeuer übersprudelnde, in den Ecksätzen glänzend, im langsamen Mittelsatze schwärmerisch gehaltene Werk, welches gerade durch seine Vorzüge dem Schicksal anheim gefallen ist, „abgedroschen“ zu werden, und nur einiger Ruhe bedürfte, um wieder vollkommen richtig gewürdigt zu werden. Dass übrigens das Konzertstück von Weber großen Einfluss auf die Gestaltung dieses Konzertes ausgeübt hat, ist nicht zu verkennen; doch ist jenes mehr al fresco   gearbeitet, dieses namentlich hinsichtlich der Behandlung des Orchesters viel feiner ausgeführt. Über Salzburg, Wien und Graz ging es nach Florenz, dann nach Rom, wo er lange verweilte; doch wollen wir ihn auf dieser Reise nicht ferner begleiten, weil des Künstlers weit verbreitete, ebenso geistreiche als liebenswürdige „Reisebriefe“ uns dessen überheben; nur das mag hier erwähnt werden, dass während dieser Zeit einige der bedeutendsten Werke Mendelssohns entstanden, teils ihren endgültigen Abschluss fanden, nämlich die Ouvertüre „Die Hebriden“, „Die erste Walpurgisnacht“, die Symphonie in A-moll, das viel zu wenig gekannte achtstimmige Chorstück „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“ und das liebliche, ebenfalls zu selten gehörte Ave Maria  für Tenor Solo, Chor und Orgel. Die drei erstgenannten Werke erfuhren später allerdings noch manche Überarbeitung. „Die Hebriden“ bilden mit der Sommernachtstraum-Ouvertüre und „Meerestille und glückliche Fahrt“ eine Trias, die allein dem Schöpfer derselben den Ruhmeskranz sichert. Die Rückreise erfolgte über Florenz, Genua, Mailand, Chamounix und durch die Schweiz, in der er aber zumeist unter argem Wetter zu leiden hatte. So kam er in Interlaken infolge anhaltenden Regens und fast unpassierbarer Wege – die Wasser flossen schwarz und schokoladenbraun – in einem derartigen Zustande an, dass er in dem Wirtshause, auf das er sich wie ein Kind gefreut hatte, sehr unfreundlich empfangen und abgewiesen wurde. So musste der arme, ermüdete Wanderer wieder nach Unterseen zurückkehren. Jetzt  findet man beim Aufgang zum Hardenberg, an den sich die eine Seite des Höhenweges lehnt, auf einem Bogen, welcher den Eingang zum Park überspannt, die ersten Takte von Mendelssohns Chor: „Wer hat dich, du schöner Wald“ schön korrekt in Ölfarbe gemalt, und auf der Höhe einen Pavillon, in dem auf einer Tafel die sieben Jahreszahlen von Mendelssohns Anwesenheit in Interlaken gewissenhaft verzeichnet sind! - Über Lindau ging die Reise nach München, wo Mendelssohn ein Konzert zum Besten der Armen veranstaltete, in welchem er zum ersten Male sein G-moll Konzert spielte. Dann fuhr er über Stuttgart, Heidelberg, Frankfurt und den Rhein entlang nach Paris. Hier trug er in einem Conservatoire-Konzerte das Beethovensche G-Dur Konzert vor und dirigierte die Sommernachtstraum-Ouvertüre. Zwei Todesnachrichten brachten ihn hier in die trübste Stimmung, die von seinem geliebten Jugendfreunde Eduard Rietz, für den er sein Oktett geschrieben hatte, und die seines so hochverehrten Goethe. „Goethes Verlust ist eine Nachricht, die einen wieder so arm macht“, schreibt er. In London, wohin er sich nun begab, warteten seiner ebenso reiche Ehren wie große Anstrengungen. Hier war es, wo am 18. Mai 1832 „Die Hebriden“ zum ersten Male aufgeführt wurden. Auch hier ereilte ihn eine trübe Botschaft, die vom Hinscheiden seines alten Lehrers Zelter.

