Dienstag, den 1. Februar 1966
Das Rathaus von Holloman war berühmt für seine Akustik, und nachdem die Verwaltungsaufgaben des Bürgermeisters bereits ein Jahrzehnt zuvor in das County Services Building umgezogen waren, überließ man die Holloman City Hall dem, wofür sie ohnehin am besten geeignet war: Konzertsaal für die besten Virtuosen und Symphonieorchester der Welt zu sein.
Hinter dem Zuschauerraum befand sich ein Probenraum, dafür gedacht, dass die Künstler dort sowohl aufzeichnen als auch proben konnten. John Silvestri postierte sich in seiner besten Uniform einschließlich Tapferkeitsmedaille um den Hals auf dem Dirigentenpodium.
Etwa fünfzig Journalisten kamen, die meisten von Tageszeitungen und Magazinen, ein Team vom örtlichen Fernsehsender in Holloman sowie ein Reporter von WHMN-Radio. Die großen landesweiten Tageszeitungen schickten freie Mitarbeiter; auch wenn das Connecticut-Monster gut war für große Schlagzeilen, war einem klugen Chefredakteur doch klar, dass bei dieser Pressekonferenz keine alarmierenden neuen Entwicklungen zutage kommen würden – sondern nur die Chance, vernichtende Kommentare über die Unfähigkeit der Polizei zu verfassen.
Aber Silvestri im Öffentlichkeitsmodus war ein gewieftes Schlitzohr. Niemand, dachte Carmine beim Zuhören, fraß mit mehr Anstand scheinbar genussvoll Kreide.
»Ungeachtet der großen Kälte haben vom letzten Donnerstag bis zu Faith Khouris Entführung verschiedene Polizeibehörden im ganzen Bundesstaat insgesamt sechsundneunzig Verdachtspersonen rund um die Uhr observiert. Zweiunddreißig dieser Personen befanden sich in oder in der Nähe von Holloman. Keiner von ihnen kann etwas mit der Entführung zu tun gehabt haben, was bedeutet, dass wir immer noch nicht mehr wissen über die Identität des Mannes, den Sie das Connecticut-Monster nennen, wir aber inzwischen das Gespenst.«
»Guter Name«, sagte die Polizeireporterin der Holloman Post. »Haben Sie Beweismaterial, das irgendwen belastet?«
»Dazu habe ich mich doch gerade eben geäußert, Mrs Longford.«
»Dieser Mörder – dieses Gespenst – muss doch einen Ort haben, an den er seine Opfer hinbringt. Wird es nicht langsam Zeit, dass Sie gründlicher danach suchen?«
»Wie Sie wissen, Ma’am, können wir Mietobjekte ohne richterlichen Beschluss nicht durchsuchen. Und Sie wären doch mit Sicherheit die Erste, die sich darauf stürzen würde, wenn wir es täten.«
»Unter normalen Umständen sicherlich, ja. Aber das hier ist doch anders.«
»Was meinen Sie mit anders? Was die schreckliche Natur der Verbrechen betrifft? Persönlich bin ich ganz Ihrer Meinung, aber als Mann des Gesetzes kann ich das nicht. Eine Polizei mag ja ein entscheidender Arm des Gesetzes sein, aber in einer freien Gesellschaft wird sie von den gleichen Gesetzen gezügelt, denen sie dient. Das amerikanische Volk besitzt von der Verfassung garantierte Rechte, die wir, die Polizei, verpflichtet sind zu respektieren. Ein vager Verdacht ermächtigt uns nicht, in das Haus einer Person einzudringen und nach Beweisen zu suchen, die wir anderswo nicht haben finden können. An erster Stelle muss das Beweismaterial stehen. Wir müssen dem rechtsprechenden Arm des Gesetzes einen auf Beweise gestützten Fall vortragen, damit wir die Genehmigung zu einer Durchsuchung erhalten. Zu reden, bis wir keine Spucke mehr haben, wird keinen Richter davon überzeugen, einen Durchsuchungsbefehl ohne konkrete Tatsachen auszustellen. Und wir haben keine konkreten Fakten, Mrs Longford.«
Die übrigen Journalisten waren glücklich und zufrieden, Mrs Diane Longford zu ihrem Arbeitspferd zu ernennen; bei ihrer Befragung würde sowieso nichts herauskommen, und sie rochen den Duft von Kaffee und frischen Donuts, die im hinteren Teil des Raumes aufgedeckt waren.
