12 Ein Mäuschen im Rohr
Am Südtor lieh sie sich einen Stift und Papier und setzte eine Nachricht an den Protektor auf.
Mein Protektor,
wir haben Euch bei der Registrierung heute früh vermisst.
Wo bleibt unser Wasser?
Gaia Stone
Matrarch New Sylums
Eine Stunde später erhielt sie Antwort:
Schwester Stone,
gut Ding will Weile haben.
Gez. Miles Quarry,
Protektor
»Er spielt mit uns.« Gaia zeigte Will die Botschaft. Will zumindest schien es ihr nicht nachzutragen, dass sie sich wie eine selbstherrliche Diva aufgeführt hatte. Peter hatte ihre Entschuldigung mit knappem Nicken zur Kenntnis genommen.
Den Nachmittag verbrachte sie damit, in Wharfton das Anlegen der Wasservorräte voranzutreiben. Dann bat sie Myrna im Vertrauen, die Registrierung für den Rest des Tages unter irgendeinem Vorwand auszusetzen, bevor ihr Schwindel aufflog, und Myrna richtete es ein, dass ein paar Proben durcheinandergerieten. Zu dem Zeitpunkt hatte sich schon gut die Hälfte der Bürger New Sylums registriert, und alle fühlten sich betrogen, als sie erfuhren, dass der Protektor nicht Wort gehalten hatte.
Gegen Abend fand am Lagerfeuer von Klan Neunzehn ein Treffen mit den wichtigsten Personen Wharftons und New Sylums statt. Immer noch gab es keine Neuigkeiten von Leon, Angie oder Jack.
»Wir haben momentan genug Wasser, um Wharfton und New Sylum zwei Tage lang zu versorgen, falls der Protektor Wharfton die Leitung kappt«, sagte Gaia. »Das heißt, weniger baden und waschen, aber genug Wasser zum Kochen und Trinken. Wir haben Teams an den Wasserhähnen, die unsere Vorräte über Nacht noch weiter aufstocken werden.«
»Zwei Tage sind so gut wie nichts«, sagte Derek, und Gaia musste ihm zustimmen.
»Früher oder später wird der Protektor auf jeden Fall einlenken.«
»Mir ist nicht klar, wo das Wasser eigentlich herkommt«, sagte Bill von den Bergleuten. »Gibt es denn Quellen in der Enklave?«
»Nein«, sagte Myrna. »Sie wandeln Dampf aus dem Geothermiekraftwerk um, und die Felder werden mit aufbereiteten Abwässern versorgt. Wasser ist hier sehr wertvoll, aber es gäbe genug für uns alle.«
»Nur zur Information«, sagte Bill, »meine Leute und ich könnten euch in weniger als zwei Wochen einen schönen Tunnel unter dieser Mauer durchgraben.«
Derek lachte.
»Was denn? Ich sage die Wahrheit.«
»Dazu bräuchtet ihr schon Sprengstoff«, sagte Derek.
»Damit wären wir natürlich schneller. Aber wir kämen so oder so da rein. Wir könnten den Ausgang sogar in eins der Häuser drinnen legen, wenn wir einen Verbündeten hätten. Das wäre am besten. So bekämen die Wachen nichts mit, und wir könnten eine Streitmacht reinschicken.«
»Das löst unsere Probleme nicht.« Es kam Gaia so vor, als würde sie diese Worte schon zum hundertsten Mal sagen. »Wir müssen die Enklave dazu bringen, uns zu vertrauen und uns auch langfristig mit Wasser zu versorgen. Ein Tunnel unter der Mauer ist keine Lösung. Das könnte sogar nach hinten losgehen.«
»Ich sag’s ja nur«, verteidigte sich Bill. »Tu meinen Vorschlag bitte nicht so schnell ab. Wenn wir aus irgendeinem Grund eine größere Gruppe von Leuten schnell und unbemerkt nach drinnen bringen müssten, wäre das der Weg.«
»Dafür bräuchten wir aber mehr als einen Tunnel.«
»Dann graben wir eben mehrere.«
»Wir bereiten hier keinen Großangriff vor.«
»Irgendwas müssen wir aber tun – wir können nicht einfach rumsitzen und darauf warten, was der Protektor als Nächstes tut. Vlatir wäre das klar.«
»Wir haben eine ganze Stadt zu bauen«, erinnerte ihn Gaia. »Reicht das nicht für den Moment?«
»Ohne Wasser bringt uns diese Stadt nicht viel.«
Darauf lief es so oder so hinaus. Die Gruppe murrte zustimmend.
