TEIL DREI

Januar & Februar 1966

Kapitel vierzehn

Samstag, den 1. Januar 1966

 

Kurz nach acht Uhr morgens am Neujahrstag holte das Telefon Carmine aus einem tiefen Schlaf. Es war eines der wenigen Male in fast drei Monaten, dass er beschlossen hatte, richtig auszuschlafen. Nicht etwa, weil er den Ausklang des alten Jahres gefeiert hätte; auch wenn es eines der grauenvollsten Jahre seines Lebens gewesen war, hatte er jede Menge Gründe, davon auszugehen, dass das neue noch erheblich schlimmer sein könnte. Deshalb hatte er den Silvesterabend allein in seiner Wohnung vor dem Fernseher verbracht und sich die wartende Meute auf dem Times Square angesehen. Es war ihm in den Sinn gekommen, Desdemona zwei Etagen höher zu sich einzuladen, doch er entschied sich dagegen, da ihn der Gedanke beunruhigte, sie könnte seiner Gesellschaft überdrüssig sein. Wenn sie auswärts aß, war er derjenige, der sie begleitete und das Essen bezahlte – was, egal wie sehr sie darüber moserte, für ihn ein Gebot der Höflichkeit war. Die Folge war, dass er weit vor Mitternacht zu Bett ging, phantastisch schlief und ausgeruht war, als das Telefon klingelte.

»Delmonico«, sagte er.

»Ich bin’s, Danny«, hörte er Marcianos Stimme. »Carmine, du musst sofort nach New London kommen. Es gab wieder eine Entführung. Dublin Road, auf der Groton-Seite des Flusses. Abe und Corey sind unterwegs, Patrick ebenfalls. Die Cops aus New London werden dich erwarten.«

Er war sofort auf den Beinen und registrierte einen Schweißfilm, der sicher nicht von der zehn Grad kühlen Heizung kommen konnte. »Aber das kann nicht sein«, sagte er fröstelnd. »Es sind gerade mal dreißig Tage seit Francine. Der Kerl sollte doch erst Ende des Monats wieder zuschlagen.«

»Wir sind nicht sicher, ob es der gleiche Kerl ist – zunächst mal fand die Entführung im Verlauf der Nacht statt, für die Cops in New London was völlig Neues. Fahr hin und erzähl denen, womit sie es zu tun haben.«

Mit Abe am Steuer rasten sie die vierzig Meilen bis New London. Paul und Patrick folgten in ihrem Transporter.

»Dreißig Tage, es sind nur dreißig Tage gewesen!«, sagte Abe, als die I-95 New London erreichte; bis dahin hatte er nicht eine Silbe gesagt.

»Nimm direkt hinter der Brücke die Abzweigung Groton«, sagte Corey, der eine Landkarte auf seinen Knien ausgebreitet hatte. »Es kann nicht derselbe Kerl sein, Carmine.«

»Das werden wir in ein paar Minuten wissen.«

Die Stelle war nicht schwer zu finden; jeder einzelne Streifenwagen des New London County schien an den Rändern einer Straße zu parken, an der bescheidene Häuser in Blocks von rund achthundert Quadratmetern standen. Die Dublin Road, Groton.

Das Haus, auf das ein Streifenpolizist zeigte, war grau gestrichen, ein einstöckiges Gebäude. Das Haus eines Arbeiters, der stolz auf sich und sein Eigentum war. Ein kurzer Blick darauf genügte, und Carmine wusste, dass die darin lebenden Menschen geachtet und ehrenwert waren. Eine perfekte Familie für die Zwecke des Mörders.

»Tony Dimaggio«, sagte ein Mann in der Uniform eines Captains. Er bot Carmine eine Hand zum Gruß. »Ein sechzehnjähriges schwarzes Mädchen namens Margaretta Bewlee wurde während der Nacht entführt. Mr Bewlee scheint zu denken, durch das Schlafzimmerfenster, aber ich habe bislang keinen meiner Jungs in die Nähe gelassen, damit sie keine möglichen Spuren zerstören – das hier ist ganz klar eine Nummer zu groß für uns. Kommen Sie rein«, sagte er und ging vor Carmine her. »Die Mutter ist das reinste Nervenbündel, aber Mr Bewlee hält noch durch.«

»Ich komme sofort nach, sobald ich Dr. O’Donnell draußen vors Fenster gebracht habe. Danke für Ihre Geduld, Tony.«

Die ganze Familie hatte tiefschwarze Haut: Vater, Mutter, ein junges Mädchen im Teenageralter und zwei Jungs von zwölf, dreizehn Jahren.

»Mr Bewlee? Lieutenant Delmonico. Erzählen Sie mir, was passiert ist.«

Seine Haut hatte diesen besonderen Grauton, der bei dunkelhäutigen Menschen von extremer Mühsal zeugte, doch es gelang ihm, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Wenn er jetzt die Nerven verlor, könnte das den entscheidenden Unterschied für Margaretta bedeuten. Seine Frau, noch in Morgenmantel und Hausschuhen, saß mit glasigen Augen wie versteinert da.

