10 Sally Row
»Lass mich bitte erst nach Hause. In Ordnung?«
Die nächtlichen Gerüche Wharftons, eine Mischung aus Gräsern, Hühnern und der trockenen Erde selbst, ließen sie ihre Eltern nur noch mehr vermissen. Der Mond war schmal und blass und gab gerade genug Licht, um darin den Pfad zu erkennen. Aus alter Gewohnheit suchte sie nach dem Orion, konnte ihn aber nicht finden. Leons Schritte hinter ihr waren wie ein Flüstern im Dunkeln, und sie wusste, dass irgendwo dort draußen die Exkrims über sie wachten. Sie tätschelte Maya, die sich an ihre Schulter gekuschelt hatte, den Rücken.
Die Fenster waren von Kerzenschein erhellt. Einen Augenblick vergaß sie die qualvollen Erfahrungen in der Enklave und das ganze letzte Jahr und war nur noch Gaia Stone, die Hebamme, die nach Hause kam und sich freute, ihre Eltern zu sehen. Seit dem Tod der beiden war sie nicht mehr hier gewesen; und obwohl sie wusste, dass sie nie wieder wie früher vor dem Feuer sitzen und Schach spielen würden, war ihre Präsenz, als sie die Stufen zur Veranda hochging und nach dem Türknauf griff, so stark, dass sie ihre Stimmen auf der anderen Seite der Tür zu hören glaubte und die Augen schloss.
»Bist du das, Kleine?«, fragte ihr Vater.
»Sie hat sicher Hunger. Verstell ja keine Figuren, während ich weg bin«, sagte ihre Mutter. »Glaub mir, ich merke das!«
Gaias Finger schlossen sich um den kalten Knauf, doch sie konnte keinen Schritt mehr tun.
»Was ist?«, fragte Leon leise.
Sie schaute im schwachen Licht zu ihm auf, und die Trauer wurde nur noch schlimmer. Hier, an diesem Ort, war sie zuletzt mit ihrer Familie vereint gewesen; und hier hatte sie auch Leon das erste Mal getroffen. Er hatte ihre Eltern verhaftet – und nun war sie im Begriff, ihn zu heiraten. Wie war das möglich? Mit plötzlicher Klarheit erkannte sie, dass ihre Eltern versucht hätten, sie vor ihm zu beschützen, und nicht nur, weil er der Sohn des Protektors war. Sie hätten sich jemand Warmherzigeren und weniger Verschlossenen für sie gewünscht, jemanden wie sie selbst. Sie hätten Leon nicht verstanden.
»Meine Eltern«, sagte sie nur. Ich habe mich von ihnen entfernt. Hin zu dir.
»Setz dich«, sagte er sanft. »Lass uns hier draußen bleiben, wo wir ungestört sind. Nur ein wenig. Soll ich Maya mal nehmen?«
Sie schüttelte den Kopf und nahm neben ihm auf der obersten Stufe Platz. Er stützte ihren Rücken mit einer Hand, nahm sie aber nicht in den Arm. Sie legte Maya in ihren Schoß und breitete sorgsam die Decke über sie.
»Ich kann schlecht das Richtige sagen, wenn ich nicht weiß, was dir durch den Kopf geht«, sagte er schließlich.
Sie lachte traurig. »Es ist ganz schrecklich. Ich glaube, meine Eltern hätten dich nicht gemocht.«
»Autsch.«
»Ich weiß.«
»Du irrst dich aber«, sagte Leon. »Ich hätte sie schon von mir überzeugt – sie hätten gesehen, wie glücklich du mit mir bist.«
»Du hast sie verhaftet.«
»Stimmt – aber ich war ein anderer, bevor ich dich kennenlernte.«
»Jetzt würdest du so was doch nicht mehr machen, oder?«
»Ich würde deiner Mutter Blumen bringen und deinem Vater mit den Näharbeiten helfen.«
Sie lachte wieder. Es ging ihr schon besser. »Er wollte nie Hilfe beim Nähen.«
»Ich könnte ihm also nicht mal das Nadelkissen reichen?«
Sie lächelte. »Nein.«
»Na, dann hast du vielleicht recht – klingt hoffnungslos.«
Sie rutschte etwas näher, bis sie mit dem Knie gegen sein Bein stieß.
»Besser?«, fragte er zärtlich.
