16 Geburtsfest
»Sie haben Leon«, sagte Gaia. Es hätte sie nicht überraschen sollen, doch sie war trotzdem wie vor den Kopf gestoßen.
Sie schaute erst Peter an, dann ihre übrigen Freunde. Sie wirkten besorgt, leider auch zögerlich.
Gaias Entschluss jedoch stand bereits fest. »Wir holen ihn da raus.«
»Es ist ganz offensichtlich eine Falle«, gab Peter zu bedenken.
»Das ist mir egal.«
»Gaia«, erinnerte Will sie. »Du hast gerade selbst gesagt, dass es ein Fehler war, in die Enklave zu gehen. Du kannst doch jetzt nicht einfach wieder rein.«
»Wir gehen durch das Südtor, und zwar zu unseren Bedingungen. Ihr könnt mich gerne begleiten und so viele Leute mitnehmen, wie ihr wollt. Aber um Punkt sieben werden wir da sein.« Sie warf die Einladung vor sich auf den Tisch. »Der Protektor hat jetzt eine Geisel – wir lassen Leon nicht im Stich.«
»Du willst doch aber nicht so gehen, wie du gerade aussiehst, oder?«, fragte Myrna.
»Wieso denn nicht?«, fragte Gaia und schaute an sich herab. Sie trug noch immer Ritas rotes Kleid.
»Das ist eine förmliche Einladung. Da macht man sich schick.«
Nun musste Gaia lachen, zum ersten Mal seit Langem, wie ihr schien. »Ich will mich ja nicht mit den Gästen vergnügen.«
»Du willst sie aber auch nicht bedienen – und genau so wird es wirken, wenn du in dem Kleid hineingehst. Und du kommst auch nicht um sieben. Du kommst um halb acht oder später, wenn du wichtig bist.«
An solche Details hätte Gaia gar nicht gedacht. »Vielleicht solltest du mitkommen.«
Myrna hob eine Braue. »Ich bin aber nicht eingeladen.«
»Und wenn schon. Die Leute hören auf dich, also wird es vielleicht Zeit, deine Stimme zu erheben. Und für mich wäre es gut, dich dabeizuhaben.«
»Ich möchte aber auch noch da sein, wenn sich der Staub wieder legt«, sagte Myrna. »Also halte ich mich lieber raus, bis die Verletzten mich brauchen. Und ich versichere dir, das passiert noch früh genug.«
»Ich führe uns ja nicht in eine Schlacht«, sagte Gaia.
»Ach nein? Mach dir nichts vor. Und zieh dieses Kleid aus – du bist keine Dienerin.«
So betrat Gaia zum dritten Mal seit ihrer Rückkehr die Enklave, diesmal auf Einladung. Begleitet wurde sie von Peter und einem Dutzend Scouts. Die Wachen am Südtor traten respektvoll beiseite.
»Wir haben dich schon erwartet, Schwester Stone«, sagte einer von ihnen und tippte sich an den Hut.
Hinter ihm sprach Sergeant Burke in ein Gerät. Er ließ Gaia dabei nicht aus den Augen.
»Und es ist doch eine Falle«, murmelte Peter.
Gaia war gleichgültig, ob es eine Falle war. Sie hatte einfach herkommen müssen.
»Du siehst wirklich gut aus«, fügte er hinzu.
Sie lachte. Sie war Myrnas Rat gefolgt und hatte Ritas rotes Kleid gegen die Sachen getauscht, die sie als Matrarch in Sylum getragen hatte: braune Hosen und eine weiße Bluse. Josephine hatte darauf bestanden, ihr eine leichte Lederjacke zu leihen, die sich um ihren Rücken und ihre Arme schmiegte. Was Gaia jedoch am meisten schätzte, war der Dolch, den Norris ihr gegeben hatte und den sie im Stiefel trug. Ihr war klar, dass sie nicht besonders vornehm wirkte, doch seit sie sich gewaschen und sich die Haare gekämmt hatte, fühlte sie sich wenigstens wieder wie ein Mensch. Um den Hals trug sie ihre Kette und Leons Bändchen nach wie vor am Handgelenk.