Mr Bewlee holte tief Luft. »Wir haben aufs neue Jahr angestoßen, dann sind wir ins Bett gegangen, Lieutenant. Wir alle – hier gibt’s keine Nachteulen, also haben wir kaum die Augen aufhalten können.«

»Haben Sie Alkohol getrunken? Sekt zum Beispiel?«

»Nein, nur eine Fruchtbowle. Bei uns wird kein Alkohol getrunken.« Seine Miene verfinsterte sich.

»Wo arbeiten Sie, Mr Bewlee?«

»Ich bin Präzisionsschweißer bei Electric Boat, und in ein paar Wochen steht ’ne Gehaltserhöhung an. Wir haben nur darauf gewartet, um endlich umziehen, was Größeres kaufen zu können.« Die Tränen flossen, er hielt inne.

»Stellen Sie mir doch bitte Ihre Kinder vor, Mr Bewlee.«

Ihr Vater nahm sich zusammen, das schaffte er bestimmt. »Das hier ist Linda, sie ist vierzehn. Hank ist elf, Ray zehn. Wir haben auch noch einen Knirps, Terence. Er ist zwei und schläft bei uns im Bett. Linda hat ihn zu unserer Nachbarin Mrs Spinoza gebracht. Wir dachten, er müsste nicht – müsste nicht –« Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und kämpfte darum, sich zu fassen. »Tut mir leid, ich kann nicht –«

»Lassen Sie sich Zeit, Mr Bewlee.«

»Etta – so nennen wir sie – und Linda teilen sich ein Zimmer. Wir sind nicht besonders früh aufgestanden, aber als meine Frau anfing, uns ein Frühstück zu machen, hat sie die beiden Mädchen gerufen. Linda sagte, Etta wäre im Bad, aber wie sich herausstellte, waren die Jungs da drin, nicht Etta. Also haben wir sie gesucht und konnten sie nirgends finden. Na, und da hab ich dann die Polizei gerufen. Ich konnte an nichts anderes als das Monster denken. Aber er kann’s doch nicht sein, oder? Ist doch noch nicht seine Zeit, oder? Und außerdem ist Etta wie wir alle – schwarz. Ich meine, wir sind richtig schwarz. Unser kleines Mädchen wird er doch nicht haben wollen, Lieutenant, oder?«

Was sollte er darauf antworten? Carmine wandte sich Ettas Schwester zu. »Linda, stimmt’s?« Er lächelte sie an.

»Jawohl, Sir«, brachte sie weinend heraus.

»Linda, ich werde jetzt nicht sagen, weine nicht, aber deiner Schwester hilfst du am besten, wenn du meine Fragen beantwortest, okay?«

»Okay.« Sie wischte sich über das Gesicht.

»Du und Etta, ihr seid zur gleichen Zeit ins Bett gegangen, richtig?«

»Jawohl, Sir. Um halb eins.«

»Dein Daddy sagt, ihr wäret alle ziemlich müde gewesen. Stimmt das?«

»Völlig fertig«, sagte Linda nur.

»Also seid ihr zwei schnurstracks ins Bett.«

»Jawohl, Sir, sofort nachdem wir unsere Gebete gesprochen hatten.«

»Habt ihr noch geredet, als ihr im Bett gelegen habt?«

»Nein, Sir, ich bin eingeschlafen, sobald ich mich hingelegt hatte.«

»Hast du während der Nacht irgendwelche Geräusche gehört? Bist du aufgewacht, um zur Toilette zu gehen?«

»Nein, Sir, ich habe geschlafen, bis Mum uns gerufen hat. Obwohl, ich fand es komisch, dass Etta vor uns auf den Beinen war. Normalerweise kommt sie so gar nicht aus den Federn. Dann dachte ich, sie hat sich wahrscheinlich rausgeschlichen, um vor mir im Bad zu sein, aber als ich gegen die Tür hämmerte, hat mir Hank geantwortet.«

Das Kind hatte ein hübsches Gesicht, lebendige dunkle Augen, eine makellose Haut und sehr volle Lippen, die Lippen eines schwarzen Mädchens, ein dunkles, rötliches Braun, das in ein Rosa überging, wo sie sich in dieser herzerweichenden Falte trafen. Hatte Margaretta genau so ein Gesicht?

»Du denkst nicht, dass Etta sich aus dem Haus geschlichen haben könnte, Linda?«

Die großen Augen wurden noch größer. »Warum sollte sie?«, fragte Linda, als wäre das allein schon Antwort genug.

Ja, warum sollte sie? Sie ist genauso süß und gutmütig und hübsch wie alle anderen. Sie betet immer noch vor dem Zubettgehen.

»Wie groß ist Etta?«

»Einsfünfundsiebzig, Sir.«

»Hat sie eine gute Figur?«

»Nein, sie ist dünn. Das belastet sie, denn sie möchte ein Star sein wie Dionne Warwick«, antwortete Linda, an der alles dafür sprach, dass sie ebenfalls groß und dünn werden würde.

»Ich danke dir, Linda. Hat sonst noch jemand vergangene Nacht irgendein Geräusch gehört?«

Niemand hatte etwas gehört.

