13 Alte Freunde
»Nicht!«, schrie sie wieder. »Wartet noch!«
Panisch kroch sie durch das inzwischen reißende Wasser. Hörte denn niemand sie? Sie schrie abermals. Die graue Fläche vor ihr wurde größer und heller, und dann, gerade als sich die volle Flut des Wassers durch das Rohr ergoss, tat sich auf einmal die Decke über ihr auf, und sie stand mitten in der kalten Sturzflut.
So gut es ging, hielt sie sich an den Rändern der glitschigen Röhre fest, in der sie nun stand. Sie blinzelte, die Augen voll Wasser, und riss den Mund auf, um Luft zu bekommen, dann schaute sie hoch. Das Wasser kam aus einer weiteren Öffnung über ihr, toste und wirbelte an ihr vorbei und floss dann durch das Rohr, durch das sie gekommen war, ab.
Sie sprang hoch, packte den oberen Rand der Röhre und stemmte die Füße gegen beide Seiten. Sobald sie die Ellbogen über der Kante hatte, zog sie sich hoch. Dann brach sie auf dem Boden einer großen Halle zusammen.
Sie befand sich im Wasserwerk. Immer noch zitterten ihr vor Furcht alle Glieder. Wenn Malachai ihr in das Rohr gefolgt wäre, hätte das reißende Wasser ihn ertränkt. Er wäre genauso verloren gewesen wie die kleine Maus. Und wäre sie nur eine Minute später dran gewesen, wäre sie nun ebenfalls tot.
Sie setzte sich und schaute sich um. Der laute Raum war voller Wasserleitungen, deren Öffnungen über verschiedene Fässer und Rohre geschwenkt werden konnten. Im Augenblick war niemand hier, aber hinter einer Tür war Licht, und wer immer das Wasser angedreht hatte, konnte jeden Moment zurückkommen. Über ihr öffnete sich eine Luke zum nächtlichen Himmel. Einer Eingebung folgend kletterte sie die eisernen Sprossen an der Wand nach oben und entkam durch die Luke aufs Dach. Das Tosen und Rauschen blieb unter ihr zurück.
Sie schlang die Arme um ihren Leib, rang nach Atem und versuchte sich zu orientieren. Direkt unter ihr gurgelte das Wasser in einer Reihe großer, dunkler Becken, und irgendwo tuckerte eine Pumpe. Hinter der Mauer konnte sie die dunklen Felder erahnen, über die sie gekommen war, und hinter dem Südtor erstreckten sich die nächtlichen Häuser von Wharfton, hinter denen wiederum die Lagerfeuer New Sylums schimmerten, so klein wie Nadelstiche.
Gaia drehte sich um. Auf dem Bastionsplatz erhob sich der glänzende Obelisk, dahinter die Türme der Bastion und des Gefängnisses.
Dann schaute sie nach oben. Die eine Hälfte des Himmels war von Wolken verdeckt, doch in der anderen hing friedlich die scharf geschnittene Mondsichel, und die Sterne glitzerten so hell wie eh und je und schienen zum Greifen nah. Sie suchte nach Orion und fand die drei charakteristischen Sterne seines Gürtels tief über dem südöstlichen Horizont. Für Gaia dienten diese Sterne dem Gedenken an ihre Eltern.
Sie strich sich das nasse Haar aus der Stirn und zog sich die durchnässte Bluse zurecht. Hallo Mom, hallo Dad, dachte sie und sandte ihren stummen Gruß in die Nacht hinaus. Sie vermisste sie, aber sie waren auch bei ihr. Und das fühlte sich gut an.
Zum ersten Mal seit langer Zeit, zum ersten Mal, seit sie zur Matrarch gewählt worden war, musste sie sich mit niemandem absprechen und konnte unabhängig handeln. Der Geschmack der Freiheit war unvergleichlich süß.
Dann kam ihr ein unerwarteter Gedanke: Auch für Leon musste sich diese Freiheit gut angefühlt haben. Jedes Mal, wenn er versucht hatte, die Initiative zu ergreifen – sei es, die verschwundenen Scouts zu suchen oder sie in Wharfton zu beschützen – hatte sie ihn zurückgehalten. Noch gestern Abend, als er einen Gegenschlag hatte vorbereiten wollen, hatte sie ihm eine Abfuhr erteilt.
Kein Wunder, dass er auf eigene Faust los ist, dachte sie.