Den Winter 1832 bis 1833 verlebte Mendelssohn wieder in Berlin, wo durch den Tod Zelters die Stelle des Direktors der Singakademie erledigt war. Ohne sich direkt um diese Stellung zu bewerben, ließ Mendelssohn doch verlauten, dass er bereit sei, der Nachfolger Zelters zu werden, falls man ihm das Vertrauen dazu entgegen brächte. Aber man zog Rungenhagen  vor, einen jungen, leidlich tüchtigen Musiker, welche die Stelle interimistisch vertreten hatte, mit Mendelssohn aber in keiner Weise zu vergleichen war. Dieser verschmerzte die Kränkung zwar bald, doch war ihm jetzt eine Einladung, das in Düsseldorf stattfindende Niederrheinische Musikfest zu dirigieren, doppelt willkommen. Nachdem er zuvor noch einem Rufe zu Konzerten in London gefolgt war und dort u. a. seine A-Dur Symphonie zur ersten Aufführung gebracht hatte, traf er rechtzeitig zu den Musikfest-Proben ein. Mit der Aufführung des Händelschen „Israel in Ägypten“ feierte er einen wahrhaften Triumph, und dieser veranlasste den Düsseldorfer Magistrat, ihm die Stelle eines städtischen Musikdirektors daselbst anzutragen. So sehen wir ihn dann bis zum Jahre 1835 in diesem Amte eifrig wirken und schaffen. Auf kurze Zeit hatte er auch im Verein mit Immermann       die Leitung des Düsseldorfer Theaters übernommen, doch litt es ihm nicht lange in dieser Stellung. Zerwürfnisse mit Immermann, eine boshafte, ja rohe Opposition verleideten ihm diese Wirksamkeit; dennoch hatte er in der kurzen Zeit schon sehr viel zur Hebung der Oper getan, und vor kurzem wurden dem Düsseldorfer Theatergebäude die Medaillons von Mendelssohn und Immermann eingefügt zum Andenken an ihre damalige segensreiche Tätigkeit. Das Hauptergebnis seines Düsseldorfer Aufenthaltes war aber jedenfalls die Komposition eines bedeutenden Teiles vom „Paulus“. Im Jahre 1835 siedelte Mendelssohn nach Leipzig über, um die ihm angetragene Stellung als Kapellmeister der schon damals berühmten Gewandhaus-Konzerte zu übernehmen. Am 4. Oktober 1835 dirigierte er zum ersten Male, und von diesem Tage an datiert die eigentliche Glanzperiode dieses weltberühmten Konzertinstitutes. Über Mendelssohn den Dirigenten jedoch später! Mendelssohn fühlte sich in Leipzig besonders wohl und glücklich. Er schreibt selbst: „So habe ich hier diesen ganzen Winter hindurch noch keinen verdrießlichen Tag, fast kein ärgerliches Wort von meiner Stellung und viele Freuden und Genüsse gehabt. Das ganze Orchester, welches sehr tüchtige Männer enthält, sucht mir jeden Wunsch an den Augen abzulesen, hat die merklichsten Fortschritte in Feinheit und Vortrag gemacht und ist mir so zugetan, dass mich's oft rührt.“ Selbstverständlich fällt in diese Leipziger Zeit die Entstehung fast aller nun folgenden Schöpfungen Mendelssohns. Zunächst vollendete er hier sein Oratorium „Paulus“. Die erste Aufführung desselben fand auf dem Düsseldorfer Musikfeste am 22. Mai 1836 statt, und von da an trat es seinen Siegeslauf an durch alle Länder, in denen man dem Oratorium eine Stätte bereitet hatte. In neuerer Zeit hat man dem Werke wiederholt den Vorwurf von „weichlicher Erfindung“ gemacht. Das konnte aber sicherlich nur in einseitigem Hinblick auf einzelne Nummern geschehen; denn die Musik ermangelt nie der Kraft und Energie, sobald die Worte es gestatten; man denke an die fanatischen Chöre: „Dieser Mensch hört nicht auf Lästerworte zu reden“, „Weg, weg mit dem“, „Steiniget ihn“, an die anderen: „Mache Dich auf, werde Licht“, „O welch eine Tiefe“, an die Soli: „Wir haben ihn gehört Lästerworte reden“, „Vertilge sie Herr Zebaoth“ u. s. w. Diesen Nummern gegenüber sind die schwächeren (wie etwa: „So sind wir nun Botschafter“, „Lasst uns singen von der Gnade des Herrn“ etc.) nur wenige, und wo wäre das Händelsche Oratorium, überhaupt dasjenige ebenso umfangreiche Werk, in dem nicht neben dem vollkommen Gelungenen auch Schwächeres zu finden wäre? Jedenfalls hat Mendelssohn als kaum den Jünglingsjahren entwachsener Mann es vermocht, ein Oratorium zu schaffen, welches, ohne direkte Anlehnung an die alten Meister und mit Verwertung neu errungener Mittel, dennoch Würde und Ernst mit moderner Anschauung vereint. Und Tatsache ist es, dass seither kein einziges geistliches Oratorium wieder geschrieben wurde, welches sich in ähnlicher Weise wie „Paulus“ und „Elias“ neben den Händelschen behauptet hätte. Wurde doch der Elias noch im Jahre 1895 allein in Deutschland dreizehnmal aufgeführt! Wie wohltuend berührt es, gegenüber den erwähnten, oft in verletzender Form ausgesprochenen Urteilen, wenn Robert Schumann schreibt: „Es ist der Paulus ein Werk der reinsten Art, eines des Friedens und der Liebe.“ Ferner: „Man sieht, Einwendungen, und auch begründete, lassen sich machen, und der Fleiß der Kritik soll auch in Ehren gehalten werden. Dagegen vergleiche man aber, was dem Oratorium niemand nehmen wird – außer dem innern Kern die tiefreligiöse Gesinnung, die sich überall ausspricht, betrachte man all das musikalisch-meisterlich Getroffene, diesen höchst edlen Gesang durchgängig, diese Vermählung des Wortes mit dem Ton, der Sprache mit der Musik, dass wir alles wie in leibhaftiger Tiefe erblicken, die reizende Gruppierung der Personen, die Anmut, die über das Ganze wie hingehaucht ist, diese Frische, dieses unauslöschliche Kolorit in der Instrumentation, des vollkommen ausgebildeten Stiles, des meisterlichen Spielens mit allen Formen der Satzkunst nicht zu gedenken – man sollte damit zufrieden sein, meine ich.“