»Danke«, sagte sie zu Peter.
»Und für mich gibt’s kein Kompliment?«
Sie brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er gut aussah. Das tat er einfach immer, als wäre es eine Art Naturgesetz.
»Nein. Und geh mir jetzt nicht auf die Nerven.«
Die restliche Eskorte lief ein paar Schritte hinter ihnen und behielt die Umgebung im Blick.
Peter aber ließ nicht locker. »Ich frage mich nur, ob du eigentlich gern jemand in der Hinterhand hättest.«
»Wie meinst du das?«
»Wenn deinem Verlobten je etwas zustieße, würdest du ihm ewig nachtrauern, oder würdest du zu einer deiner alten Flammen zurückkehren?«
»Denk nicht einmal daran – das ist ja widerlich.«
»Es ist eine ehrliche Frage.«
»Widerlich.«
»Auch eine Antwort.«
»Malachai!«, rief sie. »Komm mal her.« Der große Mann schloss auf, sodass er zwischen ihr und Peter lief.
»Ist ja schon gut«, sagte Peter mürrisch. »Ich habe verstanden. Tut mir leid.«
Du solltest allmählich drüber hinweg sein, dachte sie. Er brachte es noch fertig, dass sie gar nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, und das bei den Sorgen, die sie sich gerade um Leon machte. Sie musste ihn befreien und wusste nicht einmal, wo er war. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, dass er vielleicht schon wieder in Zelle V saß.
Peter reckte den Kopf an Malachai vorbei. »Ich sagte, es tut mir leid.«
»Gut so.«
Sie folgten der Hauptstraße den Hügel empor, bis sie den Bastionsplatz erreichten. Licht fiel durch die Fenster auf den Platz, und weißgekleidete Gäste trugen bunt verpackte Geschenke über die Terrasse. Sie hörte Gelächter und leise, beschwingte Musik.
An der Tür begrüßte sie Winston, der Pförtner, und führte sie hinein. Peter und Malachai gingen mit ihr, die restlichen Scouts folgten.
Die Eingangshalle war voller Gäste, und jenseits der geschwungenen Treppe, im Wintergarten, drängten sich noch mehr. Gaia entdeckte eine der schwangeren Frauen des Instituts. Wie die meisten Gäste war sie ganz in Weiß gekleidet, doch durch ihr schimmerndes Armband, das sie stolz wie einen Orden trug, war sie leicht zu unterscheiden. Am Fuß der Treppe spielten ein paar Kinder in vornehmer Kleidung mit einem Kätzchen. Zwei junge Frauen in Rot wiegten Babys auf ihren Armen, und schwarz gekleidete Kellner reichten Getränke.
Winston deutete auf eine hohe Tür, jenseits derer sich die Gefolgschaft sammelte. »Eure Wachen werden sich im Billardzimmer vielleicht wohler fühlen.«
Gaias Scouts kamen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Nichts in Sylum hatte sie auf diesen Reichtum und Luxus vorbereiten können. Wie betäubt standen sie in der hell erleuchteten Halle. Gaia erinnerte sich noch gut, dass es ihr einmal ähnlich ergangen war.
»Peter und Malachai, ihr kommt mit mir.« Dann senkte sie die Stimme, sodass nur Peter sie noch hörte. »Sie werden uns nicht einfach angreifen – nicht vor den Augen ihrer Freunde.«
»Ihr könnt gehen«, sagte Peter zu den Scouts, woraufhin sie sich zerstreuten.