»Vielleicht arbeitet Vlatir ja bereits mit seinem Vater an einer Lösung«, sagte Will, und die anderen verstummten. »Das könnte doch sein?«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Gaia unbehaglich. »Er und sein Vater sind nicht gerade beste Freunde.«
»Was tut er dann da drin?«, fragte Bill.
Sie wollte es eigentlich nicht sagen, doch beim Blick in die Gesichter ihrer Freunde wurde ihr klar, dass sie es musste. Ihrer aller Zukunft stand auf dem Spiel. »Ich befürchte, er hat vor, die Wasser- und Stromversorgung der Enklave zu sabotieren.«
Auf einmal klang das Gemurmel fast wie Zustimmung.
»Du weißt es aber nicht sicher?«, vergewisserte sich Bill.
Gaia errötete. »Nein, ich weiß es nicht sicher.«
Bill lachte höhnisch. »Das nennt man dann wohl Führungsstärke.«
Gaia erhob sich – sie hatte genug. »Wenn jemand anderes New Sylum übernehmen möchte, nur zu!«
Die anderen beeilten sich, sie zu beschwichtigen, und Bill entschuldigte sich zähneknirschend. Gaia aber reichte es wirklich. Sie war es leid, den Leuten Vernunft zu predigen und in der Pflicht zu sein, jeden, aber auch wirklich jeden zufriedenzustellen. Schlimmer noch war allerdings, dass Bill mit seiner Bemerkung gar nicht mal unrecht hatte: Da Leon ein Bürger New Sylums war, trug sie die Verantwortung, wenn er sich auf eine geheime Mission begab, mit der er sich und den Rest der Siedlung in Gefahr brachte. Eine bessere Matrarch hätte ihn zurückgehalten.
Eine bessere Matrarch würde das auch jetzt noch versuchen.
Sie schaute in Richtung des dunklen Hügels hinter der Mauer, wo das ferne Licht der Straßenbeleuchtung zwischen den Bäumen hindurchschien. Wenn sich der Protektor doch nur fair verhalten hätte. Wenn sie nur einen Weg sähe, ihn zu überzeugen.
Wenn sie doch nur wüsste, dass es Leon gut ging.
»Es spricht nichts dagegen, beides zu tun«, sagte Peter. »Wir zapfen rund um die Uhr weiter Wasser ab, um unsere Vorräte aufzustocken. Bill kann mit seinem Tunnel beginnen. Dadurch bieten sich uns später vielleicht mehr Alternativen. Und die Matrarch kann weiter mit dem Protektor verhandeln.«
»Das kann auch ich übernehmen«, sagte Will. »Die Matrarch hat hier schon genug, worum sie sich kümmern muss.«
Doch Gaia schüttelte den Kopf. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Ihre Finger schlossen sich um die Botschaft des Protektors in ihrer Tasche. »Ich werde zu ihm gehen. Das ist doch, was er möchte.«
»Er muss aber nicht immer kriegen, was er möchte«, sagte Will. »New Sylum ist deine Verantwortung. Du wirst hier draußen gebraucht.«
Gaia ließ den Blick über die Gesichter schweifen und spürte die sture Entschlossenheit ihrer Freunde. Sie wusste ihre Besorgnis zu schätzen, aber wenn man sie nicht gehen ließ, musste sie eben einen anderen Weg finden. Leider war sie eine schlechte Lügnerin. Am besten fasste sie sich kurz und schaute Will dabei nicht in die Augen.
»Gut«, sagte sie deshalb nur. »Ich bleibe hier. Will kann unser Botschafter sein.«
Der Anblick ihrer kleinen Schwester, die friedlich neben Josephine und Junie schlief, war so einladend, dass Gaia nicht widerstehen konnte und unter die Plane schlüpfte, um sich eine Minute an sie zu kuscheln. Doch kaum, dass sie die Decke hochgezogen und ihr Kopf das Kissen berührt hatte, war sie vor lauter Erschöpfung auch schon eingeschlafen. Es mussten Stunden vergangen sein, ehe sie mit einem Gefühl der Panik wieder hochschoss. Es war immer noch dunkel, und das Lagerfeuer fast erloschen, sodass sie ihre Uhr nicht lesen konnte. Vorsichtig kroch sie unter der Plane hervor und machte sich auf den Weg.