Der Lebensgang unseres Meisters ist von nun an ein ruhigerer; ruhiger allerdings nur insofern, als er vom Jahre 1835 – 1847 vorzugsweise in Leipzig als Dirigent der Gewandhaus-Konzerte und später als künstlerischer Leiter des von ihm im Jahre 1843 begründeten Konservatoriums verblieb. Im Schaffen war er bis an sein Ende rastlos. Am 19. November 1835 hatte er den großen Schmerz, seinen über alles geliebten Vater zu verlieren; am 28. März 1837 schloss er den Ehebund mit Cäcilie Jeanrenaud aus Frankfurt a. M. , der mit Anmut, Schönheit und allen weiblichen Tugenden geschmückten Tochter des dortigen reformierten Predigers. Er wurde fortan unendlich oft zur Leitung von Musikfesten in Deutschland, in der Schweiz und England berufen. Doch wir wollen ihn nicht auf allen diesen Triumphzügen begleiten, da es die Leser ermüden würde, immer wieder von den gleichen unvergleichlichen Erfolgen zu erfahren. Der kunstsinnige König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen war inzwischen auch auf Mendelssohn aufmerksam geworden, und im Jahre 1841 musste dieser sich entschließen, dem wiederholten, in verbindlichster Weise an ihn ergangenen Rufe nach der Residenz zu folgen. Aber er nahm einstweilen nur auf ein Jahr Urlaub von Leipzig, nachdem er zuvor noch vom König von Sachsen, der ihn ebenfalls gern in Dresden gesehen hätte, zum Königl. Sächsischen Kapellmeister ernannt worden war. In Berlin bezog er ein Gehalt von 3000 Talern, ein Kapellmeistergehalt, welches man damals für ein enormes hielt. Friedrich Wilhelm IV. stellte Mendelssohn im Laufe der Zeit die Aufgaben, Musik zu folgenden Dramen zu schreiben, zu Sophokles' „Antigone“, dessen „Ödipus auf Colonos“, zu Racins „Athalia“ und endlich zu Shakespeares „Sommernachtstraum“, zu welch letzterem die geniale Ouvertüre allerdings schon seit Jahren existierte. Sind auch in den drei erstgenannten Werken herrliche Zeugnisse von Mendelssohns stets bereiter Erfindungskraft, feinster Empfindung für den adäquaten Stil und nie versagender Meisterschaft über alles Technische vorhanden, so stehen sie doch weit zurück gegen die Sommernachtstraum-Musik, welche – ähnlich wie Webers Musik zu Preciosa – dem Werke des Dichters erst zur Popularität verholfen hat. Die Elfenchöre, das Scherzo in G-moll und der kleine Elfenmarsch stehen in ihrer Art ebenso einzig da wie die Ouvertüre. Der Hochzeitsmarsch ist eine von den glücklichen, aber seltenen Inspirationen, die, ohne vulgär zu sein, dennoch zu solcher Popularität gelangen, dass sie ihre Wanderschaft um den ganzen Erdkreis antreten müssen. In den Melodramen aber entwickelt Mendelssohn einen Humor wie kaum je zuvor. Am 14. Oktober 1843 fand im neuen Palais zu Potsdam die erste Aufführung statt. Inzwischen hatte ihn der König laut eigenhändigen Schreibens vom 22. November 1842, aus Charlottenburg datiert, zum Generalmusikdirektor ernannt und ihm zugleich „die Oberaufsicht und Leitung der kirchlichen und geistlichen Musik“ übertragen. Ins Jahr 1843 fällt die Gründung und Eröffnung der ureigensten Schöpfung Mendelssohns, des Leipziger Konservatoriums. Wenngleich er niemals die offizielle Stellung als Direktor der Anstalt annahm und sich einfach als Lehrer an derselben betrachtet wissen wollte, so war er doch selbstverständlich die eigentliche Seele des Ganzen, ernannte die Lehrkräfte und übte Einfluss auf den Lehrgang etc., nur die Administration überließ er anderen. Wie rasch das Institut aufblühte, und welch stetigen Aufschwung es bis auf den heutigen Tag genommen hat, ist bekannt. Hat er mit der Schöpfung dieser Anstalt sich selber ein Denkmal gesetzt, so setzte er in demselben Jahre durch eigene Kraft und aus eigenen Mitteln auch ein Denkmal für Johann Sebastian Bach  . Nachdem er am 23. April desselben Jahres vormittags 11 Uhr ein Konzert, bestehend aus lauter Kompositionen des von ihm so hochverehrten Meisters, veranstaltet hatte, fand die feierliche Enthüllung des vom Professor Bendemann entworfenen und vom Bildhauer Knaur    ausgeführten Denkmals statt. Dieser Feier wohnte auch ein Enkel Bachs, ein Greis von 84 Jahren nebst Frau und zwei Töchtern bei. Ermangelt das Denkmal auch der Großartigkeit, so ist es doch als Geschenk eines Einzelnen an die Stadt Leipzig artig genug. Obwohl Mendelssohn sich in Berlin niemals recht heimisch fühlte und sich immer wieder nach seinem geliebten Leipzig zurücksehnte, so konnte er doch endlich