Dann zeigte Mr Bewlee ein Foto. Carmine merkte, wie er ein Mädchen anstarrte, das genauso aussah wie Linda. Und wie die anderen.

Patrick kam allein herein, seine Tasche in der Hand.

»Welche Tür den Flur hinunter, Linda?«

»Die zweite rechts, Sir. Mein Bett steht auf der rechten Seite.«

»Hast du irgendwas gesehen, dass er durchs Fenster rein ist, Patsy?«

»Nichts. Außer, dass sich sowohl am eigentlichen Fenster als auch am Winterfenster ganz normale Verriegelungen befinden, die nicht abgeschlossen waren. Der Boden da draußen ist komplett durchgefroren. Im Sommer wächst dort Gras, aber momentan ist alles tot. Die Fensterbank sieht aus, als wäre sie nicht mehr berührt worden, seit das Winterfenster im Oktober eingesetzt wurde – oder wann immer die Insektenfenster rausgenommen worden sind. Paul ist noch draußen. Er soll sich vergewissern, dass ich nichts übersehen habe, was ich allerdings nicht glaube.«

Sie betraten einen Raum, der kaum groß genug war für zwei heranwachsende junge Frauen, aber alles war ausgesprochen aufgeräumt und gepflegt. Rosagestrichene Wände, eine geflochtene rosa Matte zwischen den Einzelbetten links und rechts des Fensters. Jedes Mädchen hatte einen eigenen Schrank am Fußende des Bettes. Über Margarettas Bett hingen ein großes Poster von Dionne Warwick und ein kleineres von Mary Bell. Lindas Bett hatte ein Regalbrett mit einem halben Dutzend Teddybären.

»Die zwei schliefen ruhig und tief«, meinte Patrick. »Die Bettwäsche ist kaum durcheinander.« Er ging zu Margarettas Bett und beugte sich herab, um seine Nase dicht über das Kopfkissen zu halten. »Äther«, sagte er. »Äther, kein Chloroform.«

»Bist du sicher? Er verdunstet innerhalb von Sekunden.«

»Ich bin sicher. Meine Nase ist so gut, ich könnte in die Parfumbranche einsteigen. Unser Freund hat ihr einen in Äther getränkten Lappen aufs Gesicht gedrückt, sie hochgehoben und dann durchs Fenster rausgeschafft.« Patrick ging zum Fenster und schob mit einer behandschuhten Hand zuerst die innere, dann die äußere Fensterhälfte nach oben. »Hör dir das an – absolut lautlos. Mr Bewlee hält sein Haus in Schuss.«

»Es sei denn, unser Freund hat alles geölt.«

»Nein, ich setze mein Geld auf Mr Bewlee.«

»Mein Gott, Patsy! Ein Mädchen, das barfuß einsfünfundsiebzig groß ist, dürfte rund fünfzig Kilo wiegen, und ihre Schwester schläft keine drei Meter entfernt … Wenn Linda aufgewacht wäre …«

»Kinder schlafen wie Tote, Carmine. Margaretta ist wahrscheinlich nie richtig wach geworden, wenn ich mir das Bettzeug ansehe – nichts deutet auf einen Kampf hin. Linda hat fest weitergeschlafen und hat überhaupt nichts davon mitbekommen. Er wird die ganze Sache in zwei Minuten durchgezogen haben, maximal.«

»Dann bleibt die Frage, wer die Fenster offen gelassen hat? Hat Mr Bewlee sie nicht regelmäßig überprüft, oder war unser Freund im Vorfeld hier und hat es bei dieser Gelegenheit gemacht?«

»Er war schon vorher hier. Ich vermute, Mr Bewlee verriegelt sie mit Einsetzen des richtig kalten Wetters. Das Haus besitzt eine richtig gute Heizung, und es ist viel zu kalt, als dass die Mädchen ein Fenster öffneten. Hier ist es im Winter gut und gerne zehn Grad kälter als in Holloman.«

Paul kam kopfschüttelnd herein.

»Dann nehmen wir mal hier drinnen jeden Zentimeter unter die Lupe – wir packen Margarettas Bettwäsche ein, mit besonderer Aufmerksamkeit für diesen Kopfkissenbezug. Carmine«, sagte Patrick, als sein Cousin das Zimmer verließ, »wenn dieses Mädchen groß, dünn und richtig schwarz ist, dann hat er seine Parameter komplett verändert. Vielleicht ist es nicht derselbe Kerl.«

»Wollen wir wetten?«

»Dreißig Tage, eine andere Entführungsmethode, ein anderer Mädchentyp – und das soll ich glauben?«

»Ja. Denn der wichtigste Faktor hat sich nicht geändert. Ein Mädchen, so rein und unberührt wie die anderen. Das, was an Veränderungen vorhanden ist, sagt mir, dass wir es nicht geschafft haben, ihm groß Angst einzujagen. Er folgt einem Masterplan, und das hier ist Teil davon. Zwölf Mädchen in vierundzwanzig Monaten. Vielleicht macht er jetzt zwölf Mädchen in zwölf Monaten. Es ist Neujahr. Vielleicht sind ihre Größe und Hautfarbe unerheblich für sein zweites Dutzend. Oder vielleicht ist Margaretta auch einfach nur sein neuer Typ.«

Patrick schnalzte deutlich hörbar. »Du denkst, er wird auch das verändern, was er ihnen antut, stimmt’s?«

»Das sagt mir mein Bauch, ja. Aber zweifle niemals an dieser einen Tatsache, Patsy: Das hier ist unser Mann.«

Carmine ließ Abe und Corey mit Patrick zurückfahren; es fiel ihm zu, an der Dublin Road eine Haustür nach der anderen abzuklappern und zu fragen, ob irgendwer etwas gesehen oder gehört hatte. Nicht sehr wahrscheinlich an einem Neujahrstag, wenn man die Partys und den Alkohol bedachte.

