Kapitel dreiunddreißig

Claire Ponsonby blieb noch lange auf der Veranda sitzen, nachdem Captain Carmine Delmonico längst gegangen war.

Ihre Blicke schweiften über die Bäume, die das Haus umgaben, während sie sich erinnerte, wie Morton Stunde um Stunde seiner wortwörtlich schulfreien Tage verbrachte. Er grub einen Tunnel, weil er wusste, dass eines schönen Tages ein Tunnel sich als nützlich erweisen würde. Während er arbeitete, dachte er nach. Oh, Charles liebte ihn! Liebte ihn sogar noch mehr, als er Mama je geliebt hatte. Brachte ihm das Lesen und Schreiben bei, vermittelte ihm eine echte Gelehrsamkeit. Teilte die Bücher, versuchte tapfer, auch die Arbeit zu teilen. Aber Charles fürchtete den Tunnel so sehr, dass er einen längeren Aufenthalt darin einfach nicht ertragen konnte. Wohingegen Morton nie lebendiger war als während der Zeit im Tunnel, wenn er grub, wühlte, die Erde und die Steine nach draußen schleppte, die Charles dann um die Bäume herum verteilte.

So hatte das Teilen begonnen. Charles fasste den Cantone-Raum als Chirurgenparadies auf. Morton hingegen wusste, dass der Cantone-Raum die orgasmische Blüte des Tunnels unter der stillen Schwere des Erdbodens war. Morton, Morton, an, aus. Blinder Wurm, blinder Maulwurf in der Dunkelheit, grub munter vor sich hin mit einem magischen Schalter in seinem Kopf, mit dem er seine Augen an- oder ausschalten konnte. An, aus, an, aus, an, aus. Da-dammm-da-damm, an, aus.

Jetzt mal sehen … Diese Eiche da, dort haben wir den Italiener aus Chicago begraben, nachdem er unseren Terrazzoboden gelegt hatte. Und der Ahorn dort zieht Saft aus den drallen Überresten des Klempners; wir haben ihn in San Francisco engagiert. Der Schreiner aus Duluth vermodert in der Nähe der vermutlich letzten gesunden Ulme in ganz Connecticut. Wo wir die anderen begraben haben, kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, aber sie sind auch nicht wichtig. Was für ein hervorragender Diener die Habgier doch ist! Ein geheimer Job gegen Bargeld auf die Hand, und alle sind glücklich. Niemand war glücklicher als Charles, als er das Geld austeilte. Niemand war glücklicher als ich, als ich den Hammer schwang und das Geld zurücknahm. Niemand war glücklicher als wir beide beim Stochern und Stöbern durch die kühlenden Öffnungen, Rinnen, Röhren, Hohlräume.

Nicht, dass wir das Geld zurücknehmen mussten. Was wir für den Cantone-Raum ausgaben im Verlauf der endlosen Jahre, während wir auf Mamas Tod warteten, war ein Almosen, verglichen mit der Summe, die Mama in diesem Januar 1939 in zwei kleinen, eleganten Schrankkoffern vom Bahnhof zurückbrachte. Daddy, dumm genug, sein gesamtes Geld bei einem Zusammenbruch der Börse zu verlieren? Wohl kaum. Seine Anlagen waren vorher in Bargeld verwandelt worden. Er baute einen kleinen Banktresor (dessen Tür später noch ganz gelegen kam) in den Weinkeller ein und deponierte dort das Geld, bis sein Detective Mrs Cantone fand. Vielen Dank, lieber Captain Delmonico, für das Auffüllen der Leerräume! Jetzt weiß ich, warum er den Tresor ausräumte, seinen Inhalt in diese zwei Schrankkoffer packte und dann für die Fahrt zum Bahnhof in sein Auto lud.

Nachdem sie ihn umgebracht hatte, lud Mama die Schrankkoffer in ihren Wagen; wir haben hineingesehen und sie bestohlen, während ihre Kleider und der Baseballschläger fröhlich brannten. Während ich sie in meinem winzigen Wurmfortsatz von Tunnel versteckte, begann Charles einen Tunnel mehr nach seinem Geschmack, grub sich in Mamas Verstand. Wieder und wieder flüsterte er ihr ein, dass die Cantone-Affäre eine Ausgeburt ihrer Phantasie sei, dass sie Daddy nicht umgebracht habe, dass sich Cantone auf Matrone reime und Emma ein Buch von Jane Austen sei. Wenn sie Geld brauchte, gaben wir es ihr, auch wenn wir ihr nie erzählten, wo die Schrankkoffer sich befanden. Als dann Roosevelt, dieser Verräter, 1933 den Goldstandard abschaffte, fuhren wir mit Mama und den Schrankkoffern zur Sunnington Bank nach Cleveland, wo wir, da die Bank der Familie gehörte, keinerlei Probleme hatten, die alten gegen neue Scheine zu tauschen. Damals in der Zeit der großen Wirtschaftskrise horteten viele Leute lieber ihr Geld. Und zu dem Zeitpunkt war sie längst die hilflose Marionette zweier zurückhaltender Jungs am Beginn der Pubertät.