den Wünschen des preußischen Königs nicht länger widerstehen und siedelte somit 1843 definitiv nach Berlin über, „mit Weib und Kindern, und Stühlen und Tischen und Flügel und jeglichem anderen Ding“, wie er selbst schreibt. Doch schon im August 1845 nahm er seinen festen Wohnsitz wieder in Leipzig, nachdem er an den König das Gesuch gerichtet hatte, sein Gehalt bis auf 1000 Taler herabzumindern und ihn dagegen von bestimmten Leistungen und von der Verpflichtung, in Berlin zu wohnen, zu entbinden. Der König ging darauf ein, und Mendelssohn stellte sich nun insoweit wieder der Gewandhaus-Direktion zur Verfügung, als er sich bereit erklärte, die Konzerte zunächst mit Gade abwechselnd zu dirigieren. In diesem Jahre, am 13. März, hatte Ferdinand David   das Violinkonzert seines Freundes aus der Taufe gehoben. Wir fühlen uns der Pflicht, es zu preisen, gänzlich überhoben, können uns aber nicht versagen, ein darauf bezügliches Scherzwort Robert Schumanns anzuführen, welcher mit seinem freundlichen Lächeln zu dem trefflichen Interpreten sagte, als er geendet: „Siehst du, lieber David, das ist ja das Violinkonzert, welches Du immer komponieren wolltest!“ Ein anderes prophetisches Wort von Schumann sei hier gleich angereiht. Seinen ersten Bericht über den Paulus schloss er nämlich mit den folgenden Worten: „Wie Beethoven einen Christus am Ölberg geschrieben und auch eine Missa solemnis   , so glauben wir, dass, wie der Jüngling Mendelssohn ein Oratorium schrieb, der Mann auch eines vollenden wird.“ Und dieses Oratorium des Mannes war der „Elias“. Das Verhältnis des Elias zum Paulus scheint uns durch Schumanns Worte vortrefflich charakterisiert, und deshalb wäre es müßig, an diesem Orte die beiden überaus populären Oratorien ihrem Werte nach miteinander zu vergleichen. Mag dem einen der Elias reifer erscheinen, so dem anderen vielleicht der Paulus jugendlicher und spontaner. Seien wir zufrieden, dass wir uns an beiden erbauen können! Der Schöpfer beider Oratorien hat gehofft, ihnen noch ein drittes beigesellen zu können, doch ist der „Christus“, den er plante, ebenso wie die Oper „Loreley“, unvollendet geblieben. Im Jahre 1846 ging Mendelssohn nach Lüttich, um dort sein für die 600-jährige Feier der Einführung des Fronleichnamsfestes komponiertes „Lauda Sion“ aufzuführen, und von dort eilte er zu dem deutsch-flämischen Sängerfeste nach Köln, für welches er den später so berühmt gewordenen „Festgesang an die Künstler“ nach Schillers Worten „der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben“ komponiert hatte. Nach kurzem Aufenthalte in Leipzig reiste er wieder nach England, um die erste Aufführung seines „Elias“ auf dem großartigen Musikfeste in Birmingham zu leiten. Alle diese Anstrengungen und Aufregungen mögen seine Gesundheit schon damals schwer erschüttert haben; denn von da an fühlte er sich oft ermattet und angegriffen, wie er das zuvor nie gekannt hatte. Er beteiligte sich zwar noch im Winter 1846 an der Direktion der Gewandhaus-Konzerte, leitete am Osterfeiertage 1847 seinen „Paulus“ in der Pauliner Kirche zu Leipzig und drei Aufführungen seines Elias in Exeter Hall in London, aber dann nahte sich ihm leise, leise der Tod, nachdem er vorher noch den Schmerz hatte erleben müssen, auch seine geliebte Schwester Fanny von dieser Erde scheiden zu sehen. Seine Gattin mochte ahnen, dass er seiner Schwester bald nachfolgen werde, und bat ihn wiederholt, sich zu schonen, wenn er allzu rastlos schrieb. „Ich muss die Frist benutzen, die mir noch gegeben ist; ich weiß nicht, wie lange sie noch dauert“, und: „Lass mich nur jetzt noch arbeiten, es wird schon auch für mich die Zeit der Ruhe kommen“, das waren seine Todesahnungen kündenden Antworten. Dem ersten Konzerte der Saison 1847 – 1848 , am 3. Oktober, wohnte Mendelssohn verborgen und ungesehen in dem kleinen, dunkeln Raume neben der Direktionsloge, welcher den Scherznamen des „Hühnerstalls“ trug, noch bei, um sein Violinkonzert von dem jugendlichen Joachim  spielen zu hören. Das soll seine letzte Anwesenheit in diesem jetzt auch der alles nivellierenden Zeit zum Opfer gefallenen Saale gewesen sein. Bald wurde er wiederholt von ohnmachtähnlichem Schwindel befallen; am 3. November erneuerte sich ein solcher Anfall, und von da an kam er nur noch auf Augenblicke zum Bewusstsein. Am 4. November las man an den Strassenecken Leipzigs den nachstehenden Anschlag:

