9 Pegs Taverne

Gaia trennte sich vom Protektor und eilte durchs Südtor. Am anderen Ende der abschüssigen Straße setzte sich nun auch Evelyn in Bewegung. Leon wartete mit den Chardobrüdern und einem Dutzend Leute weiter unten neben einem Haus, das ihnen notfalls als Deckung dienen konnte vor den Schützen auf dem Wehrgang, wo ein Soldat auch gerade vernehmlich mit seinem Gewehr hantierte. Zu Gaias Linker hatten sich bewaffnete Männer und Frauen in großer Zahl auf den Dächern positioniert.

Aus der Ferne wirkte Evelyn unbeschwert und guter Dinge, als wäre sie nur auf dem Rückweg von einem Picknick. Ihre weiße Bluse hatte kurze, gewellte Ärmel, und um ihre Ellbogen hatte sie ein weißes Tuch geschlungen. Ihr weiches, blondes Haar fiel ihr auf die Schultern, und ihre Wangen waren rosig. Als sie näherkam, konnte Gaia jedoch deutlich die Anspannung auf ihren vornehmen Zügen erkennen.

Das jüngere Mädchen streckte ihr beide Hände zum Gruß hin.

»Wie wütend ist mein Vater?«

»Er ist ziemlich geladen, aber nicht deinetwegen«, sagte Gaia. »Ich kann dir gar nicht genug danken, dass du uns hilfst.«

»Nach draußen zu gehen, schien die einfachste Lösung zu sein. Außerdem konnte ich es nicht erwarten, Leon wiederzusehen. Er hat sich so verändert!«

»Hoffentlich nicht zum Schlechten.«

»Er ist sehr glücklich«, sagte Evelyn. Ihre Mimik war fließend und ausdrucksstark, ihr Lächeln wie Quecksilber. Ihre Finger fanden das rote Bändchen an Gaias Handgelenk. »Ist das süß!« Sie seufzte. »Mein Bruder wird ja noch ein richtiger Künstler. Wann gibt es einen Termin?«

»Er hat dir von unserer Verlobung erzählt?« Sie schaute die Straße hinab in seine Richtung. Leon hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und seine Ungeduld war offensichtlich.

»Vielleicht ist das jetzt nicht der beste Zeitpunkt zum Plaudern.« Evelyns Finger strichen über die Striemen an Gaias Gelenken, wo man sie gefesselt hatte, und ihr Lächeln verschwand. »Haben die Wachen dir sehr wehgetan?«

»Wir haben beschlossen, es unter Verschluss zu halten.«

Evelyn schaute betroffen drein. »Oh, Gaia. Es tut mir so leid.«

»Wir müssen das hier zu Ende bringen. Es wird nicht leicht.« Sie drehte sich kurz zu den anderen um. »Deine Eltern wissen noch nichts von Leon und mir.«

»Ernsthaft? Wieso hast du nichts gesagt?«

»Glaub mir, es war nicht der rechte Zeitpunkt. Kannst du ein Geheimnis bewahren?«

»Ich kann es versuchen, aber so was wird sich rumsprechen.« Evelyn lächelte. »Ich freue mich so, wieder eine Schwester zu haben. Ich wünschte bloß, Fiona hätte dich auch kennenlernen dürfen.«

Gaia konnte sich nur schwer vorstellen, Teil derselben Familie wie dieses Mädchen zu sein. Sie wirkte so jung, so unschuldig – doch sie war auch mutig genug gewesen, nach draußen zu gehen und ihnen zu helfen. »Ich hatte nie eine Schwester. Du wirst mir zeigen müssen, wie das geht.«

»Gerne.« Sie hob warnend den Finger. »Lass Leon bloß nie hängen. Er macht zwar einen harten Eindruck, aber brich ihm das Herz, und du bringst ihn um damit.«

»Ich weiß«, sagte Gaia und blickte wieder die Straße hinab. Peter und die anderen bedeuteten ihr, weiterzugehen, doch Leon stand völlig reglos, als lähmte es ihn, sie so völlig schutzlos zu sehen.

»Ich muss jetzt los«, sagte Evelyn.