Das Geld wieder nach Hause zu bringen war nicht einfach. Jemand in der Bank redete. Doch Charles mit all seiner außergewöhnlichen Brillanz entwarf unsere Strategie. In puncto Logistik und Planung war Charles ein Genie. Wie werde ich ihn nur ersetzen? Wer sonst als ein Bruder kann ihn verstehen?

Wieder zu Hause, konzentrierte sich Charles’ Tunnel in Mamas Verstand auf das Geld, dass Roosevelt es gestohlen hatte, um sein Komplott gegen alles zu finanzieren, wofür Amerika stand, von der Freiheit bis zu Europa, um dieses in seinem eigenen wohlverdienten Saft schmoren zu lassen. Ja, unsere beiden Tunnel wuchsen, und wer will entscheiden, welcher von beiden der schönere war? Ein Tunnel in den Wahnsinn, ein Tunnel in den Cantone-Raum.

Ich hoffe, Captain Delmonico ist zufrieden mit meiner Geschichte von fehlgeleiteter Liebe und Amok laufendem Wahnsinn. Ein Jammer, dass sich seine Frau als so findig erwiesen hatte. Ich hatte mich schon so auf eine spezielle Sitzung mit ihr gefreut. Du kannst deine Augen nicht die ganze Zeit geschlossen halten, Desdemona, an, aus. Trotzdem, wer weiß? Vielleicht wird es eines Tages passieren. Ich hätte mich nie für sie entschieden, hätte ich nicht eine solche Faszination für Carmine entwickelt. Da er aber trotz all seiner Neugier nicht vorausahnend ist, hat er auch nie die Fragen gestellt, die den Schlüssel in seinem Hirn womöglich gedreht hätten.

Fragen wie: Warum waren sie alle sechzehn Jahre alt? Die Antwort darauf ist simple Arithmetik. Mrs Cantone war sechsundzwanzig, und Emma war sechs, das macht dann zusammen zweiunddreißig, aber wir wollten nur eine Cantone, also das Ganze durch zwei geteilt, und die Zahl ist – sechzehn! Fragen wie: Was könnte einen jungen Gutmenschen zu ihrem herrlichen Schicksal ködern? Die Antwort darauf liegt in der Barmherzigkeit. Eine blinde Frau, die um das gebrochene Bein ihres Blindenhundes Tränen vergießt. Biddy spielt eine wunderbare Gebrochene-Pfote-Nummer. Fragen wie: Worin liegt die Bedeutung eines Dutzends? Sonnenzyklen, Mondzyklen, Motorzyklen … Die Antwort ist dämlich. Mrs Cantone hatte die Angewohnheit »Im Dutzend billiger!« zu sagen, als wäre eine Beleuchtung mindestens so blendend wie Gott. Fragen wie: Warum haben wir so lange bis in ein fortgeschrittenes Alter gewartet, bis wir anfingen? Eine Antwort, gefangen im Netz des Ödipus, des Orestes. Cantones umzubringen mochte im Dutzend billiger sein, aber niemand kann seine Mutter töten. Fragen wie: Wie konnte Claire daran beteiligt sein, und doch, wer sonst außer Claire war denn da? Die Antwort darauf liegt im äußeren Schein. Der äußere Schein ist alles, alles liegt im Auge des Betrachters.

Mama hatte nie ein kleines Mädchen. Nur drei Jungs. Aber sie sehnte sich so sehr nach einem kleinen Mädchen, und was Mama haben wollte, bekam Mama auch. Also zog sie den Letzten von uns dreien vom Tag seiner Geburt wie ein Mädchen an. Menschen glauben, was ihre Augen ihnen sagen. Bis hin zu Ihnen, Captain Delmonico. Wir Ponsonby-Jungs sehen alle aus wie Mama: Wir geben ganz passable Frauen, aber verzärtelte Männer ab. Nichts von Daddys energisch drängender Männlichkeit. Oh, wie hat er es Mrs Cantone immer gegeben! Charles und ich haben ihnen durch ein Loch in der Wand zugesehen.

Der geliebte Charles, immer dachte er sich Möglichkeiten aus, meinen Bedürfnissen zu dienen. Es wäre alles so viel schwieriger geworden, nachdem Claire erblindet war, hätte er nicht die Eingebung gehabt, mir Claires Kleider anzuziehen und mich nach Cleveland zu schicken. Sobald ich dort ankam, drückte er ein schlaffes Gummikissen auf Claires Gesicht, und aus Morton dem Maulwurf wurde Claire die Blinde.

Endlich Dunkelheit. Mein ureigenes Milieu. Zeit für Morton den Maulwurf, ein frisches Feld für einen Tunnel zu suchen.