»Dieser Tag war einfach ein bisschen viel.«
»Er kann nicht viel schlimmer gewesen sein als das, was ich mir ausgemalt habe. Evelyn hat mir erzählt, dass sie dich direkt zum Gefängnis gebracht haben.«
Sie nickte geistesabwesend und ließ den Blick über die dunklen Häuser der Nachbarschaft schweifen. »Sie haben mir Blut abgenommen. Mehrere Röhrchen. Angeblich besitze ich ein Gen gegen Hämophilie und bin Blutgruppe Null negativ.«
»Welcher Arzt war das?«
»Sein Name war Hickory.«
»Der hat früher mit Persephone Frank gearbeitet«, überlegte Leon. »Ansonsten kann ich nicht viel über ihn sagen. Hat er sonst noch was gemacht?«
»Er hat mir irgendeine Spritze gegeben, ich weiß nicht, was es war. Und er hat mir Herz und Lunge abgehört.«
»War das in einem Behandlungszimmer? Und alles freiwillig?«
Gaia wollte nicht mehr darüber reden. Auch wenn es keinen Grund dafür gab, schämte sie sich doch für ihre Angst in Zelle V. Sie senkte den Kopf und konzentrierte sich auf Maya, die ihre kleinen Finger unschuldig zusammengerollt hatte. »Sie haben mich gefesselt und geknebelt«, sagte sie. »Dann haben sie mich in Zelle V gesteckt und dort allein gelassen.« Sie atmete tief durch. Ich bin zusammengebrochen.
Leon war sehr still geworden.
»Ich darf jetzt keine Angst haben«, sagte sie. »Die Leute brauchen mich. Ich darf keine Angst haben.«
»Iris«, sagte er.
Sie hob den Blick. Sein Gesicht war im fahlen Mondlicht wie aus Stein gehauen.
»Niemand hat mich auch nur angefasst«, fuhr sie fort. »Aber alles, woran ich denken konnte, warst du und was sie dir angetan haben. Ich hatte noch nie in meinem Leben solche Angst. Ich habe total die Kontrolle verloren, nur durch meine eigene Einbildung. Iris liebt solche kranken Spiele, nicht wahr? Wieso tut er so was?«
»Er ist einfach so«, sagte Leon. »Er weiß so was einfach. Es ist, als verfügte er über das perfekte Einfühlungsvermögen, nur dass er es dazu benutzt, Leuten wehzutun. Mit mir hat er das auch gemacht. Als sie mich folterten – damals, als du gerade ins Ödland geflohen warst –, hat er behauptet, sie hätten dich gefangen genommen. Er hat gesagt, sie hätten dich in einer anderen Zelle, und er könnte mit dir tun, was immer er wollte. Ich wusste nicht, dass er log.«
»Das hast du mir nie gesagt.«
»Es war furchtbar. Ich habe es kaum ausgehalten. Und da wusste ich nicht mal, dass ich dich liebe.« Er zog sie an sich und schloss sie und Maya in die Arme. »Weißt du noch, wie du sagtest, es gäbe Dinge, über die wir nicht reden? Genau das will ich nicht mehr. Bitte schließ mich nicht aus, egal, was es ist. Nichts könnte schlimmer sein, als wenn du mir nicht sagst, was dich beschäftigt.«
In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie ihm nicht nur vertrauen konnte – er brauchte ihr Vertrauen. Er wünschte sich das: vertrauenswürdig zu sein. Sie fühlte, wie sich in ihr etwas, das bisher verschlossen gewesen war, für ihn öffnete. So war es also, Leon wirklich nahe zu sein, ihn einzulassen. Sie studierte die Dunkelheit in seinen Augen, und als er ihren Blick erwiderte, umspielte ein fragender Ausdruck seine Lippen. Er legte ihr die warme Hand auf die Wange.
»Verrückt, was ich für dich empfinde«, sagte er.
Sie lachte wehmütig. »Ich wünschte, wir könnten einfach irgendwo hin, bloß du und ich und Maya. Einfach alles zurücklassen.«
»Dafür ist es jetzt zu spät, selbst wenn es dir ernst wäre.« Er lockerte seine Umarmung etwas, sodass sie sich bequemer an ihn schmiegen konnte.
Eine Grille zirpte. Nach der überbordenden Geräuschkulisse New Sylums war es ein seltsam dünner, trockener Klang.