Sie drehte sich um und setzte ihren Weg zur Enklave hinauf fort, während Gaia das letzte Stück des Hanges hinabrannte. Dann, als sie ihr Ziel fast erreicht hatte, trat Leon vor, und sie warf sich in seine Arme.

»Halt mich. Bitte. Fest«, sagte sie.

Er zog sie um die Ecke in den Schutz der Wand. Dann umschlang er sie so fest, dass sie kaum noch Luft bekam, während die Chardobrüder und die anderen Scouts Wache standen.

»Was haben sie mit dir gemacht? Haben sie dir wehgetan?« Zärtlich nahm er sie bei den Schultern und liebkoste sie, dann entdeckte er ihr verletztes Ohr. »Was ist denn das?« Er drehte ihre Hände, an deren Gelenken die Striemen deutlich zu sehen waren. Da wurde sein Blick finster und gnadenlos. »Wir brennen sie bis auf die Grundmauern nieder. Sobald es dunkel ist.«

»Jetzt klingst du genau wie er«, sagte Gaia.

Leon erstarrte. »Wie bitte?«

»Ich brauche dich jetzt, wie du wirklich bist. Also lass das bitte.«

Sie konnte sehen, wie seine Gefühle im Widerstreit lagen. »Gaia«, brachte er hervor.

Sie vergrub sich noch einmal in seiner Umarmung. Einen kurzen Moment schaffte sie es, alles andere zu vergessen. Er hob sie sanft auf die Zehenspitzen und schaukelte mit ihr hin und her.

»Du kannst da nicht mehr reingehen«, sagte er.

»Ich weiß. Zumindest nicht einfach so.«

»Überhaupt nicht«, sagte Leon und küsste sie.

»Hebt euch das für später auf«, unterbrach Peter. »Wir müssen dich hier wegbringen, Gaia. Wir sind immer noch zu ungeschützt.«

Wie zur Bestätigung löste sich da ein Schuss von der Mauer, und Gaia zuckte zusammen. Die Menschen auf den Dächern sprangen in Deckung oder gleich hinab auf die Straße. Dann gab Peter den Befehl zum Rückzug, und die Bewaffneten zerstreuten sich. Hand in Hand huschten Leon und Gaia in Schlangenlinien zwischen den Häusern durch. In manchen konnten sie Kerzenschein sehen, doch die meisten der einfachen Behausungen in Mauernähe waren verlassen oder verrammelt, als hätten ihre Bewohner zu große Angst.

Als sie den Marktplatz erreichten, sahen sie eine Menschenmenge vor dem Tvaltar. Gaia ging langsamer.

»Wir müssen weiter zum Trockensee«, drängte Will. »Erst da sind wir sicher.«

»Warte mal«, sagte Gaia. Sie sah bekannte Gesichter aus Wharfton wie aus New Sylum. »Haben alle die Botschaft des Protektors gesehen?«

»Ja«, sagte Leon.

Das hieß, ihre Leute wussten schon, dass sie in ihrem Namen versprochen hatte, sich morgen ins Register aufnehmen zu lassen. Und die Menschen aus Wharfton wussten es auch.

»Sind sie wütend auf mich?«, fragte sie Will.

»Nicht alle sind erfreut, aber wir arbeiten daran. Das Wasser ist es wert.«

»Machst du Scherze?«, mischte sich Leon ein. »Wir wollten dich nur wieder raus haben. Wir hatten ja keine Ahnung, was sie mit dir anstellen.«

»Es ging mir gut«, log sie.

Er schnaubte spöttisch. »Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Okay, es ging mir nicht gut. Aber deine Drohung mit Evelyn war auch nicht sehr hilfreich. Du hast deinen Vater gegen dich aufgebracht. Er wollte schon seine Leute schicken und uns alle umbringen – nur Genevieve konnte ihn noch umstimmen.«

»Ist mir egal«, sagte Leon. »Es hat funktioniert. Du bist hier. Wenn er jetzt angreifen will, soll er doch.«

Gaia wollte ihn gerade auf die Schwachstellen seines Plans hinweisen, als eine junge Frau ihn ansprach. »Du bist doch Dereks Junge, oder?«

»Kann ich helfen?«, fragte Leon.