 

Zur Nachricht!

Die unterzeichnete Direction findet sich dringend veranlasst, das heutige fünfte Abonnements-Concert auszusetzen. Sie benachrichtigt hiervon die geehrten Abonnenten und Mitwirkenden, und ersucht, die etwa entnommenen Extra-Billets, gegen Empfangnahme der Zahlung, in der Musikalienhandlung von Fr. Kistner zurückzugeben.

Die Concert-Direction.

 

   Jedermann verstand diese Unheil verkündende Absage, es bildeten sich Gruppen von ängstlich beklommenen Männern vor dem Hause des geliebten und verehrten Künstlers, und am selbigen Abend noch erfuhr man, dass er 9 Uhr 24 Minuten sanft entschlafen sei. Ein großer Künstler, ein guter Mensch war dahingegangen. Am Sonntag den 7. November fand eine große Feierlichkeit für den Entschlafenen in der Paulinerkirche statt, abends ward der Sarg von den Studierenden des Konservatoriums auf den Magdeburger Bahnhof getragen, von wo er nach Berlin überführt wurde, um daselbst in der Familiengruft auf dem alten Dreifaltigkeits-Kirchhofe beigesetzt zu werden. Am 11. November fand eine erhebende Gedenkfeier für den Verstorbenen im Gewandhause statt, der erste Teil enthielt nur Werke des Meisters: „Verleih' uns Frieden“, Gebet von Luther, Ouvertüre zum Märchen von der schönen Melusine, Nachtlied „Vergangen ist der lichte Tag“ von Eichendorff, Motette für Soli und Chor „Herr, nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren“, Ouvertüre zu Paulus; den zweiten Teil bildete Beethovens Sinfonia eroica.