Es war halb elf morgens, als der Ford in die Zufahrt der Smith’ einbog, die vor einem sehr großen, traditionellen weißen Schindelhaus auf einer Anhöhe endete. Dunkelgrüne Schlagläden an den großen Fenstern. Nicht aus der Zeit vor dem Unabhängigkeitskrieg, aber auch nicht wirklich neu. Zwei Hektar Land mit natürlichem Baumbestand bis auf den Bereich, wo das Haus stand; keine Gärtner in der Familie Smith.

Eine hübsche Frau von etwa vierzig öffnete die Tür. Zweifellos die Frau des Professors. Als Carmine sich vorstellte, öffnete sie die Tür weit und bat ihn in ein Haus, das so traditionell eingerichtet war, wie es das Äußere nahelegte. Nette Dinge, für die keine Kosten gescheut worden waren, aber gleichzeitig beherrschte ein eher biederer Geschmack die Inneneinrichtung. Ganz offensichtlich konnten die Smiths sich kaufen, wonach auch immer ihnen der Sinn stand.

»Bob muss hier irgendwo sein«, sagte Eliza unbestimmt. »Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?«

»Danke, gern.« Carmine folgte ihr in eine Küche, die raffiniert auf hundert Jahre älter getrimmt war, von Wurmlöchern bis zum verblassenden Anstrich.

Zwei Jungs im Teenageralter kamen herein, als Eliza dem Besucher einen Kaffee reichte. Der normale Feuereifer von Jungs ihres Alters war nicht vorhanden; Carmine war Jungs gewöhnt, die ihn mit Fragen bombardierten, da sie seinen Beruf ausnahmslos für schillernd hielten. Doch die Söhne der Smiths, die als Bobby und Sam vorgestellt wurden, sahen eher verängstigt als neugierig aus. Sobald sie die Erlaubnis ihrer Mutter erhielten, verschwanden sie mit dem Auftrag, ihren Vater zu suchen.

»Bob geht es nicht gut«, sagte Eliza seufzend.

»Er muss unter einem beachtlichen Stress stehen.«

»Nein, das ist es eigentlich nicht. Sein Problem liegt vielmehr darin, dass er es nicht gewohnt ist, wenn etwas schiefgeht, Lieutenant. Bob hat ein geborgenes Leben geführt. Anständige Yankee-Vorfahren, eine Menge Geld in der Familie, immer nur unter den Besten. Egal, wo er war, er bekam immer alles, was er haben wollte, den William-Parson-Lehrstuhl inbegriffen. Ich meine, er ist ja erst fünfundvierzig – er war noch keine dreißig, als er den Lehrstuhl bekam. Und alles ist traumhaft gelaufen! Haufenweise Auszeichnungen und Anerkennungen.«

»Bis jetzt«, sagte Carmine und rührte seinen Kaffee um, der zu alt roch, um gut schmecken zu können. Er trank einen vorsichtigen Schluck und fand heraus, dass seine Nase recht hatte.

»Bis jetzt«, stimmte sie zu.

»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, wirkte er deprimiert auf mich.«

»Sehr deprimiert«, sagte Eliza. »Seine Stimmung bessert sich nur, wenn er runter in den Keller geht. Das wird er heute tun. Und morgen wieder.«

Professor Smith kam herein und wirkte gehetzt. »Lieutenant, das kommt aber unerwartet. Ein glückliches neues Jahr!«

»Nein, Sir, glücklich ist es nicht gerade. Ich komme gerade aus Groton und von einer weiteren Entführung, die einen Monat zu früh erfolgte.«

Smith ließ sich in den nächstbesten Sessel sinken, das Gesicht kreidebleich. »Nicht am Hug«, sagte er.

»In Groton, Professor.«

Eliza erhob sich flink und strahlte gekünstelt. »Bob, zeig doch dem Lieutenant mal deine Narretei«, sagte sie.

Du bist brillant, Mrs Smith, dachte Carmine bei sich. Du weißt genau, dass ich keinen Anstandsbesuch mache, um allen ein frohes neues Jahr zu wünschen, und drauf und dran bin, darum zu bitten, mich mal ganz inoffiziell umsehen zu dürfen. Aber du willst nicht, dass dein Mann eine freundlich vorgebrachte Bitte ablehnt, also hast du den Stier bei den Hörnern gepackt und den Professor zu einer Kooperation gedrängt, die er selbst nicht vorschlagen würde.