Die rosigen Wangen der Frau glühten vor Aufregung. »Du kennst mich nicht«, sagte sie und schaute ihn aus kleinen, hellen Augen unter einem wilden Haarschopf hervor aufmerksam an. »Ich bin deine Stiefmutter – Dereks Vorzeigefrau. Na ja, das mit der Vorzeigbarkeit ist vielleicht übertrieben. Du kannst mich Ingrid nennen.« Sie deutete mit dem Daumen hinter sich. »Derek hat sich den Knöchel verstaucht, als er vom Dach sprang. Was für ein Blödmann. Das hat er nun davon, dass er ein Held sein wollte. Schaut doch mal in der Taverne vorbei – am besten ihr alle.« Neugierig wandte sie sich an Gaia. »Du bist Gaia Stone, richtig? Hab schon viel von dir gehört.«

Da erkannte Gaia die Frau: Sie hatte sie mit Derek auf dem Dach gesehen. Leon aber musterte sie mit höflichem, leicht gezwungenem Lächeln. Er hatte seine Stiefmutter Gaia gegenüber zwar erwähnt, aber nie getroffen. Während seines ersten kurzen Besuchs vor der Mauer hatte Derek seiner jungen Frau anscheinend noch Zeit geben wollen, sich an die Existenz eines vorgebrachten Sohns in ihrem Leben zu gewöhnen.

Gaia aber konnte es gar nicht erwarten, Leon mit seiner neuen Familie zu erleben. »Wollt ihr mitkommen?«, fragte sie Peter und Will.

»Bin dabei«, sagte Will. »Peter auch.«

Peter warf Will einen mürrischen Blick zu, nickte aber.

Da kam auch Dinah angelaufen und schloss Gaia in die Arme. »Wie geht es dir? Wir haben uns ja solche Sorgen gemacht.«

»Mir geht es gut«, sagte Gaia. »Wer passt auf Maya auf?«

»Sie ist bei Norris und Josephine am Feuer. Und Jack und Angie sind bei Myrna in deinem Elternhaus.« Dinahs Miene hellte sich auf. »Gehen wir zur Taverne?«

»Sieht so aus«, sagte Leon.

»Prima.« Mit einem Grinsen strich sie sich das Haar zurück. »Wir haben ein bisschen Spaß bitter nötig.«

Bewegung kam in die Menge, als Peter ein Dutzend Scouts als Wachen abstellte und sich die Gäste aus New Sylum Richtung Taverne bewegten. Die Tür ging auf, und ein Schwall schaler, hopfengeschwängerter Luft hieß sie willkommen. Drinnen brannten zahllose Kerzen, und gerade, als Gaia über die Schwelle trat, erklang das Klackern von Billardkugeln.

»Leon!«, rief eine Stimme von einem Tisch am Fenster. Derek Vlatir hatte seinen Fuß auf einen Schemel gelegt und trug einen kühlenden Verband um den Knöchel. Dennoch schaffte er es, sich weit genug zu erheben, um Leon herzlich die Hand zu schütteln und ihm auf den Rücken zu klopfen. »Tut gut, dich zu sehen! Komm, Junge, setz dich!« Er schenkte Gaia ein Lächeln. »Diesmal war ich keine große Hilfe, junge Dame, bedaure. Und jetzt auch noch das.«

Er nickte in Richtung seines Knöchels, doch als Gaia sich den Fuß ansehen wollte, winkte er ab.

»Erzähl mir lieber von deiner Reise und den vielen Leuten, die du mitgebracht hast.« Dann richtete er den Blick wieder auf Leon und war ganz stolzer Vater. »Setz dich, Leon.« Er zog ihm einen Stuhl heran.

»Gaia?«, fragte Leon und bot ihr den Stuhl neben sich an.