Leon kannte die Enklave besser als irgendwer sonst, und dennoch hatte sie seinen Rat missachtet. Das war ein Fehler gewesen.
Eine leichte Brise würziger Nachtluft trocknete ihre Kleider und kühlte ihr die Haut. Sie musste ihn finden. Und wenn Angie und Jack nicht bei ihm waren, dann auch die beiden.
Erst einmal aber würde sie zu den Jacksons gehen.
Gaia folgte den Wasserleitungen, die die einzelnen Gebäude verbanden, von Dach zu Dach. Das war kein Problem, solange sie sich Zeit ließ und auf den Laufstegen neben den Leitungen auf ihre Füße achtete. An einer Kreuzung lief ein rot gekleidetes Mädchen unter ihr hindurch und löste den Bewegungsmelder einer Laterne aus. Gaia erstarrte, bis sie vorüber war. Eine Fledermaus flatterte dicht an ihr vorbei und sauste davon in die Nacht.
Schließlich näherte sie sich der Bäckerei. Nur ein paar Straßen weiter erhellte die Spitze des Obelisken den Bastionsplatz. Verstohlen duckte sie sich unter ein paar Wäscheleinen durch und kletterte eine Treppe hinab, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Wenn irgendwer sie bemerkte und erkannte, war sie verloren. Zitternd beobachtete sie die stille, nächtliche Straße. Die Fenster der Bäckerei waren dunkel, doch um die Ecke schien etwas Licht durch die Spalten einer Jalousie. Jemand im Haus musste bereits aufgestanden sein. Leise klopfte sie an. Einen Augenblick später erlosch das Licht. Gaia wartete, hörte nichts und klopfte abermals. Dann kam ein Klicken von der Tür, und ein dunkler Spalt tat sich auf.
»Wer ist da?«, fragte eine leise Stimme.
»Ich bin’s, Gaia Stone. Ist Mace daheim?«
Rasch wurde sie hineingezogen, dann schloss sich die Tür hinter ihr. Der warme Duft von frischem Brot hüllte sie ein. Dann zog jemand am Schalter der Lampe über dem Tisch, und vor ihr standen Mace und seine Frau Pearl. Sie strahlten sie an und breiteten beinahe gleichzeitig die Arme aus.
»Gaia!«, rief Pearl. »Ich habe mich so darauf gefreut, dich wiederzusehen. Geht es dir gut? Du bist ja ganz nass!«
»Mir geht es gut.« Gaia grinste. »Es ist schön, wieder hier zu sein. Wie geht es Yvonne und Oliver?«
»Gut. Sie schlafen noch«, sagte Mace.
Sie weidete sich am Anblick ihrer Freunde. Maces Schürze spannte sich über seinem strammen Bauch, und seine kräftigen Hände waren voller Mehl. Pearl war etwas dünner, als Gaia sie in Erinnerung hatte, und hatte ein paar neue graue Strähnen an den Schläfen.
»Du bist größer geworden«, stellte Pearl fest. »Und braun. Kein kleines Mädchen mehr, wie es aussieht.«
»Was habe ich dir gesagt?« Mace schenkte Gaia ein Lächeln. »Dreh dich doch mal.«
»Ach, kommt schon!« Gaia lachte.
»Nein. Lass uns dich ansehen.« Er griff ihre Hand und sie vollführte eine Drehung darunter. »Ich habe dich neulich kaum wiedererkannt. Was für eine Überraschung! Leon hat uns gar nicht gesagt, dass du kommst.«
»Ist er hier?«, fragte Gaia.
Ein Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit zur Treppe. Dort saß Angie in einem viel zu großen Nachthemd, in dem sie beinahe versank.
»Da bist du ja!« Gaia fiel ein Stein vom Herzen. Fragend schaute sie zu Pearl.
»Leon ist schon wieder weg. Sie hat er uns dagelassen.«
Gaia streckte eine Hand nach Angie aus. »Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.«
»Leon ist wütend auf mich«, sagte sie.
Gaia lächelte. »Kann ich ihm nicht verübeln. Bist du ihm durch die Bewässerung gefolgt?«
Das Mädchen nickte. »Ich wollte ganz leise sein, aber er hat mich gehört.«
»Komm doch mal her«, sagte Gaia.
»Bist du auch wütend?«, fragte Angie vorsichtig.