 

Mendelssohn war von kaum mittelgroßer Statur, schlank gebaut und elastisch in allen seinen Bewegungen. Seine edlen Gesichtszüge, umrahmt von wallendem Lockenhaar, verrieten seine orientalische Abkunft, die hohe Stirn, die geistreichen Augen, der feine Mund den Denker. Unter allen seinen Bildnissen ist dem Stich nach Magnus und dem Medaillon von Kietz der Vorzug zu geben.

Der Komponist Mendelssohn hat sich, wie jeder weiß, auf allen Gebieten der Tonkunst bewegt; als Opernkomponist zwar existiert er für die Gegenwart nicht mehr, denn seine Jugendopern sind verschollen, und die „Loreley“ blieb ein Torso. Das eine Finale aber, welches er vollendet hinterlassen hat, lässt uns tief bedauern, dass es ihm nicht vergönnt war, das so schön begonnene Werk zu vollenden, uns nicht, es in seiner Ganzheit zu besitzen. Als Oratorien- und Kirchenkomponisten haben wir ihn schon im Verlaufe dieser Lebensskizze gewürdigt. Als Liederkomponist hat er zwar einen Franz Schubert nicht erreicht, aber dennoch verdanken wir ihm viel Herrliches. Das Chorlied für gemischte Stimmen hat er, so zu sagen, erst erfunden; denn was vor ihm in dieser Gattung geschaffen war, kommt seinen  Liedern gegenüber gar nicht in Betracht. Viele seiner Lieder „im Freien zu singen“ haben eine immense Verbreitung gefunden, und noch heute, wenn sich sangeskundige Leute zusammenfinden, stimmen sie mit Vorliebe die Mendelssohnschen, in ihrer Art unübertroffenen Lieder an. Auch den Liedern für Männerchor gab er ein edleres, vornehmeres Gepräge, als die früheren, mit wenigen Ausnahmen, trugen. Mehrere, wie z. B. „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“, „An die Deutschen in Lyon“, und vor allem „Wer hat dich, du schöner Wald“ sind derart in die breitesten Schichten des Volkes gedrungen, dass man sie – meistens den letztgenannten „Abschied vom Walde“ - geradezu als Volkslied bezeichnen kann. Es ist sehr zu bedauern und kein gutes Zeichen der Zeit, dass die Mendelssohnschen Männerchöre in der Gegenwart von den Männergesangsvereinen so wenig gesungen werden. Auch das zweistimmige Lied mit Pionoforte-Begleitung hat er mit einem Schlage hoch emporgehoben. Sein erstes Heft dieser Gattung hatte sofort einen kaum dagewesenen Erfolg und machte den glücklichen Verleger fast zu einem reichen Manne. Wer kennt nicht den „Gruß“ oder „Ich wollt', meine Lieb' ergösse sich all' in ein einzig Wort“? Und auch unter den einstimmigen Liedern finden sich, trotz Franz Schubert und Robert Schumann, wahre Perlen der Lyrik. Die am meisten verbreiteten sind wohl „Auf Flügeln des Gesanges“ und das zum Volkslied gewordene „Es ist bestimmt in Gottes Rat“. Man hat Mendelssohn wiederholt den Vorwurf gemacht, dass er in seinen Liedern nicht immer minutiös richtig deklamiert habe, und jeder Unparteiische muss die Berechtigung dieses Vorwurfes zugestehen. Aber Mendelssohn entschädigt dafür reichlich durch eine ebenso schöne, wie auch der Stimmung entsprechende Melodie. Auch Beethoven hätte wohl deklamieren sollen „Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgarten“ anstatt „Einsam wandelt“! Und wer würde es wagen ihm im Ernste einen Vorwurf daraus zu machen, dass er schrieb: „Küsse gab sie uns und Reben, einen Freund, geprüft im Tod?“ Wer wird Johann Sebastian Bach schmähen, weil er in den Einsetzungsworten des Abendmahls die Silben folgendermaßen betont: „welches vergossen wird für Viele, zur Vergebung der Sünden?“ Das alles ist nicht richtig deklamiert und doch herrlich und schön!