»Meine Narretei? Oh, meine Narretei!«, sagte Smith und strahlte dann. »Meine Narretei, natürlich! Möchten Sie die mal sehen, Lieutenant?«

»Das würde ich sehr gern, ja.« Carmine ließ den Kaffee ohne einen Hauch von Bedauern stehen.

Die Tür zum Keller war mit mehreren Schlössern versehen, die von einem Fachmann installiert worden waren. Bob Smith brauchte eine Weile, sie alle zu öffnen. Die hölzerne Treppe war nur schummrig beleuchtet; am Fußende angekommen, betätigte der Professor einen Schalter, der einen riesigen Raum in grelles, schattenloses Licht tauchte. Carmine fiel die Kinnlade herunter, er starrte mit offenem Mund auf das, was Eliza Smith eine Narretei genannt hatte.

Ein annähernd quadratischer Tisch mit einer Seitenlänge von etwa fünfzehn Metern füllte den Kellerraum. Auf der Oberfläche war eine Landschaft modelliert mit sanften Hügeln, Tälern, einem Gebirgszug, mehreren Ebenen und Wäldern perfekter winziger Bäume. Flüsse strömten, ein See lag unterhalb eines Vulkankegels, Wasser fiel über einen Felsvorsprung. Hier und da Bauernhöfe, auf einer Ebene eine kleine Stadt, eine weitere eingekeilt zwischen zwei Bergen. Und überall glänzten die silbernen Zwillingsschienen einer Miniatureisenbahn. Die Flüsse wurden von Stahlbrücken überspannt, die originalgetreu waren bis hin zu den winzigen Metallbolzen der Vernietung, eine Fähre mit Kettenantrieb überquerte den See, eine herrliche bogenförmige Talbrücke trug die Gleise durchs Hochgebirge. In den Randbezirken der Städte lagen Bahnhöfe.

Und was waren das für Züge! Der schnittige Santa Fé Super Chief fuhr mit einem ziemlichen Tempo zwischen den Bäumen eines Waldes und bewältigte mühelos eine hoch aufragende Hängebrücke. Zwei Dieselloks zogen einen Güterzug, bestehend aus Waggons mit Kohle, die Waggons eines anderen trugen Öl- und Chemikalientanks, und ein dritter bestand zur Gänze aus hölzernen Güterwagen. Ein Nahverkehrspersonenzug stand in einem der Bahnhöfe.

Alles in allem zählte Carmine elf Züge, bis auf den schlichten Nahverkehrszug in seinem Bahnhof allesamt in Bewegung, die Geschwindigkeiten variierend von der flotten Fahrt des Super Chief bis zum Schneckentempo eines Güterzugs, der so viele Öltanks zog, dass an mehreren Stellen seiner beeindruckenden Länge Zweierpaare von Dieselloks zwischengekoppelt waren. Und das alles in Miniatur! Für Carmine war es ein Weltwunder, ein unwiderstehliches Spielzeug.

»So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!«, sagte er mit belegter Stimme.

»Ich baue daran, seit wir vor sechzehn Jahren hierhergezogen sind«, sagte der Professor, dessen Laune sich zusehends besserte. »Es sind ausnahmslos elektrische Zugmaschinen, aber später im Tagesverlauf werde ich auf Dampf umstellen.«

»Dampf? Sie meinen, mit Holz betriebene Lokomotiven? Mit Kohle?«

»Also, eigentlich erzeuge ich den Dampf durch Verbrennung von Alkohol, aber das Prinzip ist das gleiche. Das macht erheblich mehr Spaß, als sie mit normalem Haushaltsstrom fahren zu lassen.«

»Ich gehe jede Wette ein, dass Sie und Ihre Jungs hier unten einen mordsmäßigen Spaß haben.«

Der Professor versteifte sich. Er hatte einen Ausdruck in den Augen, bei dem es Carmine eiskalt über den Rücken lief. »Meine Jungs kommen nicht hierher, die haben hier keinen Zutritt«, sagte er. »Als sie noch kleiner waren und die Türen keine Schlösser hatten, haben sie hier alles kaputtgemacht. Ich habe vier Jahre gebraucht, um den Schaden wieder zu reparieren. Sie haben mir das Herz gebrochen.«

Es lag Carmine auf der Zunge, zu protestieren, dass die Jungs doch jetzt sicherlich alt genug waren, doch er beschloss, sich nicht in Smiths Privatangelegenheiten einzumischen. »Wie kommen Sie eigentlich in die Mitte des Tisches?«, fragte er stattdessen und blinzelte ins Licht. »Mit einem Flaschenzug?«

»Nein, ich klettere drunter. Die Anlage ist aus Abschnitten zusammengesetzt, von denen jeder recht klein ist. Ich habe mir von einem Ingenieur ein System installieren lassen, mit dessen Hilfe ich einen Abschnitt so weit wie erforderlich anheben und zur Seite bewegen kann, um dann im Stehen daran arbeiten zu können. Obwohl es meistenteils um Reinigungsarbeiten geht. Wenn ich von Diesel auf Dampf umstelle, fahre ich den Zug einfach an den Rand, sehen Sie?«

Der Super Chief verließ seine feste Strecke, überquerte mehrere Weichenanlagen, während andere Züge angehalten oder umgeleitet wurden, und hielt dann am Rand der Tischplatte.