»Warum haben Sie denn keine konkreten Fakten, Mr Commissioner? Ich meine, es widersetzt sich doch jeder Vorstellungskraft, dass so viele erfahrene Männer seit Anfang letzten Oktobers an der Untersuchung dieser Morde arbeiten, ohne auch nur einen einzigen konkreten Anhaltspunkt gefunden zu haben! Oder wollen Sie vielleicht sagen, dass der Mörder ein echtes Gespenst ist?«
Beißende Ironie berührte Silvestri auch nicht mehr als Aggressivität oder übertriebener Charme; er machte stur weiter.
»Kein echtes Gespenst, Ma’am. Es ist jemand, der erheblich gefährlicher ist. Stellen Sie sich unseren Mörder als sehr starke Raubkatze im besten Alter vor – sagen wir beispielsweise, einen Leoparden. Er liegt gemütlich auf einem Baum am Rande des Waldes, perfekt getarnt, beobachtet eine Herde Damwild, die sich immer weiter dem Wald und seinem Baum nähert. Für einen Vogel in diesem Baum sieht jedes Rotwild gleich aus. Aber der Leopard sieht jedes Rotwild, jedes Reh, jeden Hirsch anders, und er nimmt ein ganz spezielles einzelnes Tier ins Visier. Für ihn ist dieses eine Reh saftiger, fleischiger als die anderen. Oh, er hat viel Geduld! Das Rotwild nähert sich ihm – er rührt sich nicht –, sie sehen ihn nicht, riechen ihn nicht, wie er da auf seinem Ast liegt –, und dann ist sein Reh unter ihm. Der Angriff erfolgt so schnell, dass die übrigen Rehe kaum die Zeit haben, loszurennen, bevor er mit seiner Beute wieder auf seinem Baum ist.«
Silvestri holte Luft; er hatte die Aufmerksamkeit der Journalisten. »Ich räume ein, es ist keine brillante Metapher, aber ich benutze sie dennoch, um ihnen eine Vorstellung vom Ausmaß dessen zu geben, womit wir es hier bei dem Gespenst zu tun haben. Von unserem Standort aus gesehen ist er unsichtbar. Es ist uns noch nicht in den Sinn gekommen, am richtigen Ort nach ihm zu sehen, weil wir nicht die geringste Ahnung haben, wo sein Aufenthaltsort ist, was für einen Aufenthaltsort er benutzt. Möglicherweise gehen wir jeden Tag draußen auf der Straße an ihm vorbei – Sie, Mrs Longford, könnten jeden Tag an ihm vorbeigehen. Aber er hat ein völlig durchschnittliches Gesicht, alles an ihm ist durchschnittlich. Oberflächlich betrachtet ist er eine kleine, streunende Katze, kein Leopard.«
»Welchen Schutz gegen ihn gibt es dann für die Gesellschaft?«
»Ich würde sagen Wachsamkeit, gleichwohl Wachsamkeit nicht verhindert hat, dass er sich ein Mädchen schnappt, selbst nachdem wir Connecticut mit Bekanntmachungen und Warnungen überschüttet haben. Allerdings ist es meiner Meinung nach klar, dass wir ihm Angst gemacht haben, ihn gezwungen haben, seine Entführungen nicht mehr bei Tag zu machen, sondern auf die Nacht auszuweichen. Das ist nichts, womit man sich brüsten kann, denn es hat ihn nicht aufgehalten. Es hat noch nicht einmal sein Tempo verlangsamt. Dennoch ist es ein Hoffnungsschimmer. Wenn wir den Druck aufrechterhalten, wird er anfangen, Fehler zu machen. Und, meine Damen und Herren von der Presse, Sie haben mein Wort, dass wir seine Fehler nicht übersehen werden.«
»Er hat es gut gemacht«, sagte Carmine an diesem Abend zu Desdemona. »Der freie Mitarbeiter von AP hat ihn gefragt, ob er bei den nächsten Wahlen zum Gouverneur kandidieren werde. ›Nein, Sir, Mr Dalby‹, antwortete er und grinste dabei von einem Ohr zum anderen, ›verglichen mit Regierungsaufgaben ist der Job eines Polizisten ein glücklicher, trotz Gespenstern und allem.‹«
»Die Menschen reagieren auf ihn. Als ich ihn in den Sechs-Uhr-Nachrichten sah, hat er mich an einen alten, angeschlagenen Teddybären erinnert.«
»Der Gouverneur mag ihn, was viel wichtiger ist. Man tut Kriegshelden nicht als unfähige Idioten ab.«
»Er muss aber schon ein ziemlich bejahrter Kriegsheld gewesen sein.«
»Das war er.«
»Sie klingen ein wenig verschnieft, Carmine. Haben Sie sich etwa erkältet?«, fragte Desdemona und nahm sich ein weiteres Stück Pizza. Oh, es war schön, dass sie sich wieder vertragen hatten!