»Vor allem bin ich erleichtert. Was du gemacht hast, war unglaublich gefährlich.« Sie wandte sich an Mace. »Wohin ist Leon gegangen?«
»Er wollte in die Tunnel.«
»Und Jack Bartlett? War er auch hier?«
Mace und Pearl machten verwirrte Gesichter, Angies Augen aber wurden ganz groß, und ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Oh nein. Ist er uns auch gefolgt?«
»Er hat nach dir gesucht«, sagte Gaia.
Angie senkte niedergeschlagen den Kopf, doch Gaia zog sie die Stufen hinab, schloss sie in die Arme und drückte die Wange in ihr weiches Haar. »Du hast deine Brille dagelassen, damit wir dich finden, stimmt’s?«
Das Mädchen nickte. »Nur für den Fall. Ich hätte aber nicht gedacht, dass du wirklich kommst. Wo ist Jack?«
»Niemand hat ihn gesehen. Wann war denn Leon hier?«
»Gestern früh, im Morgengrauen«, antwortete Mace. »Er bat uns, auf sie aufzupassen, bis er zurück ist.«
Doch dazu war es offensichtlich nicht gekommen.
»Und wo wollte er in die Tunnel?«
»Komm jetzt nicht auf komische Gedanken«, sagte Mace. »Dort unten sind sogar schon Schmuggler ums Leben gekommen. Am besten wartest du auf ihn.«
»Ist er vielleicht verhaftet worden?«
»Nein. Bei der Bastion war heute zwar einiges los, aber von einer Verhaftung habe ich nichts gehört – und das hätte ich auf jeden Fall.«
»Wie denn?«, forschte Gaia.
Mace warf seiner Frau einen knappen Blick zu.
»Wir haben inzwischen eine Art Netzwerk«, sagte Pearl. »Es ist kompliziert. Du solltest aber auf jeden Fall hier bei uns bleiben – da hat Mace völlig recht.«
Da wurde sich Gaia des Verlusts ihrer Tasche bewusst und ließ den Blick durch den Raum wandern. »Ich werde ein paar Kerzen oder eine Lampe brauchen.«
»Du wirst nirgendwohin gehen«, sagte Mace. »Du verläufst dich noch.«
»Ich passe schon auf. Ich werde mir den Weg markieren.«
Er schaute skeptischer denn je. »Und womit?«
Mit ihrer Tasche hatte sie auch ihre leuchtenden Pilze eingebüßt. »Ihr habt nicht zufällig ein paar Honigpilze da?«
Mace lachte. »Du machst wohl Scherze.«
Pearl legte ihr die Hand auf die Schulter. »Erst mal ziehen wir dir was Trockenes an. Was sind das überhaupt für Hosen? Trägt man, da wo du herkommst, so was als Frau? Zumindest machen sie einen praktischen Eindruck.«
Gaia fuhr sich nervös mit der Hand durchs nasse Haar. »Leon könnte da unten etwas passiert sein. Wenn ihr mir nicht helfen wollt, gehe ich einfach bei der Imkerei rein. Ich weiß, dass es da einen Eingang gibt.«
Mace und Pearl tauschten einen Blick, dann räusperte sich Pearl. »Ich bringe dir ein paar trockene Sachen. Mace, mach es bitte nicht kompliziert.« Sie verließ die Küche.
»Angie, du gehst zuück ins Bett«, sagte Mace.
»Ich möchte aber bei Gaia bleiben«, sagte das Mädchen.
»Ich komme wieder und hole dich, bevor ich nach draußen gehe«, versicherte ihr Gaia. »Du bist hier in Sicherheit. Nun geh schon.«
Angie aber schüttelte stur den Kopf und setzte sich demonstrativ auf die unterste Treppenstufe.
Gaia holte tief Luft, dann baute sie sich vor ihr auf. »Du weißt doch, dass ich die Matrarch bin, oder nicht?«
Angie nickte vorsichtig.
»Und du willst mir doch helfen?«, fuhr Gaia fort.
Das Mädchen legte sich die Hand auf den Hals und nickte wieder.
»Dann pass jetzt gut auf: Ich kann keine Leute gebrauchen, die nicht auf mich hören. Du wirst hierbleiben und tun, was Mace und Pearl sagen, wirst höflich sein und dich nützlich machen. Jetzt aber erst mal zurück ins Bett mit dir. Na los.« Sie zeigte die Treppe hoch.