»Haben Sie was dagegen, wenn ich mal einen Blick auf Ihre Hydraulik werfe, Professor?«, fragte Carmine.

»Nein, überhaupt nicht. Hier, das werden Sie brauchen, es ist nämlich ziemlich dunkel da unten.« Der Professor reichte ihm eine große Taschenlampe.

Böcke, Zylinder und Stangen gab es da unten jede Menge, aber auch wenn er an jeder Stelle auf der Unterseite des Tischs herumkroch, konnte Carmine doch keine versteckten Falltüren, keine verborgenen Fächer finden. Der Betonboden wurde offensichtlich sehr sauber gehalten, und irgendwie erschien eine Verbindung zwischen Zügen und jungen Mädchen sehr unwahrscheinlich.

Das Kind in ihm wäre begeistert gewesen, den Rest des Tages damit zu verbringen, mit den Zügen des Professors zu spielen, doch als Carmine schließlich zufrieden war, dass der Keller der Smiths nichts außer Zügen und noch mehr Zügen enthielt, verabschiedete er sich. Eliza führte ihn durchs Haus, als er um Erlaubnis bat, sich alles ansehen zu dürfen. Das Einzige, was ihn kurz beunruhigte, war die Gerte, die auf dem Sideboard im Esszimmer lag und deren Ende unheilverheißend ausgefranst war. Dann schlug der Professor seine Jungs also. Tja, mein Dad hat mich geschlagen, bis ich zu groß für ihn wurde, übellauniger kleiner Fiesling, der er war. Nach ihm waren die Ausbilder bei der U.S. Army das reinste Zuckerlecken.

Von den Smiths fuhr Carmine weiter zu den Ponsonbys, es war kein weiter Weg, doch das Haus war leer und verlassen. Das offen stehende Garagentor gab den Blick frei auf einen scharlachroten Mustang, nicht jedoch auf den Kombi, den Carmine auf dem Parkplatz des Hug gesehen hatte. Schräg, welche Leute alles V8-Cabriolets fuhren! Zuerst Desdemona und jetzt Charles Ponsonby. Heute musste er mit seiner Schwester im Kombi unterwegs sein; Schwester und Blindenhund benötigten vermutlich ihren Platz.

Er beschloss, die Polonowskis nicht zu besuchen; stattdessen machte er an einer Telefonzelle Halt und rief Marciano an. »Danny, schick bitte jemanden rauf, der mal einen Blick auf Walter Polonowskis Hütte werfen soll. Falls er mit Marian dort ist, stört ihn nicht, falls er aber allein dort ist oder überhaupt nicht, dann sollten deine Jungs sich höflich genug umschauen, damit Polonowski sich nicht an solche Dinge wie Durchsuchungsbefehle erinnert.«

»Wie lautet dein Urteil zur Entführung in Groton, Carmine?«

»Oh, das ist unser Mann, aber das zu beweisen wird schwer. Er hat sein Muster geändert und hat das neue Jahr mit einer neuen Melodie eingeläutet. Sprich mit Patrick, sobald er zurück ist. Ich mache eine Tour zu den verschiedenen Häusern der Hugger-Leute. Nein, nein, keine Panik! Ich sehe mich nur mal um. Sollte ich allerdings jemanden zu Hause antreffen, werde ich bitten, mir zu erlauben, einen Blick in Keller oder Dachböden werfen zu dürfen. Danny, du müsstest sehen, was sich im Keller des Professors befindet! Mann, das ist absolut unglaublich!«

Wo er schon mal in der Telefonzelle stand, versuchte er noch, die Finches anzurufen, an deren Apparat jedoch niemand ranging. Die Forbes benutzten, wie er herausfand, einen Telefonauftragsdienst, wahrscheinlich weil Forbes so viele Patienten hatte. Die gurrende Dame informierte Carmine, dass Dr. Forbes über das Wochenende in Boston war, und gab ihm eine Bostoner Nummer. Als er diese anrief, blaffte Dr. Addison Forbes ihn gereizt an.

»Habe eben gehört, dass wieder ein Mädchen entführt wurde«, sagte Forbes, »aber werfen Sie Ihren Blick nicht auf mich, Lieutenant. Meine Frau und ich sind hier oben bei meiner Tochter Roberta. Sie hat gerade ihren Studienplatz in Frauenheilkunde bekommen.«

Mir gehen so langsam die Verdächtigen aus, dachte Carmine. Er legte auf und ging zu dem Ford zurück.

Als er auf der Sycamore nach Holloman zurückkehrte, beschloss er, zu sehen, was Tamara Vilich an einem Feiertagswochenende so machte.

Nachdem sie sich durch die Glasscheibe vergewissert hatte, wer da war, öffnete sie die Haustür in einer recht unpassenden Kleidung: einem fließenden Gewand aus hauchdünner, scharlachroter Seide mit Schlitzen auf beiden Seiten bis zu den Hüften, sehr sexy, da blieb nicht mehr viel der Phantasie überlassen. Sie ist eine dieser Frauen, dachte er, die niemals Unterwäsche tragen.