»Nachdem wir bei Temperaturen unter null in ungeheizten Autos herumgesessen haben, werden wir wohl alle die Grippe kriegen.«
»Wenigstens mussten Sie mich nicht überwachen.«
»Aber das haben wir, Desdemona.«
»Oh, was für ein Einsatz an Arbeitskraft!«, hauchte sie. »Sechsundneunzig Mann?«
»Exakt.«
»Wen haben Sie geerbt?«
»Das ist geheim. Was läuft am Hug, seit Faith verschwunden ist?«
»Der Professor ist immer noch in der Klapsmühle. Wenn er herausfindet, dass Nur Chandra eine Stelle in Harvard angenommen hat, wird er gleich wieder zusammenbrechen. Es ist mehr, als nur seinen hellsten Stern zu verlieren. Dazu kommt, dass in Nurs Vertrag steht, die Affen gingen mit ihm. Ich nehme an, Nur hat die Einladung um Cecil erweitert, ebenfalls mit ihm nach Massachusetts zu gehen – Cecil ist davon begeistert. Schluss mit dem Leben im Ghetto. Die Chandras haben ein piekfeines Anwesen gekauft, und Cecil wird ein hübsches Häuschen auf dem Grundstück bekommen. Ich freue mich sehr für ihn, aber der Professor tut mir gleichzeitig sehr leid.«
»Hört sich für mich komisch an. Ein Vertrag, der es einem erlaubt, Dinge mitzunehmen, für die andere Leute bezahlt haben? Das ist so ähnlich wie ein Kongressabgeordneter, der die Remington von der Wand seines Büros nimmt, wenn er aus dem Amt gewählt wird.«
»Zu dem Zeitpunkt, als Nur zum Hug kam, hatte der Professor allen Grund auf der Welt, diese Klausel zu ignorieren. Er wusste, dass Nur nirgendwo etwas finden würde, das auch nur annähernd so perfekt für seine Forschung war wie das Hug. Und das war auch so, bis dieses abscheuliche Monster von einem Mörder auftauchte.«
»Ja, wer hätte das voraussehen können? Ich werde langsam so paranoid, dass sich daraus ein weiteres Motiv ergibt. Immerhin steht ein Nobelpreis auf dem Spiel.«
»Wissen Sie«, sagte Desdemona nachdenklich, »ich hatte schon immer so ein komisches Gefühl, dass Nur Chandra den Nobelpreis gar nicht gewinnt. Irgendwie ist alles viel zu einfach gewesen. Der einzige Affe, bei dem sich ein bedingter epileptischer Zustand nachweisen ließ, ist Eustace, und es ist in der Wissenschaft sehr gefährlich, wenn man seine gesamten Hoffnungen auf einen einzigen Star setzt. Was, wenn Eustace die ganze Zeit latent epileptisch war, und etwas, das so überhaupt gar nichts mit Nurs Stimuli zu tun hat, hat die Krankheit mit einem Mal zum Ausbruch gebracht? Es sind schon merkwürdigere Dinge passiert.«
»Sie sind erheblich klüger als alle anderen zusammen«, sagte Carmine anerkennend.