»Mach dich wenigstens nützlich, solange du hier rumsitzt«, sagte Ingrid da und lud ein Baby auf Dereks Schoß ab. Dann brachte sie einen Teller mit gekochten Karotten und Rüben, dazu einen Bratling aus Mycoproteinen und eine Tasse Joghurt. »Ich muss mich jetzt wieder um die Gäste kümmern.« Sie zog dem Baby noch das Lätzchen zurecht, dann verschwand sie hinter der Theke und zapfte Bier. Die Taverne füllte sich rasch. Dinah und Peter waren in der Mitte des Raums in ein Gespräch verwickelt, und Will hatte ein Klavier entdeckt, auf dem eine junge Frau gerade Kerzen anzündete.

Die Taverne hatte eine niedrige Decke mit dicken Holzbalken, unter der ein schmales Brett mit einer staubigen Sammlung mundgeblasener Flaschen angebracht war. Gaia war als Kind zweimal hier gewesen, und da auch nur so lange, wie es brauchte, ihren Vater zu finden und ihm auszurichten, dass er daheim erwartet wurde. Es war eigenartig, dass sie nun alt genug war, selbst Gast zu sein, doch niemand stellte es in Frage.

Sie griff unter dem Tisch nach Leons Fingern, und er schloss seine Hand um ihre.

»Das ist deine kleine Schwester«, sagte Derek zu Leon und strahlte. »Oder vielmehr Halbschwester. Ihr Name ist Sarah.«

Leon studierte das kleine Mädchen, ein pummeliges Baby von vielleicht acht Monaten, das ihn aus großen Augen anschaute und dann automatisch den Mund öffnete, als ihr Vater ihr einen Löffel Joghurt hinhielt.

Gaia konnte gar nicht genug davon kriegen, die drei zusammen zu sehen. Selbst im Sitzen wirkte Leon größer als sein Vater. Auch sein Haar war etwas dunkler. Die Gesichter miteinander zu vergleichen, war wegen Dereks Vollbart nicht ganz leicht; Dereks Augen waren warmherzig und braun, während Leons blaue Augen selbst jetzt noch eine gewisse Reserviertheit aufwiesen, die Gaias Mitgefühl weckte. Zwei Jahrzehnte lagen zwischen Leon und seinem Vater, und zwei weitere zwischen ihm und dem Baby, dennoch konnte Gaia Gemeinsamkeiten in allen drei Gesichtern entdecken

»Ist mir eine Freude«, sagte Leon und drückte dem Baby vorsichtig den Fuß. »Ich wollte dich das schon länger fragen – habe ich noch andere Geschwister?«

»Nicht mehr.« Derek reichte Gaia ein Tablett mit dunklem Brot und Käse und bedeutete ihr, zu essen. »Deine Mutter und ich hatten noch zwei Kleine nach dir, beides Mädchen, aber sie haben nicht überlebt. Ein paar Jahre später ist Mary, deine Mutter, dann am Fieber gestorben, und ich bin in den ersten östlichen Sektor gezogen, um von vorn anzufangen. Wenn es nach Ingrid geht, wirst du aber noch eine Menge Geschwister bekommen.« Er warf seiner Frau an der Bar einen Blick zu. »Du findest wahrscheinlich, dass sie zu jung für mich ist – das tun alle. Weißt du, ich habe so lange wie möglich gewartet. Ich dachte, dass sie vielleicht noch jemand anderen kennenlernt, aber sie wollte nichts davon wissen. Ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass ich noch mal so glücklich werde.« Er schenkte Leon ein warmes Lächeln. »Ich habe deine Mutter geliebt, Leon. Eine klügere, nettere, großherzigere Frau wirst du nie finden. Sie wäre stolz auf dich gewesen.«

Leon schüttelte den Kopf. »Du brauchst das doch nicht …«

»Nein, lass mich ausreden. Es ist ein Wunder, dich zurückzuhaben. Ingrid hätte mir fast den Kopf abgerissen, als sie erfuhr, dass du bei mir warst und ich ihr nichts gesagt habe. Erst hielt sie ja nicht viel von meinen, sagen wir mal, Untergrabungsaktivitäten … Aber mittlerweile ist sie mit an Bord.«

»Wusstest du denn schon vorher, dass Leon dein Sohn ist?«, fragte Gaia. »Ich meine, dass dein vorgebrachter Sohn vom Protektor adoptiert wurde?«