»Gaia, da bist du ja!«, rief Genevieve. Mit breitem Lächeln trat sie auf sie zu, reichte ihr Glas an Winston und nahm Gaias Hände in ihre. »So viele Leute hier brennen schon darauf, dich kennenzulernen.«
»Wo ist Leon?«
»Irgendwo hier«, sagte sie unbekümmert. Ihr goldenes Haar war zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, und auch ihr weißes Kleid war mit schimmerndem Gold verziert. »Du hättest uns sagen sollen, dass ihr verlobt seid! Was für eine schöne Überraschung.«
»Hat Evelyn das erzählt?«
»Nein, Leon selbst. Wir wollten eigentlich warten, bis du da bist, damit ihr es gemeinsam verkünden könnt, aber ich fürchte, jemand hat sich verplappert, und die Neuigkeit verbreitet sich bereits. Du hast Freunde mitgebracht, wie ich sehe?« Sie schenkte Peter und Malachai ein Lächeln.
Gaia stellte sie vor. Genevieves herzlicher Empfang beeindruckte sie.
»Sehr erfreut«, lächelte Genevieve und hielt Peters Hand etwas länger gedrückt als unbedingt nötig. »Möchtet ihr vielleicht etwas Bowle oder Wein? Unser Koch hat eine herrliche Bowle mit Sorbet gemacht. Sie wird euch schmecken.«
»Ich möchte bloß zu Leon«, sagte Gaia.
»Er war eben noch hier. Lass mich dir ein paar Freunde vorstellen, während wir ihn suchen.« Genevieve zog Gaia in Richtung des Wintergartens. Peter und Malachai folgten ihr. »Die Goades und die Rhodeskis werden heute Abend Großeltern und sind ganz außer sich vor Freude. Sie sind reicher, als du dir vorstellen kannst, und haben bereits märchenhafte Summen in unsere zivilen Projekte investiert. Es wird dich freuen zu hören, dass sie vielleicht sogar eine Wasserleitung für New Sylum finanzieren. Da wären wir!«
An der Schwelle zum Garten blieb Gaia kurz stehen. Die Glastüren waren nach allen Seiten hin geöffnet und gewährten Einblick in die dahinter liegenden Räumlichkeiten. Auf der ihnen abgewandten Seite schien es in einen größeren Saal zu gehen, aus dem auch die Musik drang. Überall standen üppige Farne, und Palmen reckten ihre Wedel zur gläsernen Decke empor. Doch so schön dieser Innengarten auch war – verglichen mit den urwüchsigen Weiten des Waldes und des Sumpfes von Sylum wirkte er fast kläglich zahm.
Eine endlose Schar von Leuten bewegte sich in dem begrünten Hof, darunter Schwester Khol, Tom und Dora Maulhardt und viele andere, an die sich Gaia noch von früher erinnerte.
Leon war unter diesen Menschen aufgewachsen, wurde ihr bewusst, in diesem reichen Milieu. Zwar war er mit sechzehn verstoßen worden und hatte sich mit seiner Familie überworfen, doch das hier war, woher er kam. Elegante Festlichkeiten wie diese mussten ein bestimmender Teil seiner Kindheit gewesen sein, und doch redete er so gut wie nie darüber. Sie konnte sich ihn ausgezeichnet in dieser Menge vorstellen – doch er war nirgends zu sehen.
Ein Kellner reichte ihr ein eisgekühltes, bernsteinfarbenes Getränk. Sie nahm es dankend an, und Peter und Malachai folgten ihrem Beispiel. Der erste Schluck bestand fast nur aus kaltem Schaum. Es war der reine Luxus.
»Komm einmal mit«, sagte Genevieve und zog sie voran. »Ich möchte dir jemanden vorstellen.«
Gaia tauschte einen kurzen Blick mit Peter, der gerade von einem kleinen Mann in eine Unterhaltung verwickelt wurde. Auch Malachai, der sich in seiner Haut nicht wohlzufühlen schien, warf ihr einen fragenden Blick zu, doch sie bedeutete ihm, hier zu warten.
Genevieve führte sie zu einem älteren Herrn in einem weißem Jackett, der gerade mit beiden Händen Lutscher und Süßigkeiten an eine Kinderschar verteilte.