»Klug genug, um zu wissen, dass ich keinen Nobelpreis gewinnen werde!«
Sie wechselten zu den Sesseln. Für gewöhnlich setzte Carmine sich neben Desdemona, doch an diesem Abend nahm er ihr gegenüber Platz.
Gestern war er nach Groton gefahren, um mit Edward Bewlee zu sprechen, einem Mann, so vernünftig und gescheit wie Desdemona. Doch das Gespräch hatte keine Rätsel gelöst.
»Etta war fest entschlossen, ein berühmter Rockstar zu werden«, hatte Mr Bewlee gesagt. »Sie hatte eine wunderbare Stimme, und sie konnte sich gut bewegen.«
Und sie konnte sich gut bewegen. War es das, was die Gespenster angezogen hatte?
Zurück in die Gegenwart – zu Desdemonas vernünftigem und gescheitem Gesicht.
»Sonst irgendwelche Neuigkeiten von der Hug-Front?«, fragte er.
»Chuck Ponsonby vertritt den Professor. Er gehört nicht zu meinen Lieblingsmenschen, aber wenigstens kommt er mit seinen Problemen zu mir statt zu Tamara. Anscheinend hat sie versucht, Keith Kyneton zu sehen, und er hat ihr die Tür seines Büros vor der Nase zugeknallt. Also trägt Hilda definitiv den Lorbeerkranz. Ihr Äußeres hat sich ohne Ende verbessert – ein gutgeschnittenes, schwarzes Kostüm, tomatenrote Seidenbluse, italienische Schuhe, eine neue Frisur einschließlich Tönung, anständiges Make-up – und, falls Sie das überhaupt glauben können, Kontaktlinsen statt Brille! Sie sieht aus wie die perfekte Frau für einen prominenten Neurochirurgen.«
»Bereit für New York City«, sagte Carmine lächelnd. »Nette Vorstellung, dass etwas, das ich zu Kyneton gesagt habe, den Nebel durchdrungen hat.« Er rutschte auf seinem Platz herum. »Man erzählt sich hier im Haus, dass Satsuma den Mietvertrag für sein Penthouse und Eidos Apartment nicht verlängert.«
»Das könnte durchaus so sein. Er schwankt zwischen Angeboten von Stanford, Washington State und Georgia. Was höchstwahrscheinlich bedeutet, dass er an der Columbia landen wird.«
»Wie haben Sie das denn herausbekommen?«
»Hideki ist ein Stadtmensch, und New York City bedeutet, dass er sein Wochenendhäuschen in Cape Cod nicht aufgeben muss. Eine lange Fahrt, sicher, aber immer noch machbar. Er wäre nach Boston gegangen, wäre Nur Chandra nicht schneller als er in Massachusetts gewesen. Jede andere Universität als Harvard wäre eine schreckliche Verschlechterung gewesen. Für mich persönlich ist Hideki jedoch der aussichtsreichere Kandidat für den Nobelpreis. Protzende Forscher mögen die wissenschaftliche Presse ja faszinieren, sie setzen sich aber nur selten durch.« Desdemona sprang auf. »Zeit fürs Bett. Vielen Dank für die Pizza, Carmine.«
Ohne einen angemessenen Kommentar zu finden, brachte er sie zwei Stockwerke hinunter zu ihrer Stahltür mit Bolzenschloss und Zahlenkombination, vergewisserte sich, dass sie auch ja gut abgeschlossen hatte, und kehrte mit einem merkwürdig niedergeschlagenen Gefühl in sein eigenes Reich zurück. Es hatte ihm auf der Zunge gelegen, zu fragen, ob er eine Chance hatte, ihre Beziehung auf eine vertraulichere Ebene zu verlagern, aber mit ihrem federnden Schritt, ihrem nüchternen Abgang waren ihm die Worte im Hals steckengeblieben.