Angies Augen wurden feucht, ihr Kinn bebte, Gaia aber gab nicht nach. Schließlich sprang das Mädchen auf die Füße und rannte die Treppe hinauf. Eine Sekunde später schloss sich oben eine Tür.
Mace spitzte die Lippen. »Wie ich gesagt habe: Du bist erwachsen geworden.«
»Nicht dass es mir Spaß machen würde«, sagte Gaia. Angie war auch so schon verletzlich genug – doch sie konnte das Mädchen einfach nicht mitnehmen.
Mace zog sich einen Klumpen Teig heran und begann, ihn zu kneten. »Du hast von Myrna Silks Blutbank gehört?«, fragte er.
»Ja.«
»Einige der Eltern, deren Kinder an der Bluterkrankheit gestorben sind, haben sich organisiert. Wir stellen Schwester Silk zur Verfügung, was immer wir können, und ein paar wollen wenn möglich das ganze Gesundheitssystem reformieren. Wir sind noch nicht sehr weit damit, aber einmal im Monat treffen wir uns und reden.«
Sie dachte an Derek und Ingrid mit ihrer Dokumentationsstelle für vorgebrachte Kinder und die vielen Freundschaften, die Kinder und Eltern darüber geschlossen hatten. Überall bildeten sich gerade neue Allianzen. »Da besteht aber keine Verbindung zu Derek, oder?«
Mace studierte sie mit schlauem Blick. »Vielleicht schon. Es geht zwar um verschiedene Dinge, aber wir brauchen Freunde. Wir nutzen unsere Beziehungen.«
»Weiß der Protektor davon?«
»Nein. Und das ist auch besser so. Ich erzähle dir das nur, damit du weißt, dass wir vielleicht helfen können, wenn du etwas brauchst.«
»Was wir in New Sylum vor allem brauchen, ist Wasser. Und nicht nur ein paar Fässer voll – wir brauchen eine richtige Leitung, oder besser noch, unser eigenes Bewässerungssystem mit direkter Verbindung zum Geothermiekraftwerk.«
»Das wird teuer«, sagte er. »Ich kann dir nichts versprechen, aber meine Freunde würden das zumindest unterstützen. Angeblich wünschen sich auch ein paar der reicheren Familien eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems. Selbst Leute, die hinter dem Trägerinstitut stehen. Wir sind aber noch unschlüssig, ob wir ihnen trauen können.«
»Vielleicht kann Leon euch helfen. Er kennt die reicheren Familien – schließlich ist er unter ihnen aufgewachsen. Hast du ihn schon darauf angesprochen?«
»Wir hatten noch keine Gelegenheit.« Mace knetete den Teig noch ein paar Mal, dann legte er ihn beiseite und nahm sich den nächsten Klumpen.
Da dämmerte es ihr. »Du traust ihm noch immer nicht, oder? Deshalb willst du auch nicht, dass ich ihm folge.«
Mace rieb sich die Augenbraue mit dem Knöchel seines Daumens. »Wir haben uns um Angie gekümmert, als er uns darum bat.«
»Das ist keine Antwort.«
Er zuckte die Achseln. »Derek verbürgt sich für ihn, ich weiß. Und ich sehe ja, wie wichtig er dir ist. Ich nehme nicht an, dass etwas so Langweiliges wie meine Bedenken deinen Gefühlen für ihn im Weg stehen könnten?«
»Wir sind verlobt«, sagte Gaia.
Mace hörte zu kneten auf und warf ihr einen scharfen Blick zu. »Tatsächlich.«
Gaia merkte, dass er nicht gerade begeistert war. Ein leichtes Brennen breitete sich in ihrem Magen aus, so als hätte er damit auch ihr das Vertrauen entzogen.
»Sollte ich sonst noch etwas wissen? Kriegst du vielleicht ein Kind von ihm?«
Autsch, dachte sie. »Nein. Nicht, dass es dich etwas anginge.«
Pearl kam zurück, ein paar Kleider über dem Arm. »Ich habe noch einen roten Umhang gefunden«, setzte sie an, dann stutzte sie.
»Gaia hat mir gerade erzählt, dass sie mit Leon Grey verlobt ist«, sagte Mace.