»Bruder Rhodeski wird heute Großvater. Ist das nicht herrlich?«
Der Angesprochene richtete sich auf und hielt Gaia die Hand hin. Sein Blick ging kurz zu ihrer Narbe, dann lächelte er, und in seinen tief liegenden Augen glaubte Gaia gleichermaßen Glück wie Traurigkeit zu sehen. »Ich kann gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, dich endlich kennenzulernen, Schwester Stone«, sagte er mit einer tiefen, angenehmen Stimme.
»Bruder Rhodeski ist die Seele des Instituts«, erklärte Genevieve. »Heute ist ein großer Tag für seine Familie. Meinen Glückwunsch, Bruder.«
Gaia konnte kaum glauben, dass dieser Mann, der so ruhig und mitfühlend auf sie wirkte, hinter einer derart herzlosen Organisation stand. Doch sie wusste, wie sehr der Schein trügen konnte. Sie fragte sich, ob er ahnte, dass Sasha geflohen war und sich in den Tunneln versteckt hielt.
»Bitte gebt uns doch ein paar Minuten«, sagte er, ohne dabei den Blick von Gaia zu wenden.
»Natürlich! Nehmt euch Zeit, so viel ihr braucht«, sagte Genevieve. »Wo ist Euer Sohn?«
»Matt und Vicki sind im Ballsaal.«
Abermals suchte Gaia die Gesichter nach Leon ab und fragte sich, wo er steckte. Peter und Malachai waren immer noch bei der Tür und wurden von einem Kellner mit Bowle versorgt.
»Bitte gebt Leon Bescheid, dass ich da bin«, sagte Gaia.
»Natürlich.« Genevieve ging in Richtung der Musik davon.
»Ich nehme nicht an, dass du einen Lutscher möchtest?«, fragte Rhodeski.
»Wie könnt Ihr nur das Trägerinstitut unterstützen?« Gaia sprach leise, aber eindringlich. »Seid Ihr Euch darüber im Klaren, wie es den Mädchen dabei geht? Habt Ihr auch nur eine Ahnung, was mit Sasha passiert ist?«
»Das alles ist etwas unangenehm.« Die Traurigkeit in seinem Blick vertiefte sich. »Ich hatte gehofft, ich hätte genug Zeit, dir alles zu erklären, damit du die Hintergründe besser verstehst. Aber da heute das Kind zur Welt kam, müssen wir die Gunst der Stunde nutzen und den Leuten eine angemessene Feier bereiten.«
»Sashas Schicksal gibt also Grund zum Feiern?«
»Ich bitte dich.«
Er nahm sie am Arm und führte sie zu einem Brunnen. Der steinerne Weg wurde von Windlichtern gesäumt, und in einem aufgeschütteten Beet wuchsen tiefblaue Lilien. Sie achtete darauf, dass sie Peter und Malachai nicht aus dem Blick verlor.
»Du dürftest etwa so alt wie meine Tochter Nicole sein, als sie starb«, sagte er. »Sie war Bluterin. Bist du siebzehn?«
»Ja. Mein Beileid für Euren Verlust.«
»Sie war ein Geschenk, jede Minute ihres Lebens.« Er legte den Kopf schief. »Das ist jetzt zehn Monate her. Ich frage mich oft, was sie wohl von all dem hielte, das seitdem passiert ist.«
Auch wenn ihr klar war, dass er sie auf seine Seite zu ziehen versuchte, empfand Gaia Mitleid für den älteren Mann. Wenn seine Tochter erst siebzehn gewesen war, musste er recht spät Vater geworden sein. »Habt Ihr denn nicht Myrnas Blutbank versucht?«
Er nickte. »Das haben wir, und wir sind Myrna zu Dank verpflichtet. Doch bei Nicoles Monatsblutung ging etwas schief. Gegen Ende konnten wir kaum mehr tun, als ihre Schmerzen zu lindern.« Er rang sich ein Lächeln ab und schüttelte den Kopf. »Sie war ein so fröhliches Mädchen. Sie hätte diesen Tag sicher gerne erlebt.«
»Der Tag, an dem Ihr Großvater werdet.«
»Ja, denn weißt du, Nicole hatte ihren Kindheitsschwarm geheiratet. Matt ist heute wie ein Sohn für uns. Er war es auch, der auf die Idee kam, einen Teil von ihr lebendig zu halten. Also haben wir Nicole nach ihrem Tod einige Eizellen entnommen.«
Gaia machte aus ihrer Überraschung keinen Hehl. Sie dachte an das, was Emily ihr erzählt hatte. »Und diese Eizellen habt Ihr dann der Leihmutter einsetzen lassen?«
Rhodeski nickte. »Etwa ein Dutzend Eizellen konnten wir retten, und die haben wir mit Matts Samen befruchtet. Heute Abend bekommen wir Nicoles und Matts biologisches Kind – unsere eigene Enkelin. Kannst du dir vorstellen, wie viel uns das bedeutet?«
Es war, wie ein Kind aus dem Grab zu holen. »Es muss Euer Leben verändert haben«, sagte sie höflich.