Sie folgte dem dunklen Pfad in Richtung ihres Elternhauses. Malachai begleitete sie, so unauffällig es dem großen Mann möglich war, und seine Treue beeindruckte sie.
Im Haus scharten sich Myrna und mehrere Besucher um das Etagenbett, in dem unten ein Kind und oben ein Jugendlicher lagen, durch einen Katheter miteinander verbunden. Gaia war mitten in eine Bluttransfusion geplatzt.
Sie blieb aber nur lange genug, um ihre Tasche zu packen. Unter der Spüle fand sie noch ein paar Kerzen und Streichhölzer. Dann schlüpfte sie zur Hintertür hinaus und durchquerte den stillen Kräutergarten, ging vorbei an den Wäscheleinen zum dunklen Schatten des nächtlichen Hühnerstalls, aus dem leises Gegacker drang. Vorsichtig tastete sie sich an der Holzwand entlang und spähte hinter den Stall, wo ihr Vater vor langer Zeit das Holz ihres alten Klohäuschens gestapelt hatte.
Dort, tief in dem durcheinandergewürfelten, halbverrotteten Bretterstapel glomm ein schwaches Licht. Sie bückte sich, schob ein Brett beiseite und fand ein Dutzend heller Honigpilze. Sie hatte den Geschmack nie gemocht; aber die Art, wie die Pilze nachts geheimnisvoll leuchteten, hatte sie immer fasziniert. Es waren nicht so viele, wie sie in Erinnerung hatte, und sie wollte auch nicht alle pflücken, also nahm sie nur etwa die Hälfte mit und verstaute sie sorgsam in ihrer Tasche.
Dann blickte sie zum Haus mit seinen von Kerzen erhellten Fenstern und hielt nach Malachai und den anderen Ausschau. Es wäre besser, die Exkrims abzuschütteln. So leise wie möglich schlich sich Gaia erst in den angrenzenden Hof, dann in den nächsten und immer weiter, bis sie endlich einen schmalen Pfad erreichte, der einen Bogen um den dritten westlichen Sektor beschrieb und dabei den Weg zum Wasserhahn kreuzte. Dort waren die Leute immer noch damit beschäftigt, bei Fackelschein Wasserfässer abzufüllen. Gaia aber verschwand in die engen, staubigen Straßen von Wharfton.
Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie zuletzt allein in der Finsternis durch diese Straßen gelaufen war, doch sie kannte noch jede einzelne Ecke. Schließlich hatte sie häufig genug bei Tag wie bei Nacht Babys zum Südtor gebracht und fühlte sich zwischen den dunklen Holz- und Steingebäuden zu Hause. Ein bisschen war es, wie alleine Verstecken zu spielen – doch sie hatte auch ein Ziel.
Wenn Leon, Angie und Jack in die Enklave gelangen konnten, dann konnte sie das auch.
Sie vermied den Marktplatz, wo noch immer Betrieb herrschte. Aus Pegs Taverne drang der ferne Klang des Klaviers. Sie lief durch die Straße des zweiten östlichen Sektors, in der Emily und Kyle gewohnt hatten, und dachte zurück an den Abend, ehe sie ins Ödland geflohen war. Dann ging sie weiter nach Osten, in Richtung der Felder. Das Getreide wirkte fremdartig und grau in dem blassen Licht des Mondes, der gerade hinter den Wolkenschleiern hervortrat.
Sie war sich nicht sicher, ob sie verfolgt wurde, doch hinter ihr waren Leute auf der Straße, also beschleunigte sie ihre Schritte und eilte parallel zur Mauer die Flanke des großen Hügels entlang. Die Spiegelungen des Mondlichts auf den Bewässerungsgräben zauberten ein weitverzweigtes Netz auf die Felder, das zur Mauer hin langsam anstieg und seinen Ursprung vor einem großen Rohr hatte, das aus dem Hang herausragte.
Hier in der Nähe hatte man Angie gesehen. Das hieß, sie musste jetzt nur noch einen Hinweis darauf finden, wie das Mädchen in die Enklave gelangt war.
Der Hang wurde immer steiler, je näher sie dem Rohr kam. Gaia war sich nicht sicher, worauf sie gehofft hatte, aber selbst mit Hilfe einer Kerze fand sie keinen Einlass oder Spalt zum Klettern.