»Ich vermisse die Glühwürmchen«, sagte sie. »Weißt du noch? Es scheint so lange her zu sein, aber ich kann sie beinahe vor mir sehen.«
»Das war unglaublich.«
»Damals wolltest du nicht bei mir sein.« Sie erinnerte sich noch gut, wie er unter dem Vordach der Veranda geblieben war, während sie und Maya sich auf der nächtlichen Wiese im hohen Gras im Kreis gedreht hatten, umgeben von tausend kleinen, blinkenden Lichtern.
»Ich konnte nicht«, sagte er.
»Wieso nicht? Warst du immer noch wütend?«
»Wütend. Einsam. Ich hoffte immer noch, ich käme irgendwie über dich hinweg.«
»Was für ein Fehler das doch gewesen wäre«, sagte sie.
Er streichelte ihr den Rücken.
»Schon komisch, oder?«, überlegte er. »Selbst damals, als wir kaum miteinander geredet haben, musste ich ständig in deiner Nähe sein. Ich habe versucht, mir ein Leben ohne dich vorzustellen, aber nichts ergab mehr einen Sinn. Ich bin mir nicht sicher, was ich getan hätte, wenn du nicht irgendwann erkannt hättest, dass wir zusammengehören. Wahrscheinlich hätte ich versucht, Sylum zu vernichten.«
»Das sagst du doch nur so.«
»Ich hätte es probiert«, bekräftigte er. »Und vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen. Wir hätten den Sumpf nie verlassen, du hättest Peter geheiratet …«
»Nein.«
»Aber ja doch – oder Will. Einen dieser Chardos eben.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber sicher«, sagte er überzeugt, als hätte er sich sehr lange Gedanken darüber gemacht.
Sie wollte sich wirklich nicht vorstellen, wie es mit Peter gewesen wäre. Oder mit Will. Sie wollte aber auch nicht daran denken, dass sie in Pegs Taverne gerade neue Freundschaften schlossen.
»Weißt du, dein Kürbisbrot und deine raffinierte Art haben mich überzeugt«, sagte sie.
Er lachte. »Sehr raffiniert war ich nun nicht gerade.«
»Und wie. Du hast an dem Abend auf mich gewartet. Du hattest nicht mal ein Hemd an.«
»Vielleicht hatte ich so meine Hintergedanken«, gab er zu und rieb sich das bärtige Kinn. »Auf jeden Fall wollte ich mich nicht kampflos geschlagen geben.«
Sie lächelte. »Es hat funktioniert. Wir sind jetzt hier.« Sie holte tief Luft und versuchte, beim Gedanken an all das, was dieses ›hier‹ mit einschloss, nicht wieder nervös zu werden. »War es schön, Evelyn wiederzusehen?«
»Ja. Sie ist einfach unglaublich. Ich wünschte, ich könnte mehr Zeit mit ihr verbringen, aber ich sehe momentan kaum die Möglichkeit dazu.« Er schüttelte den Kopf. »An meine neue kleine Schwester muss ich mich auch erst noch gewöhnen. Ich wüsste gern, ob ich mehr wie Derek wäre, wenn ich mit ihm als Vater aufgewachsen wäre.«
»Aus dir ist auch so ein ganz anständiger Kerl geworden«, sagte Gaia. »Davon abgesehen wärst du vielleicht gestorben, wenn du vor der Mauer aufgewachsen wärst – so wie deine Schwestern oder deine Mutter.«
Er lächelte. »Ich stelle mir lieber vor, dass ich durchgekommen wäre und dich noch früher kennengelernt hätte.«
»Ich wünschte nur, der Protektor sähe das auch so.«
Er versteifte sich. »Hat er etwas über mich gesagt?«
Sie suchte nach Worten, die keine schlechten Erinnerungen wachrufen würden, doch es führte kein Weg an der Wahrheit vorbei. »Er hat deine Schwester Fiona erwähnt«, gab sie zu. »Wie kommt es nur, dass er nicht weiß, wie du wirklich bist?«
»Gaia«, sagte er gedehnt und nahm seinen Arm weg. »Darüber willst du jetzt nichts hören.«
»Ich werde schließlich mit ihm verhandeln müssen«, sagte sie. »Da sollte ich wissen, wie es zwischen dir und ihm aussieht. Du hast gerade gesagt, ich könnte dir alles anvertrauen – das gilt auch umgekehrt.«
»Ich kann das nicht so einfach erklären«, sagte er gepresst.