Er strahlte nun vor Freude. »Es ist, wie ein Stück von Nicole zurückzubekommen, ganz neu. Ein neues Leben. Ich kann es kaum in Worte fassen. Es ist unbeschreiblich.«
Gaias Blick fiel auf die Lutscher, die der alte Mann noch in den Händen hielt. Er hatte das Institut erfunden, um all das möglich zu machen. »War es die Sache wert?«, fragte sie.
»Die Kosten? Natürlich, aber versteh mich nicht falsch. Das Institut ist nicht nur für meine Familie gedacht. Es gibt Hunderte von Eltern in der Enklave, die sich nach Kindern sehnen. Unfurchtbarkeit ist ein Problem, das jeden Monat neue Herzen bricht – immer, wenn ein Kinderwunsch unerfüllt bleibt. Endlich haben wir einen Weg gefunden, diesen Eltern zu helfen.« Er verstummte. »Du siehst nicht gerade glücklich aus.«
»Es ist einfach falsch«, sagte Gaia und dachte an Sasha. »Das Pilotprojekt ist in Wahrheit nichts als ein Gefängnis, auch wenn man den Gefangenen und uns etwas anderes weismacht.«
»Wir bieten ihnen ein Leben«, widersprach Rhodeski. »Und wir zahlen dafür.«
»Ihr kauft Leben – das ist ein Unterschied. Und was ist mit Sasha?«
»Es tut mir sehr leid für sie. Wenn du weißt, wo sie steckt, solltest du sie überzeugen, zurückzukommen. Sie braucht Hilfe. Sie ist ein verwirrtes, armes Mädchen.«
Gaia lachte bitter auf. »Sie will ihr Baby auf keinen Fall hergeben. Diesbezüglich war sie sehr deutlich.«
»Das weißt du? Du hast sie also tatsächlich getroffen?«
»Ja.«
»Dann richte ihr aus, dass die Eltern des versprochenen Kindes alles tun werden, um eine sichere Geburt zu gewährleisten. Sie geben sogar ihre Ansprüche auf und zahlen für den Unterhalt und die Erziehung. Alles, was nötig ist, damit das Kind überlebt.«
Gaia schaute ihn erstaunt an. »Sasha glaubt, man wird sie töten, wenn man sie findet.«
Bruder Rhodeski schüttelte den Kopf. »Wir bringen Menschen das Leben, Schwester Stone. Nicht den Tod.«
In der Zwischenzeit hatte sich der Wintergarten geleert, und die Musik war verstummt. Gaia spähte über Rhodeskis Schulter und erhaschte einen Blick auf Peter, der sich mit jemandem unterhielt. Malachai konnte sie nirgends entdecken.
Da kam ein kleiner Junge gerannt, zwei Mädchen im Schlepptau. »Es beginnt jetzt!«, riefen sie.
»Wir kommen«, sagte Rhodeski.