»Ja klar. Mary hat es immer gewusst.« Derek gab dem Baby noch einen Löffel Joghurt. »Sie war sich sicher, kaum dass sie dich das erste Mal in einer dieser Tvaltarsendungen gesehen hat. Ich habe etwas länger gebraucht. Aber wir hatten Glück – wir konnten sehen, wie du aufwächst und dass es dir gut ging. Zumindest eine Weile.« Er legte den Löffel weg. »Warum haben die Sendungen irgendwann aufgehört?«

Leon ließ Gaias Hand unter dem Tisch los und zuckte die Achseln. »Wir hatten viel zu tun, nehme ich an. Und Teenager sind auch nicht mehr so süß wie kleine Kinder.«

»Wir hatten dich als Baby ›Liam‹ genannt«, sagte Derek. »Weißt du noch?«

Leon lachte. »Nein. So klein, wie ich war, glaube ich nicht, dass ich den Unterschied gemerkt habe.«

Ingrid stellte ein paar schwere Bierkrüge bei ihnen ab und verschwand wieder hinter der Bar. Bill und andere Bergleute spielten Billard mit den Einheimischen. Trotz der lauten Gespräche in dem engen Raum konnte Gaia die ersten Töne des Klaviers hören. Es war eine fröhliche Melodie, und nach und nach senkten sich die meisten Stimmen ganz von selbst, und die Gäste hörten zu. Will stand entspannt ans Klavier gelehnt, und die Frau an den Tasten lachte ihm zu, während sie spielte. Sie trug ein schwarzes Band im Haar, und ihre dunkle Haut schimmerte im Kerzenschein.

Moment mal, dachte Gaia und schaute sich nach den anderen um. Dinah war in der Menge verschwunden, aber Peter war von drei jungen Frauen umgeben, die sich lebhaft mit ihm unterhielten. Als eine von ihnen ihm beiläufig die Hand auf den Arm legte, machte er beinahe einen Satz zurück, so eine Geste wäre in Sylum undenkbar gewesen, doch das Mädchen redete einfach weiter – offensichtlich war sie sich weder des Effekts ihrer Berührung bewusst, noch bemerkte sie seinen hochroten Kopf. Die Chardos unterhalten sich mit Frauen!, dachte Gaia. Zwar hatte sie sich genau das gewünscht, aber irgendwie traf es sie doch.

»Gaia, geht es dir gut?« Leon griff wieder nach ihrer Hand.

Sie schaute erst zu ihm, dann zu Derek und der kleinen Sarah.

»Ich bin bloß müde. Tut mir leid. Hast du was gesagt?« Sie nahm einen Schluck aus ihrem Krug und wischte sich den Schaum von den Lippen.

Leon lächelte wissend. »War nicht weiter wichtig. Ich sollte dich heimbringen.«

Da trat ein kräftiger Mann in einem staubigen Overall an ihren Tisch. »Gaia?«, fragte er.

Gaia erkannte ihn als Theo Rupp, Emilys Vater. Eilig stellte sie ihr Bier weg und erhob sich.

»Hast du Emily getroffen?«, fragte er.

Sie zögerte, überrascht von seiner unfreundlichen Art. »Ja, habe ich.«

»Und wie geht es ihr?«

»Ganz gut soweit. Ich meine, sie ist noch wütend auf mich – aber sonst ganz gut. Sie ist wieder schwanger.«

»Das wussten wir.«

Gaia trat um den Tisch und betrachtete ihren alten Nachbarn. Dann schaute sie sich nach seiner Frau um, doch er war allein. »Wie geht es Amy?«

»Es hat ihr das Herz gebrochen. Was glaubst du denn?«

Gaia nahm ihn beim Arm und führte ihn beiseite. In knappen, stockenden Worten fasste Theo zusammen, wie es seiner Familie seit Gaias Flucht ergangen war: sein Schwiegersohn ermordet, seine Tochter Dauergast des Protektors, seine Enkel wuchsen an einem Ort auf, wo er sie nie würde sehen können. Gaia ihrerseits erzählte ihm ausführlich von ihrem Treffen mit Emily an diesem Nachmittag.