»Versuch es bitte.«
Er rang die Hände zwischen den Knien. »Ich weiß auch nicht. Aber vielleicht ist das ein gutes Beispiel: Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, kam der alte Lehrer meines Vaters zu Besuch. Er hatte so ein kleines Geduldsspiel dabei, und auf einmal war es verschwunden. Mein Vater wurde sehr wütend. Wahrscheinlich war er beschämt. Schließlich sollten wir uns von unserer besten Seite zeigen, und es war ziemlich offensichtlich, dass eines seiner Kinder das Spiel gestohlen hatte.«
»Hat er dich verdächtigt?«
Er schüttelte den Kopf. »Genau davor hatte ich Angst, aber dann haben sie die Kiste bei Rafaels Sachen gefunden. Er war zwar erst sechs, aber alt genug, es besser zu wissen – und er hatte gelogen. Da platzte meinem Vater der Kragen. Er schickte mich weg. Ich wusste aber, wenn ich jetzt das Zimmer verließ, würde er Rafael schlagen, darum habe ich mich geweigert. Ich dachte, ich könnte Rafael irgendwie beschützen.«
Er stockte. Sie stellte sich die beiden Brüder vor, der kleinere schutzsuchend hinter dem anderen. Leon strich sich das Haar zurück, dann beugte er sich vor und legte sorgsam die Fingerspitzen zusammen.
»Mein Vater hat ihn nicht geschlagen«, sagte er ruhig. »Er schrie bloß und schimpfte mit ihm. Zwar drohte er ihm Prügel an, doch er schlug nicht zu. Er krümmte ihm kein einziges Haar.«
Sie schaute ihn abwartend an. »Das ist doch gut, oder?«
»Natürlich.« Er richtete den Blick zum nächtlichen Himmel. »Mein Vater hat Rafael oder meine Schwestern nie geschlagen. Immer nur mich. Verstehst du? Bis zu dieser Nacht dachte ich, alle Väter würden ihre Söhne schlagen.« Man hörte ihm noch seinen alten Schmerz, seine alte Verwirrung an. »Ich dachte, was er mit mir tat, wäre normal.«
Gaia drückte Maya schützend an sich. »Hat er dich denn oft geschlagen?«, fragte sie leise.
»Nein. Manchmal ist zwei, drei Monate gar nichts passiert, dann schlug er mich zweimal die Woche. Er war unberechenbar. Einmal habe ich seine Lieblingsuhr kaputt gemacht, und er hat es kaum zur Kenntnis genommen. Ein anderes Mal habe ich beim Essen gelacht und mich mit Milch bekleckert, und er hat mich seinen Gürtel spüren lassen. Das war wirklich schlimm.«
»Es tut mir so schrecklich leid«, sagte Gaia. »Hat Genevieve denn nicht versucht, dich zu beschützen?«
»Ich glaube, ihr verdanke ich wohl die langen Phasen, in denen nichts passiert ist. Aber was hätte sie auch tun sollen? Es irgendwem sagen?« Er stützte sich auf seine Hand und lehnte sich wieder etwas zurück. »Keine Ahnung, wieso ich überhaupt darüber rede. Ich kenne genug andere Kinder, denen es nicht besser ging.«
»Deshalb ist es noch lange nicht richtig«, sagte Gaia.