Pearl runzelte die Stirn. »Bist du dir sicher, dass du das Richtige tust?«
»Natürlich«, erwiderte sie knapp. »Und sein Name ist jetzt Leon Vlatir.«
»Ich weiß, wer er ist.« Pearl hob abwehrend die Hand. »Ich frage ja nur, weil es eine große Entscheidung ist und du noch so jung bist.«
Gaia sank der Mut. Sie hatte Mace und Pearl immer für eine Art Familie gehalten, aber offensichtlich waren sie das nicht. Oder schlimmer noch, vielleicht waren sie es ja doch – denn das war genau die Art von Ablehnung, die sie auch von ihren eigenen Eltern erwartet hätte.
»Danke. Wisst ihr was? Ich gehe jetzt einfach.«
»Blödsinn. Du hast uns einfach etwas überrumpelt.« Pearl rang sich ein Lächeln ab. »Natürlich wünschen wir dir alles Gute. Und jetzt ziehen wir dir was Neues an. Mace, dreh dich mal um. Hat er dir erzählt, dass Leon durch die Bibliothek in die Tunnel wollte?«
»So weit waren wir noch nicht«, brummte Mace und wandte den Blick ab.
»Es war wohl wichtiger, ob ich schon schwanger bin oder nicht.«
»Mace!«, rief Pearl.
»Sie ist’s nicht«, fügte er hinzu.
»Na was für ein Glück«, murmelte Pearl. »Allein der Gedanke – du bist ja selbst noch fast ein Kind! So, jetzt zieh die nassen Sachen aus, bevor du dich erkältest.«
Gaia zog die nassen Hosen und die Bluse aus und schlüpfte in den blauen Rock, den Pearl ihr reichte. Dann zog sie sich eine frische Bluse über. Die Sachen waren etwas zu groß, aber sie steckte die Bluse in den Rock und schlug den Bund einmal um, damit er besser saß. Ihre Knie waren wund vom Kriechen durch das Rohr. Sie betastete sie vorsichtig, dann ließ sie den Stoff darüberfallen.
»Fertig«, sagte Pearl. »Du kannst dich wieder umdrehen.«
Mace musterte Gaia und knetete weiter seinen Teig.
»Am Bastionsplatz gibt es eine Bibliothek«, erläuterte Pearl. »Leon hat gesagt, dass im Keller ein Eingang in die Tunnel existiert. Ich hatte keine Ahnung davon, aber anscheinend gelangt man von dort unter dem Platz durch direkt zur Bastion.« Sie erklärte Gaia, wie sie zum Hintereingang der Bibliothek gelangte.
»Wird man mich da denn reinlassen?«, fragte sie.
»Das weiß ich nicht. Leon scheint den Bibliothekar zu kennen. Vielleicht glaubt er dir ja, dass ihr Freunde seid. Schauen wir mal, was wir noch an Kerzen haben. Und mit deinen Honigpilzen hast du mich auf etwas gebracht.«
Pearl nahm eine Holzkiste aus einem Regal und wühlte darin herum. »Da haben wir’s ja.« Sie hielt etwas hoch, was wie ein breiter grauer Seifenriegel aussah. Dann trat sie damit zum Tisch und hielt es unter die Glühbirne, worauf es zu Gaias Überraschung in einem grünen Licht zu leuchten begann.
»Oliver hat das in der Schule gemacht«, sagte Pearl. »Das ist Leuchtkreide. Von alleine leuchtet sie bloß ein paar Minuten, doch bei Kerzenschein kann man sie deutlich erkennen. Damit kannst du Pfeile auf die Tunnelwände malen.«
Gaia nahm die Kreide in die Hand. Sie fühlte sich trocken an.
»Woraus besteht die?«
»Vor allem Zinksulfid«, sagte Pearl.
Mit neuer Hoffnung hielt Gaia die Kreide unter die Lampe, um die Phosphoreszenz anzuregen. Durch die Jalousien fiel mittlerweile graues Licht herein, und sie wollte nicht mehr länger warten. Pearl packte ihr die Kreide mit ein paar Kerzen und Streichhölzern in eine Tasche, und Mace legte ein paar warme, verpackte Brötchen dazu.
Zum Abschied drückte Pearl sie noch einmal an sich.
»Jetzt komm schon her und versuch, etwas Nettes zu sagen«, drängte sie Mace.