»Es ist einfach falsch«, sagte Theo. »Alles ist falsch.«

»Du gibst mir die Schuld«, stellte Gaia fest. »Das sehe ich doch.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das tue ich nicht. Nicht jetzt, wo ich dich wieder vor mir sehe.« Zögernd breitete er die Arme aus, und sie umarmten einander. Sie konnte den erdigen Duft riechen, der den Töpfer wie immer umgab.

»Es tut mir so leid«, sagte Gaia.

»Vielleicht wird jetzt alles wieder gut«, sagte Theo leise.

»Setz dich doch«, bat Derek. »Leiste uns Gesellschaft. Hier, nimm dir ein Bier.«

Besorgt verfolgte Gaia, wie Leon einen Stuhl heranzog und Ingrid Theos Arm streichelte. Unsicher nahm er Platz, den Blick auf das Baby in Dereks Arm gerichtet. Dann nahm er das Bier entgegen.

»Ein Gutes hat der Streik damals gehabt«, sagte Derek mit gesenkter Stimme. »Als die Leute hörten, dass Emily wegen der verschwundenen Bücher in Schwierigkeiten war, hat sie das wachgerüttelt. Die Bücher hat Emily zwar zurückgegeben, aber wir haben einfach unsere eigene Aufzeichnung begonnen. Ingrid und ich haben eine Dokumentationsstelle gegründet. Mütter aus jedem Sektor sind zu uns gekommen und haben uns die Geburtstage ihrer vorgebrachten Kinder gesagt, und so haben wir unser zentrales Verzeichnis geschaffen. Wenn jetzt ein vorgebrachtes Kind von drinnen zu uns kommt und uns seinen Geburtstag nennt, können wir ihm sagen, wer seine leiblichen Eltern sind. Und sie kommen immer öfter, von Zehnjährigen bis zu Erwachsenen. Wir feiern ständig kleine Wiedersehen.« Er nickte Leon zu. »So wie wir gerade. Es ist wirklich verrückt – geht einem ans Herz.«

»Weiß der Protektor davon?«, fragte Gaia.

»Da bin ich mir ziemlich sicher. Aber was will er machen? Die Wharftoneltern gehen ja nicht rein. Und den Enklavekindern kann er nicht verbieten, rauszugehen.«

»Aber das hätten sie doch auch schon von früher gekonnt und haben es nicht gemacht. Weißt du noch, die Rückführungsbenachrichtigungen?«

Leon schüttelte den Kopf. »Schon, aber damals gab es noch kein Verzeichnis. Die Rückführung war eine einmalige Gelegenheit, wieder nach draußen zu ziehen – aber das hieß, sein Leben und seine Familie in der Enklave zurückzulassen. Keiner von uns wollte das. Jetzt dagegen können sich die Leute einfach mal kennenlernen.«

»Genau«, sagte Derek. »Und das führt zu einer seltsamen Situation, weißt du. Obwohl die Beziehungen zum Protektor angespannter denn je sind, gibt es auf einmal einen Haufen Verwandtschaften zwischen drinnen und draußen.«

»Was heißt das für uns?«, fragte Gaia. »Haben wir Verbündete in der Enklave?«

»Es heißt zunächst mal nur, dass gar nichts gewiss ist.« Derek schüttelte den Kopf. »Das Pulverfass könnte jeden Moment hochgehen.«

»Das stimmt allerdings«, sagte Theo.

»Kämst du denn noch nach drinnen, wenn du wolltest?«, fragte Leon.

»Nicht im Moment«, sagte Derek. »Unsere letzten Tunnel sind alle aufgeflogen und vergangenes Jahr bei einer großen Razzia geschlossen worden. Wir arbeiten an neuen – aber es ist nicht so leicht, unter der Mauer durchzukommen. Wieso? Wollt ihr rein?«

Gaia schaute Leon an, doch der trank nur von seinem Bier und überließ ihr die Antwort.