»Sie sehen aus, als könnten Sie eine anständige Tasse Kaffee vertragen. Kommen Sie rein«, sagte Tamara Vilich lächelnd, während das Scharlach ihrer Kleidung ihre Chamäleonaugen ziemlich rot und teuflisch verfärbte.

»Nette Wohnung haben Sie hier«, sagte, er sich umschauend.

»Das«, antwortete sie, »ist so abgedroschen, dass es völlig unaufrichtig klingt.«

»Ich mache nur höfliche Konversation.«

»Dann machen Sie das mal einen Moment mit sich allein, während ich mich um den Kaffee kümmere.«

Sie verschwand in Richtung der Küche und ließ ihn ihre Inneneinrichtung nach Belieben betrachten. Ihr Geschmack war ultramodern: leuchtende Farben, gute lederne Polstermöbel, eher Chrom und Glas als Holz. Doch das alles registrierte er nur am Rande, denn seine Aufmerksamkeit wurde völlig von den Gemälden an den Wänden in Bann gezogen. Den Ehrenplatz nahm ein Triptychon ein. Der linke Flügel zeigte eine nackte, karmesinrote Frau mit einem grotesk hässlichen Gesicht, die anbetend vor einer phallisch wirkenden Statue von Jesus Christus kniete. Die Mitteltafel zeigte dieselbe Frau ausgestreckt auf dem Rücken liegend, die Beine weit gespreizt und die Statue in der linken Hand. Der rechte Bildflügel zeigte wieder sie, die Statue in ihre Vagina gerammt und das Gesicht in tausend Stücke zerspringend, als wäre es von einem mit Quecksilber gefüllten Geschoss getroffen worden.

Nachdem er die Botschaft des Bildes aufgenommen hatte, wählte Carmine einen Sitzplatz, von dem aus er das abstoßende Bild nicht ansehen musste.

Die übrigen Gemälde stellten mehr Gewalt und Zorn als Obszönität dar. Der schwache Gestank nach Ölfarben und Terpentin verriet ihm, dass Tamara höchstwahrscheinlich die Künstlerin war, aber was veranlasste sie zu diesen Motiven? Ein verwesender männlicher Leichnam, der verkehrt herum an einem Galgen hing, ein quasimenschliches Gesicht, fauchend und sabbernd, Blut, das zwischen den Fingern einer geballten Faust hervorsickerte. Charles Ponsonby mochte das gut finden, aber Carmines Blick war scharfsinnig genug, zu erkennen, dass ihre Technik alles andere als brillant war; nein, die Bilder waren nicht gut genug, einen Connaisseur wie Chuck zu interessieren. Sie besaßen nichts als die Kraft, Anstoß zu erregen.

Entweder ist sie krank, oder aber sie ist noch erheblich zynischer, als ich vermutet hatte, dachte Carmine.

»Gefällt Ihnen mein Kram?«, fragte sie und kehrte zu ihm zurück.

»Nein. Ich finde, das ist krank.«

Sie legte ihren zierlichen Kopf zurück und lachte herzhaft. »Sie missverstehen meine Motive, Lieutenant. Ich male, was ein bestimmter Markt so sehr nachfragt, dass sie gar nicht genug bekommen können. Das Problem ist, meine Technik ist nicht annähernd so gut wie die der Meister auf diesem Gebiet, daher kann ich meine Arbeiten allein wegen ihres Gegenstandes verkaufen.«

»Die Bedeutung, für ein Appel und ein Ei. Stimmt’s?«

»Ja. Obwohl ich vielleicht eines Tages damit meinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Das echte Geld steckt in limitierten Auflagen von Drucken, allerdings bin ich kein Lithograph. Ich brauche Stunden, die ich mir nicht leisten kann.«

»Sie zahlen immer noch die veruntreuten Gelder des Hug zurück, was?«

Tamara erhob sich aus ihrem Sessel wie eine Stahlfeder und kehrte ohne Antwort in die Küche zurück.

Ihr Kaffee war sehr gut; er trank und nahm sich ein Apfelteilchen, das frisch aus dem Kühlschrank kam.

»Ihnen gehören die Räumlichkeiten, nehme ich an«, sagte er und fühlte sich gleich besser.

»Sie haben die Leute überprüft?«

»Klar. Das gehört zu meinem Job.«

»Und doch besitzen Sie die Unverfrorenheit, über meine Arbeiten zu Gericht zu sitzen. Ja«, fuhr sie fort und strich sich mit einer langen, wunderschönen Hand über den Hals, »mir gehört dieses Haus. Den ersten Stock habe ich an einen jungen Radiologen und seine Krankenschwesterfrau vermietet und die oberste Etage an ein Pärchen lesbischer Ornithologinnen, die im Burke Biology Tower arbeiten. Die Mieteinnahmen haben mir den Arsch gerettet, seit meiner – äh – meinem kleinen Ausrutscher.«

So ist es richtig, Tamara, immer schön frech hinausgeschmettert, das passt eher zu dir als Empörung. »Professor Smith deutete an, dass Ihr damaliger Ehegatte sie gelenkt hat.«

Sie beugte sich vor, die Füße untergeschlagen, und reckte verächtlich eine Lippe. »Es heißt, man wird nicht tun, was man nicht tun will, was meinen Sie also?«

»Dass Sie ihn sehr geliebt haben.«

»Wie scharfsinnig von Ihnen, Lieutenant! Ich vermute, das muss ich wohl, aber es kommt mir heute vor, als wäre das eine Ewigkeit her.«

»Erlauben Sie Ihren Mietern, den Keller zu benutzen?«, fragte er.