Sie stützte sich auf das kühle Rohr und überlegte. Dann stieg sie wieder ein Stückchen nach unten, wo sich das Rohr in den Hauptwassergraben öffnete, duckte sich und spähte im Licht ihrer Kerze hinein. Das Innere des Rohrs war noch feucht; vor allem aber stellte sie fest, dass es eng war, kaum einen Meter im Durchmesser.
Da können sie doch nicht ernsthaft reingegangen sein, dachte sie. Man hatte kaum genug Platz, um zu kriechen.
Was aber, wenn doch?
Gaias Herz begann hektisch zu klopfen. Jederzeit könnte Wasser durch dieses Rohr geleitet werden – dann wäre sie da drinnen gefangen. Und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin genau es eigentlich führte. Sie wusste nicht einmal mit Sicherheit, dass Leon, Angie und Jack wirklich diesen Weg genommen hatten. Es schien unmöglich zu sein.
Da fiel ihr Blick auf etwas neben ihrem Fuß, am Rand des Grabens. Sie bückte sich danach, doch noch bevor sich ihre Finger darum schlossen, wusste sie, was sie gefunden hatte: Angies Schutzbrille.
Du weißt genau, dass du’s machen wirst, dachte sie. Dennoch stieß sie einen leisen Laut der Angst aus – nur weil sie es tun würde, hieß das noch lange nicht, dass sie keine Angst davor hatte.
Da hörte sie ein Geräusch hinter sich und sah Malachai und drei weitere Männer, die sich rasch näherten. Er war klug genug, sie nicht zu rufen und dadurch die Wachen auf der Mauer zu alarmieren – doch er würde sie auch bestimmt nicht in das Rohr kriechen lassen, wenn er sie rechtzeitig erreichte. Zum Reden hatte sie jetzt aber keine Zeit mehr.
Die Kerze weit von sich gestreckt kletterte Gaia in das Rohr. Einmal musste sie noch innehalten, um den Gurt ihrer Tasche zu richten, dann kroch sie tiefer in den aufwärts führenden Betonzylinder.
»Komm zurück!«, hörte sie Malachais Stimme hinter sich. Dann ein Ächzen und Grunzen.
»Ich komme bald wieder«, rief sie zurück. »Aber ich muss Leon finden! Chardo Will kann mich vertreten.«
»Du wirst Leon nie finden! Mach keinen Fehler. Du könntest sterben da drin!«
»Ich muss es versuchen.«
Wieder hörte sie das Ächzen hinter sich.
Sie fand ihren Rhythmus und kroch auf den Knien und ihrer freien Hand zügig weiter. Die Innenwand des Rohrs war hell und glatt und wurde nur gelegentlich von Nähten durchbrochen, die im Kerzenschein feucht schimmerten. Die Luft war dünn und unbewegt, sodass die Hitze und der Rauch der Kerze Gaia dicht umhüllten.
Noch einmal hörte sie Geräusche hinter sich, dann verebbten sie. Meter für Meter kämpfte sich Gaia voran. Für Leon oder Jack musste es hier noch viel enger gewesen sein. Sie sollte sich beeilen. Je länger sie in dem Rohr war, desto größer war die Chance, vom Wasser überrascht zu werden – das wäre ihr sicherer Tod.
Da hörte sie ein leises Geräusch vor sich und hielt an. Die Flamme ihrer Kerze brannte senkrecht und ruhig. Sie lauschte angestrengt, doch alles, was sie in der bedrückenden Stille hörte, war ihr eigener Atem. Dann wieder – irgendetwas tat sich da vorne. Sie kroch schneller, und dann hörte sie voller Angst das Gurgeln von Wasser. Ein Schwall kalter Luft schlug ihr entgegen.
»Nicht!«, rief sie. Sie ließ die Kerze fallen und hastete blind auf allen vieren durch das albtraumhafte Nichts. Die Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Ihr Arm verfing sich im Gurt ihrer Tasche, und in ihrer Panik streifte sie sie ab. Es wurde noch kälter, und das Rohr immer steiler.
Wie wild warf sie sich voran, fast verrückt vor Angst, dann konnte sie vor sich einen grauen Kreis im Dunkeln erkennen.
»Nicht!«, schrie sie wieder.
Das Geräusch kam näher. Sie kroch, so schnell sie konnte, den Blick gebannt auf die graue Fläche vor sich gerichtet. Da huschte auf einmal etwas kleines Schwarzes auf sie zu. Die Maus rannte an ihr vorbei, das Wasser dicht auf den Fersen – und im nächsten Moment kroch Gaia knietief durch eiskaltes Wasser.