»Nein«, sagte sie. »Wir gehen ganz normal durchs Tor, um zu verhandeln.«

Das Baby auf Dereks Schoß spuckte Joghurt, und er wischte ihm mit dem Lätzchen das Gesicht ab. »Finde ich gut«, sagte er. »Vielleicht ändert sich auf die Art was.«

Theo nickte ihm zu. »Ich kann sie mal kurz halten, wenn du magst.«

Derek nahm dem Kind das Lätzchen ab und reichte es ihm. Als Theo das Baby in den Arm nahm, sich zurücklehnte und es zärtlich in seinen großen Händen hielt, begriff Gaia, wie sehr er seine Enkel vermisste, und ihr fuhr ein Stich durchs Herz.

Ein neues Lied begann, etwas beschwingter als das vorherige, und Gaia sah Will die Klavierspielerin verträumt anlächeln. Er schob sich die Ärmel hoch und verschränkte die Arme.

»Wer ist die Frau, die da spielt?«, fragte sie.

Derek reckte den Hals. »Das ist Gillian, eine Freundin von Ingrid. Sie ist gut, nicht? Scheint, sie hat Gefallen an deinem Freund gefunden. Ich hab noch nie gesehen, dass sie sich beim Spielen unterhält.«

Gaia merkte, dass Leon sie beobachtete. Er hob die Brauen, lehnte sich zurück und lächelte. Eigentlich gab es keinen Grund, weshalb sein Blick sie verunsichern sollte, aber sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg.

»Sie spielt gut«, sagte sie.

»Allerdings«, stimmte Leon zu.

Sie brachte es nicht über sich, nach Peter Ausschau zu halten.

»Wollten wir nicht gehen?«, fragte sie.

»Jederzeit.«

Gaia schaute aus dem Fenster. Auf dem Platz schien Ruhe eingekehrt zu sein, während es in der Taverne noch einige Zeit hoch herzugehen versprach. Ingrid betonte noch mehrmals, dass Leon jederzeit willkommen war. »Es sei denn, du willst zurück zum Protektor«, fügte sie hinzu. »Auch dafür hätten wir Verständnis. Schließlich ist das ja eigentlich deine Familie, trotz aller Schwierigkeiten, die ihr miteinander hattet.«

Leon lachte bitter auf. »Um nichts in der Welt würde ich wieder in der Bastion leben wollen.«

»Aber, ich meine … Wenn es mit dir und Gaia was Ernstes wird … Manchmal versöhnen sich Familien auch wieder, wenn eine Hochzeit ansteht.«

Leon nahm Gaias Hand. »Verlobt sind wir schon«, sagte er. »Und ich hoffe, dass du zu unserer Hochzeit kommst.«

»Ah!«, sagte Ingrid. »Dachte ich’s mir doch. Herzlichen Glückwunsch! Wann ist es denn soweit?«

»Sollte nicht mehr allzu lange dauern«, sagte er mit Blick zu Gaia. »Wir sind fast soweit, oder nicht?«

Gaia lachte und kuschelte sich an ihn. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, dann gingen sie hinaus.

Die Nacht war kühl, und die Straßen lagen still. Nach dem Lärm in der Taverne genoss sie den schnellen, fast lautlosen Flug der Schwalben, der fast das Einzige war, was sie noch hörte.

»Das war ein Erlebnis«, sagte Leon.

»Ich mag Ingrid.«

»Und ich Gillian.«

Gaia wusste nicht, was sie erwidern sollte. Ihr war klar, dass er das bloß wegen Will sagte.

Da lachte er und drückte sie an sich. »Ich mache doch nur Spaß.«

»Ich will ja auch, dass Will glücklich ist.«

»Ich weiß – mach dir keine Gedanken.«

»Armer Theo«, sagte sie.

Leon nickte. »Fast ist es so, als wäre seine Tochter noch als Erwachsene vorgebracht worden.«

Sie erreichten das Ende des dritten westlichen Sektors. Vor ihnen leuchteten die Lagerfeuer New Sylums im Bett des Trockensees. Schon jetzt wirkte die Siedlung ganz anders als die vielen provisorischen Lager, die sie während ihrer Wanderschaft aufgeschlagen hatten. Die Feuer waren in konzentrischen Kreisen angeordnet, die den natürlichen Hügeln und Senken des Seebetts folgten. Im Zentrum lag der neue Dorfplatz. Gaia stellte sich vor, wie dort eines Tages vielleicht eine neue Matinaglocke hängen würde. Es wäre wirklich schön, diese Tradition aus Sylum zu bewahren.