Er zuckte die Achseln. »Man gewöhnt sich dran.«
Gaia wusste aber, dass das nicht stimmte. Ihre Eltern waren immer liebevoll zu ihr gewesen, selbst wenn sie sie für etwas zur Rechenschaft zogen. »Das wirklich Schlimme daran ist vor allem die Verachtung, die sie einem damit zeigen.«
»Verachtung«, sagte Leon nachdenklich. »Ja, ich glaube, das trifft es.«
»Meinst du, es hatte damit zu tun, dass du vorgebracht warst?«
»Wahrscheinlich schon. Mich zu adoptieren war die Idee seiner ersten Frau gewesen, nicht seine. Daraus hat er nie einen Hehl gemacht. Er sagte immer, ich sollte in der Lage sein, über meine eigene Natur hinauszuwachsen.«
»Als ob du von Grund auf schlecht wärst? Das ist schlimm.«
»Nicht so sehr schlecht, als einfach … weniger wert. Und irgendwie hatte er ja sogar recht damit.« Er schien sich etwas zu entspannen. »Ich war ein viel schlimmerer Lügner als Rafael. Ich testete gern meine Grenzen aus – und es war die Sache immer wert. Ich war schlecht in der Schule und beim Sport. Ich konnte zwar ganz gut laufen, gab mir aber keine Mühe, wenn er zusah. Auf die Art machte es mir nichts aus, wenn er nicht auftauchte. Das Einzige, was ich gut hinbekam, war die Zwillinge zum Lachen zu bringen. Ich konnte stundenlang mit ihnen spielen. Es war toll.«
Sie lächelte und dachte daran, wie gut er sich mit Maya verstand. »Kann ich mir vorstellen.« Die Mondsichel verschwand hinter einer langsam dahintreibenden Wolke, und es wurde noch eine Spur dunkler. »Hieß deine erste Adoptivmutter Fanny?«
»Ja, Fanny Grey. Wieso?«
Sie dachte an die Worte des Protektors – dass es Fanny das Herz brechen würde, dass Leon nun einen anderen Nachnamen trug. Ihm das jetzt zu erzählen, wäre aber kaum hilfreich. »Weil du dann ja ihren Namen angenommen hast.«
»Ja, nachdem er mich verstieß.« Er scharrte mit dem Stiefel auf der Treppe. »Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich nicht sein größter Fehlschlag war. Ich glaube, er wollte seine Vorurteile gegen die Menschen aus Wharfton abbauen, indem er einen Jungen von draußen großzog. Dann stellte sich heraus, dass er mich nicht leiden konnte, und da war ich nun, inmitten seiner Familie, und machte alles kaputt.« Er wischte imaginären Staub von seinem Knie. »Wem konnte er denn die Schuld daran geben, wenn nicht sich selbst?«
Sie spann den Gedanken noch etwas weiter. »Und dann das Unglück mit Fiona – ich glaube, ich verstehe jetzt.« Natürlich hatte der Protektor nicht sich, sondern Leon die Schuld gegeben. Er hatte jahrelang nur das Schlechte an ihm sehen wollen, und Fionas Tod war der letzte Beweis für ihn gewesen, wie bösartig Leon war.
Auf einmal verstand sie auch die Bemerkung, die der Protektor Genevieve gegenüber gemacht hatte: »Er hatte seine Finger an ihr.« Die Vorstellung, das nun auch Evelyn Leon ausgeliefert war, hatte ihm regelrecht Schmerzen bereitet. Er hatte Leon immer schon das Schlimmste zugetraut, und damit hatte Leon gespielt.
Gaia schauderte.
»Es gibt so vieles, was ich gerne ungeschehen machen würde«, sagte Leon leise. »Ich habe immer noch das Gefühl, dass es meine Schuld ist, dass Fiona sich umgebracht hat. Vermutlich werde ich dieses Gefühl niemals los, aber wenigstens ist es mit der Zeit etwas weniger geworden. Ich weiß jetzt, dass ich alles probiert habe – ich war ja selbst nur ein Kind, und ein ziemlich selbstsüchtiges noch dazu. Ich hatte ja keine Ahnung, was sie tun würde.«
»Du bist der netteste Mensch, den ich kenne.«
Er lachte kurz auf. »Das würde ich jetzt nicht sagen.«
»Zu mir schon.« Und das, erkannte sie, war der Kern dessen, was Leon ausmachte: Sie konnte ihm zwar blind vertrauen und sicher sein, dass er sie nie verraten würde. Aber sie konnte sich nicht darauf verlassen, wie er sich gegenüber demjenigen verhielt, der ihn verraten oder jemandem wehgetan hatte, der ihm teuer war.
»Gaia, du darfst meinen Vater niemals unterschätzen. Er kennt keine Skrupel, und daran wird sich nie etwas ändern. Darüber musst du dir im Klaren sein. Das hier ist nicht mehr Sylum.«
»Ich weiß«, sagte sie und fasste sich vorsichtig ans Ohr. »Aber ich muss auch an New Sylum denken. Wir können nicht einfach alles in die Luft jagen. Wir müssen Vertrauen schaffen und eine langfristige Allianz mit deinem Vater schmieden. Und das ist viel, viel schwieriger als alles andere.«
»Du hörst mir nicht zu. Wir müssen in der Lage sein, einen Gegenangriff zu starten. Was, wenn er versucht, dich wieder festnehmen oder ermorden zu lassen? Damit musst du einfach rechnen – und es liegt in deiner Verantwortung, dich darauf vorzubereiten.«
Er wird mich schon nicht ermorden lassen, dachte sie. Denn er will noch etwas von mir. Sie musste an Bruder Iris und sein Ferkel denken, und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihr etwas entging, dass sie etwas Naheliegendes übersah.