Als Symphoniker  muss Mendelssohn zwar vor einem Beethoven die Segel streichen, aber dem Heros nachzustehen ist keine Schande, ihm nicht fern zu stehen schon eine hohe Ehre. Und, dass Mendelssohns A-moll Symphonie jetzt über ein halbes Jahrhundert neben den Werken der größten Meister besteht, muss anerkannt werden, selbst wenn man zugibt, dass zum Teil ein allzu lyrischer Hauch durch die genannte Symphonie weht. Über die Ouvertüren sich zu verbreiten, hieße Notenblätter nach Leipzig tragen! Selbst die zum öfteren von oben herab beurteilte Ouvertüre zu „Ruy Blas“ erscheint uns – ganz abgesehen davon, dass sie in unglaublich kurzer Zeit geschaffen wurde – als eine äußerst frische, glänzende und charakteristische Ouvertüre, wie wir solche nicht viele besitzen; mit Rücksicht auf die Umstände, unter denen sie geschrieben wurde, ist sie geradezu bewundernswert. Wir können uns nicht versagen, den Brief, welchen er über die Entstehung derselben am 18. März 1839 an seine Mutter schrieb, hier auszugsweise mitzuteilen: „Du willst wissen, wie es mit der Ouvertüre zum Ruy Blas zugegangen ist? Lustig genug. Vor 6 – 8 Wochen kam die Bitte an mich, für die Vorstellung des Theaterpensionsfonds eine Ouvertüre und die in dem Stück (eben Ruy Blas) vorkommende Romanze zu komponieren, weil man sich eine bessere Einnahme versprach, wenn mein Name auf dem Zettel stände. Ich las das Stück, das so ganz abscheulich und unter jeder Würde ist, wie man's gar nicht glauben kann, und sagte, zu einer Ouvertüre hätte ich keine Zeit und komponierte ihnen die Romanze. Montag (heute vor acht Tagen) sollte die Vorstellung sein; an dem vorhergehenden Dienstag kamen die Leute nun, bedanken sich höflich für die Romanze und sagen, es wäre so schlimm, dass ich keine Ouvertüre geschrieben hätte; aber sie sähen sehr wohl ein, dass man zu solch einem Werke Zeit brauche, und im nächsten Jahre, wenn sie dürften, wollten sie mir`s länger vorher sagen. Das wurmte mich; ich überlegte mir abends die Sache, fing meine Partitur an – Mittwoch war den ganzen Morgen Konzertprobe, - Donnerstag Konzert, aber dennoch war Freitag früh die Ouvertüre beim Abschreiber.“

Mendelssohn selbst hat   fünfzehn Werke für Kammermusik veröffentlicht; nach seinem Tode wurden noch manche publiziert, die er zweifellos nicht ohne Grund zurückgehalten hatte. Unter den erstgenannten ragen besonders hervor das wiederholt genannte Oktett, einige Streichquartette (insbesondere op. 44 Nr. 2 in E-moll), die beiden Klaviertrios und die beiden Sonaten für Klavier und Violoncello. Die vier letztgenannten Werke waren unbestritten die ersten der Art, welche, nachdem Beethoven und Schubert entschlafen waren, wieder etwas bedeuteten; denn alles, was inzwischen Hummel, Marschner, Onslow, Weber, Reissiger, Kuhlau, Moscheles, und selbst Spohr an Kammermusikwerken geschaffen hatten, wurde durch diese Mendelssohnschen tief in den Schatten gestellt. Andererseits soll freilich nicht geleugnet werden, dass das Klavier in den genannten Werken nicht immer mit der gleichen Mäßigung behandelt ist, wie dies seitens Beethovens stets geschehen ist, sondern öfters in so virtuoser Weise, dass der Stil der Kammermusik nicht immer vollständig gewahrt bleibt. - Es erübrigt noch, Mendelssohn als spezifischen Klavierkomponisten zu betrachten, und wenn dies geschieht, muss man zunächst unwillkürlich an seine „Lieder ohne Worte“ denken; schon der Name existierte früher nicht und ist Mendelssohns ureigenste Erfindung. Aber auch ihrem Wesen nach waren sie etwas Neues. Wohl finden sich vereinzelt unter den Werken der frühen Meister Sätze, welche der Form und der Klavierbehandlung nach als Lieder ohne Worte passieren mögen, doch kann man trotzdem dem jüngeren Meister die Originalität als Erfinder dieser Kunstgattung nicht absprechen. Namentlich die ersten fünf Hefte enthalten die reizendsten Blüten Mendelssohnscher Lyrik, so gleich das erste in E-Dur, die venezianischen Gondellieder, das allbekannte sogenannte Frühlingslied, das tiefernste Lied in E-moll, welches Mendelssohn bei seinem letzten Wege in die Gruft geleitete, das trotzige, herrliche Volkslied in A-moll und viele andere. Auch diese schönsten Lieder ohne Worte („Klar wie Sonnenlicht sehen sie einen an“, schrieb Schumann) werden gegenwärtig von den Klaviervirtuosen ziemlich vernachlässigt, und viele ziehen es vor, die verzwicktesten Sachen von Chopin hervorzusuchen, anstatt dem Publikum diese gesunde Kost darzubieten. Aber es wird schon wieder anders werden! Rubinstein war einer der letzten, welcher sie oft – und wie schön! - vortrug. Zu den schönsten Klavierwerken Mendelssohns rechnen wir noch die sechs Präludien und Fugen op. 35 und die Variations sérieuses . -