Ihre Lider senkten sich, ihr Mund verzog sich kaum merklich. »Nein, das tue ich nicht. Der Keller gehört mir.«

»Ich habe keinen Hausdurchsuchungsbefehl, aber hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich hier umsehe?«

»Warum? Was ist passiert?«, fragte sie heftig.

»Eine weitere Entführung. Letzte Nacht, in Groton.«

»Und Sie denken, weil ich male, was ich male, sei ich ein Psycho, dessen Keller blutgetränkt ist. Sehen Sie sich um, wo immer Sie Lust haben, es interessiert mich einen Furz«, sagte sie und ging in einen Raum, der offenbar früher einmal ein zweites Schlafzimmer gewesen war, jetzt aber als ihr Atelier fungierte.

Carmine nahm sie beim Wort, streifte durch den Keller und fand dabei nichts Schlimmeres als eine tote Ratte in einer Falle.

Das Schlafzimmer war ausgesprochen interessant: schwarzes Leder, schwarze Satinlaken auf einem Bett, dessen Gestell kräftig genug war, Handschellen aufzunehmen, ein Zebrafell lag auf dem schwarzen Teppich, der Kopf noch vollkommen intakt, mit zwei glühend roten Glasaugen. Ich wette, dachte Carmine, während er still umherging, dass du dich nicht auf der Empfängerseite der Peitsche befindest, Schätzchen. Du bist eine Domina. Ich frage mich nur, wer hier ausgepeitscht wird!

Ein Foto in einem verschnörkelten Silberrahmen stand auf dem Nachttisch an, wie er vermutete, ihrer Seite des Bettes; eine ältere, streng wirkende Frau, die Tamara ähnlich genug war, um ihre Mutter sein zu können. Er nahm es in die Hand – wäre sie jetzt hereingekommen, hätte es beiläufig ausgesehen – und stellte es dann schnell wieder zurück. Bingo! Volltreffer. Hinter Mom lag ein Bild von Keith Kyneton in voller Länge; er war splitternackt, gebaut wie Mr Universum. Weitere dreißig Sekunden, und Mom stand wieder auf dem Nachttisch. Warum ist denen eigentlich nie klar, dass es einer der ältesten Tricks im Buch der Täuschungen ist, ein Foto hinter dem anderen zu verstecken? Jetzt weiß ich alles über dich, Miss Tamara Vilich. Schon möglich, dass du andere auspeitschst, aber nicht ihn – seine Arbeit würde darunter leiden. Spielt ihr zwei Spielchen zusammen? Verkleidest du ihn als Baby und versohlst ihm dann den Hintern? Spielst du Krankenschwester und verpasst ihm einen Einlauf? Oder eine strenge Schulmeisterin, die Demütigungen austeilt? Eine Nutte, die ihn in einer Kneipe aufgabelt?

Ohne ein weiteres Ziel zu haben, kehrte Carmine dann nach Hause zurück, stieg jedoch im neunten Stock aus dem Aufzug und drückte auf Desdemonas Klingel. Ihre Stimme antwortete ausdruckslos – kein Beweis ihrer Abneigung, sondern Beweis der modernen Technik.

»Es gab wieder eine Entführung«, sagte er geradeheraus und schälte sich aus seinem Mantel.

»Carmine, nein! Es ist doch gerade mal einen Monat her!«

Er sah sich um, erspähte ihren Nähkorb mit dem Tischläufer, der schneller fertig werden würde als zu den Zeiten, als sie noch wandern ging. »Warum«, wollte er wissen, »sind Sie so ein Pfennigfuchser, Desdemona? Warum geben Sie nicht mal Geld für sich aus? Was soll dieser bedürfnislose Lebensstil? Können Sie sich nicht ab und an mal ein nettes Kleid kaufen?«

Sie stand völlig reglos da, ihre zusammengekniffenen Lippen ein weißer Strich, in ihren Augen eine Trauer, die er noch nie dort gesehen hatte, noch nicht einmal für Charlie. »Ich bin Junggesellin, ich spare für mein Alter«, sagte sie ruhig. »Aber mehr noch: In fünf Jahren werde ich nach Hause zurückkehren – an einen Ort ohne Gewalt, ohne bewaffnete Bullen und ohne Monster. Deshalb.«

»Tut mir leid, ich hatte kein Recht zu fragen.«

»Heute nicht und vielleicht nie«, erwiderte sie scharf und öffnete die Tür. »Leben Sie wohl, Lieutenant Delmonico.«