»Wie würdest du dich denn vorbereiten?«, fragte sie.
»Ich würde mit einem Team in die Tunnel vordringen und die Strom- und die Wasserversorgung sabotieren.«
»Sabotieren? Wie?«
»Mit Sprengstoff und einem Zeitzünder.«
»Und wie würdest du das anstellen?«
Er zuckte die Achseln. »Ich würde ein paar Freunde um einen Gefallen bitten.«
Da begriff sie, dass er das alles bereits geplant hatte. »Du klingst ja wie ein Terrorist.«
Er zögerte. »Nein. Es wäre nur eine Rückversicherung für den Fall, dass wir uns verteidigen müssen. All das würde erst mal niemanden in Gefahr bringen. Aber wir müssen vorbereitet sein – der Protektor würde keinen Moment damit zögern, uns etwas anzutun.«
»So führen wir aber keine Verhandlungen.«
»Du brauchst ja noch keinen Angriff zu befehlen, doch wir müssen wenigstens die Möglichkeit dazu haben. Der Protektor wird reagieren, wenn wir seine Ressourcen gefährden. Dasselbe hat er ja mit Wharfton gemacht, als er den Leuten das Wasser abstellte. Bitte sei jetzt nicht naiv. Bis du bereit bist Gewalt anzuwenden, wird es zu spät sein, wenn wir uns jetzt nicht vorbereiten.«
»Du verstehst mich nicht. Denk daran – als du Evelyn scheinbar bedroht hast, ist dein Vater beinahe durchgedreht. Ich war dabei. Ihm zu drohen, macht alles nur noch schlimmer.«
»Du solltest aber auch daran denken, dass meine Drohung dich befreit hat, oder nicht?«
Da hatte er recht. Nachdenklich strich sich Gaia die Haare aus der Stirn. »Morgen«, beschloss sie. »Reden wir morgen darüber.«
»Da könnte es aber schon zu spät sein.«
»Es sind nur noch ein paar Stunden. Das macht doch keinen Unterschied.«
»Ich gehe jetzt zu Peter und bespreche alles mit ihm.«
»Bitte nicht. Bleib doch bitte einfach hier bei mir. Okay?«
Sie drehte den Kopf in Richtung des Eingangs ihres Elternhauses und lauschte. Drinnen war alles ruhig, und die Fenster waren dunkel, bis auf den schwachen Schein der Glut im Kamin.
Leon entspannte sich wieder und schaute etwas weniger ernst drein. »Immerhin gibst du mir diesmal keine Befehle.« Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss. »Wo hast du denn die Beeren her?«
»Ich habe gar keine Beeren …«
»Lass mich versuchen.« Er küsste sie abermals. »Stimmt – eher Apfelkuchen. Lass mich noch mal …«
Sie grinste und erwiderte seinen Kuss, diesmal länger. »Wir sollten ins Bett«, sagte sie. »Es ist sehr spät.«
»Alles klar.«
»Bett – damit meine ich schlafen.«
Er rutschte näher und küsste sie wieder. »Aber schon gemeinsam, oder?«
»Ähem«, protestierte sie. Er hatte einen so schönen Mund. Wahrscheinlich hatte sie ihm das nie gesagt, aber es war sehr einfach, ihre Probleme zu vergessen, wenn er …
Sie löste sich von ihm. »Da drinnen sind wir aber nicht ungestört.«
»Hattest du nicht einen romantischen kleinen Hühnerstall hinterm Haus?«
Sie lachte. »Ich werde mit dir ganz sicher nicht in den Hühnerstall gehen.«
Er gab ihr einen letzten flüchtigen Kuss und erhob sich. Dann hielt er ihr die Hände hin. »Mich zurückzuweisen scheint dir gutzutun. Gib mir mal die Kleine.«
»Vorsicht, sie schläft. Und wir sollten wirklich leise sein.« Sie wollte Myrna, Jack oder Angie nicht wecken. Sie gab Leon ihre Schwester, dann stand sie auf und öffnete die Tür zu ihrem alten Haus.