Gaia hatte immer noch Schwierigkeiten, Rhodeskis Version der Geschichte mit Sashas in Deckung zu bringen. »Jemand lügt hier doch«, sagte sie.
»Oder jemand ist einfach nur verwirrt und irrt sich. Das ist verständlich, aber wenn wir miteinander reden, finden wir sicher einen Ausweg.«
»Mit Reden versuche ich es schon die ganze Zeit. Bis jetzt hat es nicht viel gebracht.«
Bruder Rhodeski wirkte bekümmert. »Ich habe gehört, dass der Protektor dich und deine Freunde nicht sehr zuvorkommend behandelt hat. Das möchte ich ändern. Ich würde auch gerne Zwischenfälle wie die heutige Störung der Wasserversorgung künftig vermeiden. Ich kann New Sylum eine Leitung besorgen, viel lieber noch würde ich euch aber ein eigenes Wasserwerk vor der Mauer bauen. Dann wärt ihr nicht länger von der Enklave abhängig.«
Gaia kam aus dem Staunen nicht heraus. Die Kosten eines solchen Projekts wären gigantisch. »Ich habe dem Protektor bereits gesagt, dass ich kein Interesse daran habe, eine Trägermutter zu werden«, sagte sie. »Ich möchte nicht Teil des Instituts sein.«
»Das erwarte ich auch gar nicht«, erwiderte Bruder Rhodeski. »Darum geht es mir nicht.«
Vom Ballsaal her rief jemand nach ihm.
»Worum geht es dann?«, fragte Gaia.
Er hob entschuldigend die Hand. »Ich möchte jetzt nichts überstürzen. Es tut mir sehr leid, aber ich muss nun zu meiner Familie. Es freut mich sehr, dass du gesprächsbereit bist. Wollen wir?« Er wies Richtung Ballsaal.
Gaia warf unbehaglich einen Blick zu Peter. Er wurde auf sie aufmerksam und nickte ihr zu. »Geht ruhig vor«, sagte sie zu Bruder Rhodeski. »Ich komme gleich nach.«
Lächelnd entfernte sich der ältere Mann. Peter trat zu ihr.
»Malachai sucht nach Leon und den anderen«, sagte er.
»Ich glaube nicht, dass Leon hier ist.«
Alle Gäste bewegten sich zum Ballsaal, und mit einem letzten Fünkchen Hoffnung, Leon doch noch in der Menge zu entdecken, folgte sie.
In der Mitte des Ballsaals hatten die Gäste einen Kreis um eine junge Frau in einem Rollstuhl gebildet, die ein Baby auf dem Schoß hielt. Ihre Wangen waren rosig, ihr Haar ordentlich gescheitelt, und sie trug ein weiches, weißes Kleid. Als sie sich nervös eine dunkle Strähne zurück hinters Ohr schob, konnte man deutlich ihr Armband erkennen, leuchtend blau, mit einem Schimmer Gold darin.
Um sie herum scharten sich die anderen Frauen des Instituts, durch ihre gewölbten Bäuche und die identischen Armbänder leicht zu erkennen. Sie lächelten, manche gelassen, manche erfreut, und alle trugen sie herrliche Kleider und strahlten nur so vor Gesundheit. In ihrer Mitte stand Emily, einen Säugling auf dem Arm und ein Kleinkind zu ihren Füßen. Hätte Gaia nicht mit Sasha gesprochen, sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass mindestens die Hälfte dieser werdenden Mütter ihre Entscheidung insgeheim bereute.
Hinter dem Rollstuhl stand eine ruhig lächelnde Frau in einem hellblauen Kleid, die Gaia nach einem Moment als Sephie Frank erkannte – eine der Ärztinnen, die sie in Zelle Q kennengelernt hatte. Zu Sephies Linker stand Bruder Rhodeski Hand in Hand mit einer Frau seines Alters und daneben der Protektor, der gerade eine Rede hielt. Es fiel Gaia auf, dass er die junge Frau nie beim Namen nannte und stattdessen nur schwärmerisch von »unserer kleinen Mutter« sprach. Dann beugte sich ein junger Mann, anscheinend Rhodeskis Schwiegersohn Matt, über sie und schnitt ihr mit einer goldenen Schere das Armband vom Gelenk. Als er es in die Höhe hielt, applaudierte die Menge.