Sie schlugen den Pfad Richtung Klan Neunzehn ein. Da gab es ein Geräusch im Dunkeln, und Gaia blieb erschrocken stehen. »Hast du das auch gehört?«

»Das sind nur Malachai und ein paar Exkrims«, sagte Leon. »Ich habe sie gebeten, auf dich aufzupassen. Sie werden dich nicht stören.«

Ihr Herz aber raste, und es brauchte einen Moment, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

»Tut mir leid. Ich hätte es dir sagen sollen«, entschuldigte sich Leon.

»Du hättest mich fragen sollen!«

»Hättest du denn ja gesagt?«

Zögernd setzte sie sich wieder in Bewegung. »Ja. Es ist hier nicht, wie ich erwartet habe. Kaum kommt mir etwas vertraut vor, merke ich, wie sehr es sich doch verändert hat. Ich fühle mich nirgends richtig sicher.«

»Weil du nirgends sicher bist.«

»Ich muss zu Maya. Ich habe sie noch gar nicht gesehen, seit ich zurück bin.«

Als sie sich dem Feuer von Klan Neunzehn näherten, schälten sich Malachai und die beiden anderen Exkrims aus dem Dunkel und nickten ihr respektvoll zu.

»Wir werden künftig Abstand halten«, versicherte ihr Malachai. »Du wirst uns kaum bemerken.«

»Danke.«

Norris erhob sich und drückte sie an sich. »Wie gut, dich wiederzusehen. Du sollst uns doch nicht solche Sorgen machen.«

»Es geht mir schon wieder besser. Du hast unseren ersten Abend in der Taverne versäumt. Wo ist Josephine?«

Norris legte nachdenklich den Finger an die Lippen, dann deutete er auf eine Plane. Darunter sah Gaia Josephine, neben sich Junie und Maya. Alle schliefen tief und fest.

»Es wäre genug Platz, falls du dich dazulegen willst«, sagte Norris.

So müde sie auch war, es gab etwas, das sie noch tun wollte. Irgendwie war es durch die Begegnung mit Theo sogar noch wichtiger geworden. »Ich muss nach Hause«, sagte sie.

»Zu deinem Elternhaus? Lady Myrna ist da oben. Mit Jack und der kleinen Angie.«

»Ich weiß.« Sie betrachtete das Gesicht ihrer schlafenden Schwester, und da traf sie eine Entscheidung. Sie kroch unter die Plane und hob das kleine Mädchen vorsichtig hoch.

Josephine schlug die Augen auf und stützte sich auf die Ellbogen. »Alles in Ordnung?«, fragte sie leise.

Gaia nickte.

»Lass sie doch hier«, sagte sie mit Blick auf das Mädchen. »Es geht ihr gut.«

»Ich würde sie gern mit nach Hause nehmen.«

»Das hier ist ihr Zuhause.«

»In mein altes Zuhause«, verbesserte sie sich. Ich brauche sie bei mir. Sie kam sich sehr selbstsüchtig vor, doch es war die Wahrheit: Die Erlebnisse in der Enklave gingen ihr noch immer nach, und nur Maya konnte ihr jetzt helfen.

Josephine blinzelte müde. »Dann nimm eine Decke mit«, sagte sie, griff neben sich und reichte ihr eine. Der Stoff war noch ganz warm von ihr. Gaia wickelte Maya gut darin ein, dann stand sie auf, und Leon trat an ihre Seite.

Sie waren erst ein paar Schritte den Pfad zurückgegangen, als er das Wort an sie richtete. Er sprach nur ganz leise, doch in der stillen Dunkelheit war er deutlich zu hören. »Du musst mir erzählen, was wirklich in der Enklave passiert ist. Das ist dir doch klar?«