»Nimm dir nächstes Mal länger Zeit für deinen Besuch«, sagte er. Er legte ihr die warme, schwere Hand auf die Schulter und schaute ihr in die Augen. »Und bring deinen Verlobten mit, damit wir ihn ein bisschen kennenlernen.«
»Werde ich tun«, sagte sie. Es ging ihr jetzt schon etwas besser. »Bitte kümmert euch um Angie«, fügte sie hinzu, dann schlüpfte sie nach draußen.
Gaia huschte im Dämmerlicht durch die Straßen, die Haare im Gesicht, damit niemand ihre Narbe sah. Die meisten Läden hatten noch geschlossen, bloß ein paar Händler für Kaffee, Eier und Milch öffneten gerade. Bald hatte Gaia die Gasse hinter dem Bastionsplatz erreicht und folgte Pearls Beschreibung zu einer schmalen grünen Tür. Die Hausnummer war aus Kupfer und mit den Jahren grün geworden: 49 – sie hatte ihr Ziel erreicht. Sie klopfte an, dann legte sie die Hände ans Gesicht und spähte durch das kleine Fenster in der Tür.
Da sah sie eine schlanke Gestalt mit einem Kerzenleuchter den Flur herabkommen. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und eine junge Frau schaute heraus.
»Ja?«, fragte sie.
Sie brauchten beide einen Moment, einander zu erkennen. Dann öffnete Rita die Tür. »Komm rasch rein«, sagte sie, zog Gaia in den schmalen Flur und verriegelte die Tür hinter ihr. Rita trug nicht länger das Rot der jungen Mädchen, die in der Bastion arbeiteten, sondern ein helles Beige. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden, doch ihr Gesicht mit den mandelförmigen Augen und den geschwungenen Brauen war noch genauso ausdrucksstark, wie Gaia es in Erinnerung hatte.
»Leon hat mir nicht gesagt, dass du kommen würdest«, flüsterte sie.
»Er wusste es auch nicht.«
»Na toll«, sagte Rita. »Erklärt mir auch mal jemand was?«
»Was hat er dir denn erzählt?«
»Er wollte mir gar nichts sagen. Zu meiner eigenen Sicherheit – so als wäre er jetzt irgendein Meisterspion.«
»Ich mache mir Sorgen, dass ihm was passiert ist.«
»Da kennst du ihn schlecht, wenn du das glaubst«, erwiderte Rita. »Mach dir keine Gedanken. Er ist ein aufgewecktes Kerlchen.«
»Wenn er nicht gerade bewusstlos ist.«
Rita warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Schon gut, ich mache mir ja auch Sorgen, aber was sollen wir tun? Meine Tante wird jeden Augenblick kommen. Du kannst hier nicht bleiben.«
»Ich folge ihm«, erklärte Gaia.
Rita warf ihr einen skeptischen Blick zu, dann schien sie eine Entscheidung zu treffen. Sie führte Gaia am Lesesaal vorbei und eine Treppe hinab ins Archiv. Der stickige, trockene Geruch nach alter Tinte und Papier kitzelte Gaia in der Nase. Dutzende Regale standen so dicht beisammen, dass sie immer wieder mit den Schultern aneckte.
»Nicht stolpern«, warnte Rita und führte sie in einen zweiten, tieferen Raum, der noch enger zugestellt war, sodass sie beim Hindurchgehen die bunten Zettel berührte, die wie Fähnchen zwischen den Büchern herausragten.
»Kennst du Leon schon lange?«, fragte Gaia.
»Wir waren in derselben Schulklasse«, sagte Rita. »Er, Jack Bartlett und ich haben eine Menge miteinander erlebt. Hat er uns nie erwähnt?«
»Jack schon.«
Rita lachte. »Na super. Das ist mal wieder typisch. Ich war ja bloß vier Jahre am Stück in ihn verknallt.« Ihre Augen schimmerten hell. »Keine Sorge. Ich bin drüber hinweg – denke ich. Da wären wir.« Am Ende des Raums befand sich eine alte, schmale Tür, deren schwerer Riegel an der Wand lehnte. »Wir wünschen uns normalerweise keine Überraschungen, aber ich habe die Tür offengelassen, falls Leon zurückkommt. Hast du denn überhaupt eine Ahnung, wo du hin musst?«
Gaia rief sich den Weg ins Gedächtnis, den sie bislang gegangen waren, und zeigte nach links. »Da lang geht’s zur Bastion.«
»Stimmt«, sagte Rita.