Er reichte das Band Bruder Rhodeski. Dann streckte er die Hände nach dem Baby aus.
Unter ihrer Schminke wurde die Mutter totenblass. Sie blickte auf das Kind hinab, sodass ihr dunkles Haar ihr ins Gesicht fiel und es halb verbarg. Obwohl Matt noch mit ihr redete, saß sie starr, als hätte auf einmal alle Kraft sie verlassen. Der Protektor machte eine Bemerkung, und die Menge lachte nervös. Matt beugte sich tiefer, sodass seine Krawatte schon ihr Knie berührte. Schließlich hob die Mutter ihr Neugeborenes vom Schoß, doch kaum mehr als einen Zentimeter, nicht genug, dass auch nur seine Decke ihren Schoß verließ. Da legte Matt seine Hände um das Kind, nahm es auf und drückte es an seine Brust. Dann trat er einen halben Schritt zurück und senkte sein Gesicht über das Kind. Die Menge wartete geduldig, doch Matt stand einfach nur da und wiegte das kleine Mädchen auf dem Arm, sodass sich der stille und intime Moment auf fast schmerzhafte Weise hinzog.
Eine schwache Brise wehte durch den Saal.
Nach und nach wandten die Menschen den Blick ab. Bruder Rhodeski trat heran, um seinem Sohn die Hand auf den Rücken zu legen, und Matt begab sich stumm in seine Umarmung. Dann drängten sich auch andere um die beiden, die Zuschauer atmeten erleichtert auf und applaudierten ein zweites Mal, diesmal kürzer.
Die Kellner reichten Gläser für einen Toast. Die junge Mutter war in sich zusammengesunken, die Hände kraftlos im Schoß. Sephie Frank schob sie wortlos aus dem Saal.
Gaia wandte sich ab und wollte etwas zu Peter sagen, doch stattdessen stand Bruder Iris vor ihr.
»Sehr berührend, nicht wahr?« Er hob sein Glas und prostete ihr zu.
»Wo ist Peter?«, fragte sie und schaute sich erschrocken um. Überall Gäste, doch von ihren Leuten war niemand mehr zu sehen.
»Ich fürchte, er hat sich verabschiedet.«
Sie wich zurück. »Ich muss Leon finden.«
»Möchtest du denn gar nicht wissen, was Rhodeski von dir will?«
»Das ist mir egal.« Sie schüttelte den Kopf.
»Sogar, wenn es um die Zukunft von New Sylum geht? Eine eigene Wasserversorgung! Es muss etwas unglaublich Wertvolles sein, wenn er bereit ist, so viel zu investieren.«
»Ihr wisst nicht, wovon Ihr redet.« Sie wich vor ihm zurück.
»Ich glaube, du hast es ohnehin schon erraten«, sagte Bruder Iris. »Erinnerst du dich noch an mein Ferkel?«
Gaia stand wie festgefroren. Bruder Iris nickte bedächtig.
»Wir wollen deine Eizellen«, sagte er. »Genaugenommen deine Eierstöcke. Natürlich musste Nicole erst sterben, ehe wir ihre entnehmen konnten – aber vielleicht hast du ja Glück.«
Die Vorstellung war so grotesk, dass Gaia gar nicht recht hinterherkam.
»Ihr könnt mir meine Eierstöcke nicht entnehmen«, sagte sie. Eine solche Operation war gar nicht möglich, und selbst wenn, könnte sie ohne Eierstöcke nie eigene Kinder haben.
Bruder Iris lächelte sein kleines, kaltes Lächeln. »Wir haben viel geübt.«