Mendelssohn besitzt so manche ihm durchaus eigentümliche harmonische wie melodische Züge und Wendungen, dass man mit Recht behaupten kann, er habe der Musik manche Bereicherung zugebracht, und diese Eigentümlichkeiten wirkten bei seinem Erscheinen so mächtig, dass ihm viele Nachahmer erstanden, welche die Äußerlichkeit seiner Schreibweise allerdings sehr täuschend nachzuahmen wussten, während ihre Werke inhaltlich weit hinter ihren Vorbildern zurückblieben. So fühlte sich denn Moritz Hauptmann einst zu dem trefflichen Witzwort veranlasst: „Ich habe soeben ein Trio gehört; das war so Mendelssohnisch, dass ich glaubte, es wäre von Bennett, es war aber doch von Horsley.“ Solche Nachahmer sind gefährlich; denn in ihren Werken wird zur Manier, was bei dem Original Eigenart war, und dann kann es geschehen, dass die Welt auch diese für Manier hält.

Als Dirigent war Mendelssohn hervorragend. Mit dem tiefsten Verständnis alles dessen, was er zu leiten hatte, verband er in seltenem Maße die Gabe, alle seine Instrumentationen den Ausführenden so klar zu machen und auf sie zu übertragen, dass nur ein Geist sie zu beseelen schien. Dabei war er von der größten Pietät gegen die Meister erfüllt, die er interpretierte und erlaubte sich ihnen gegenüber nicht die geringste Willkür. Nur wenn er in die Lage kam, Minderwertiges aufführen zu müssen, versuchte er dem schwachen Werke durch allerlei Vortragskünste aufzuhelfen; wo das aber nicht nötig war, da lag ihm ein solches Gebahren fern. Meisterlich verstand er es, in den Proben durch seinen Humor, durch ein Witzwort oder eine ironische Bemerkung die Ausführenden in gespannter Aufmerksamkeit zu erhalten und ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. 

Sein Klavierspiel war äußerst schlicht (expressivo ma semplice , wie Beethoven so häufig vorschreibt), von wunderbarer rhythmischer Klarheit, von tiefer Empfindung beseelt und von Begeisterung durchglüht. Seine außerordentliche Virtuosität trat daneben gänzlich in den Hintergrund; wie bedeutend sie aber war, namentlich was die eigentliche solide Fingertechnik anbelangt, wird jeder erkennen, der seine Klavierwerke einmal vorgenommen hat. Manche derselben, wie z. B. das Capriccio op. 6 in Fis-moll, welches er selber scherzweise l'absurdité taufte, gehören für den Klavierspieler zu den schwierigsten Aufgaben. Eine seltene Gabe besaß er auch als Improvisator. Sein Gedächtnis war geradezu phänomenal; so begleitete er einmal dem italienischen Flötisten Briccialdi auswendig ein größeres Solostück, welches er sechs Wochen früher ein einziges Mal  von ihm gehört hatte. Um ein ganz vollständiges Bild von seinen seltenen geistigen Fähigkeiten zu geben, müssen wir noch erwähnen, dass viele seiner Briefe kleine schriftstellerische Meisterstücke sind, und dass er mit siebzehn Jahren eine metrische Übersetzung der „Andria“ des Terenz verfasste, von der Goethe schrieb: „Dem trefflichen, tätigen Felix danke schönstens für das herrliche Exemplar ernster ästhetischer Studien; seine Arbeit soll den Weimarer Kunstfreunden in den nächst zu erwartenden langen Winterabenden eine belehrende Unterhaltung sein.“

Er hat in seinem Leben viel Gutes getan, aber er tat es heimlich, und es wäre nicht in seinem Sinne, wenn wir hier Beispiele dafür anführen wollten.

Nehmt alles nur in allem, er war ein ganzer Mann und auch ein ganzer Künstler!