»Danke«, sagte Gaia. »Das meine ich ernst.«
»Wenn du jetzt auch noch verschwindest, werde ich mir wirklich Vorwürfe machen. Also komm bitte wieder.«
»Das werde ich.«
Sie zündete eine Kerze an, und mit einem letzten stummen Gruß an Rita schritt sie durch die Tür und ein paar Stufen nach unten, bis sich ein übler Geruch in die schale Luft mischte. Sie hob die Kerze und sah, dass sie sich in einem Tunnel befand, in dessen Mitte eine Rinne verlief. In der Rinne hatte sich verrotteter Unrat gesammelt, wahrscheinlich noch vom letzten Regen. Zu Gaias Rechter lag nur Dunkelheit; zu ihrer Linken, weit voraus, glaubte sie einen Schimmer von Tageslicht zu sehen. Also hinterließ sie ihren ersten leuchtenden Wegweiser am Fuß der kleinen Treppe: Einen Pfeil nach links. Dann ging sie los.
Die Stille war erdrückend und wurde nur vom leisen Geräusch ihrer eigenen Schritte durchbrochen. Diese Tunnel waren anders als die alten Bergwerksstollen, durch die sie mit Leon geflohen war, doch sie hoffte, dass diese noch vor ihr lagen. Als sie die Stelle mit dem Tageslicht erreichte, stellte sie fest, dass es durch einen Kanaldeckel viele Meter über ihr fiel. Sie konnte sogar ein kleines Stückchen Morgenhimmel erkennen und hörte den fernen Klang von Stimmen und Wagenrädern.
Etwas weiter befand sich noch eine Öffnung in der Decke, und diesmal konnte sie die Spitze des Obelisken erahnen. Dann wurde der Weg durch mehrere auffällig neu wirkende Holzkisten blockiert, so als hätte jemand sie erst kürzlich hier abgestellt. Sie zwängte sich daran vorbei. Auf der anderen Seite erwartete sie abermals völlige Dunkelheit; nur ein paar Spinnennetze schimmerten im Schein ihrer Kerze. Sie eilte voran.
Dann machte sie vor Schreck fast einen Satz, als etwas über ihren Schuh huschte. Gerade noch sah sie den haarlosen Schwanz einer Ratte in der Dunkelheit verschwinden. Dann gabelte sich der Tunnel, und Gaia malte auf Augenhöhe abermals einen Pfeil auf einen Vorsprung. Nicht lange danach wurde ihr klar, dass es beinahe unmöglich sein würde, Leon zu finden.
Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte.
Oder wohin die Tunnel überhaupt führten.
Sie sollte besser umkehren.
Sie wusste, es wäre am vernünftigsten, einfach bei den Jacksons auf ihn zu warten, doch beim Gedanken daran, dass er irgendwo hier unten sein könnte, verletzt und in Not, konnte sie einfach nicht aufgeben.
»Leon?«, rief sie in die Dunkelheit. Ihre Stimme klang gedämpft und fremd.
Ein neuer Weg zu ihrer Rechten verengte sich rasch, mit Wänden aus schwarzem Granit, während die Wände geradeaus heller waren und eher wie Sandstein aussahen, also ging sie instinktiv weiter geradeaus, in der Hoffnung, die Stollen wiederzufinden, in denen sie letztes Mal mit Leon gewesen war. Immer, wenn sie an eine Abzweigung kam, markierte sie ihren Weg mit einem Pfeil und vergewisserte sich, dass er im Kerzenschein auch leuchtete. Längst hatte sie die Orientierung verloren, und sie befürchtete immer mehr, dass sich das alles als ein großer Fehler erweisen könnte. Aber irgendwohin mussten die Tunnel ja führen, und sie hoffte nach wie vor darauf, eine vertraute Stelle wiederzuerkennen – zum Beispiel das geheime Versteck, wo Leon und seine Schwestern als Kinder gespielt hatten.
Mehrmals blieb sie stehen, rief Leons Namen und lauschte. Dann fand sie einen breiten Stollen mit niedriger Decke, aus dem kühlere Luft drang, und folgte ihm. Als sie an der nächsten Abzweigung gerade ihren Pfeil malen wollte, bemerkte sie auf der gegenüberliegenden Seite auf einmal ein schwaches, grünes Leuchten.
Fassungslos trat sie näher.
Es war einer ihrer eigenen Pfeile.
Das konnte nur eins bedeuten: Sie war im Kreis gelaufen.