Die Wahrheit war, dass Carmines Avancen nicht eindeutig genug gewesen waren, dass Desdemona erahnte, dass sie überhaupt existierten. Und auch wenn ihre eigenen Gefühle durchaus ein gewisses Verlangen nach ihm verspürten, wagte sie dennoch nicht, länger in seiner Gesellschaft zu verweilen, nachdem alles gesagt worden war, was es über das Hug zu erzählen gab. Sie hatte sich vor einem langen Schweigen gefürchtet, war nicht sicher, ob sie damit klarkam.
Außerdem war sie ausgesprochen müde. Nach heftigen Diskussionen hatte sie sich das Privileg erkämpft, ihre Wanderungen am Wochenende wieder aufnehmen zu können – unter der Maßgabe, dass sie mit einem Streifenwagen, dessen Besatzung darauf achtete, dass ihnen niemand folgte, zum Ausgangspunkt gefahren und an einem Punkt wieder abgeholt wurde. Also war sie am Samstag und Sonntag in der Nordwestecke des Bundesstaates gewandert, und diese inzwischen ungewohnte körperliche Betätigung verschaffte ihr einen ordentlichen Muskelkater. Der Appalachian Trail hatte auch im Winter seine ganz eigenen Reize, aber zeitweilig hatte Desdemona bedauert, ihre Schneeschuhe nicht eingepackt zu haben.
Nach einem langen, heißen Bad hatte sie sich gut abgetrocknet und war in ihre gewohnte Schlafkleidung geschlüpft – einen Herren-Flanellschlafanzug und dicke, wollene Bettsocken. Für Desdemona kam eine Heizung, die warme Luft ausstieß, nicht in Frage! Darin war sie Carmine Delmonico sehr ähnlich.
Sie war eingeschlafen, sobald sie sich hingelegt hatte, und träumte von nichts, woran sie sich später erinnern konnte, nur dass ein sonderbares Geräusch sie um vier Uhr morgens aufweckte. Ein Kratzen mit einem leicht schrillen Unterton.
Kerzengerade im Bett sitzend, machte sich der Gedanke breit, dass es nicht das Geräusch selbst war, das sie geweckt hatte; dafür war irgendein Urgefühl von unmittelbar bevorstehendem Unheil verantwortlich. Die Schlafzimmertür stand offen, dahinter der in Dunkelheit getauchte Wohnbereich des kleinen Apartments. Und pechschwarz war es auch im Schlafzimmer. Keine Kobolde, die Nachtlichter verlangten, suchten Desdemonas Schlaf heim. Und doch flackerte für einen Sekundenbruchteil kurz ein Lichtstrahl vom Korridor draußen auf, mittendrin ein Schatten, mannshoch, mit den Konturen eines Mannes. Sofort wieder verschwunden, als die Wohnungstür geschlossen wurde. Ich bin nicht allein. Er ist hier drinnen, er ist gekommen, um mich zu töten.
Auf einem Stuhl neben dem Bett lag die »kleine Wäsche« des Tages, die in die Maschine zu stecken sie noch nicht geschafft hatte – Höschen, BH, Strümpfe, ein Paar wollene Strickhandschuhe. Ohne einen Laut war Desdemona aus dem Bett, hinüber zum Stuhl, die Finger nach den Handschuhen tastend. Gefunden, streifte sie einen über jede Hand und zwang sich, ohne in ein reflektierendes Licht zu treten, zur Schiebetür auf den Balkon zu schleichen, die geschlossen und mit einer Stahlstange verriegelt war, die in der Führungsschiene lag. Sie bückte sich, entfernte die Stahlstange, löste die Verriegelung und schob die Tür gerade weit genug auf, um hinaus auf den Balkon schlüpfen zu können, einen schmalen Betonsims, eingefasst von einem einen Meter zwanzig hohen eisernen Ding aus Stangen und Handlauf.
Carmine schlief zwei Stockwerke höher auf der Nordostseite des Nutmeg Insurance Building, praktisch genau gegenüber von dem Punkt, an dem sie sich befand. Das bedeutete, wenn sie ihn erreichen wollte, dann musste sie zwei Etagen hoch mit etwa einem Dutzend Apartments zwischen ihnen auf seiner oder ihrer Etage. Kletterte sie zuerst zwei Etagen hoch oder zunächst über die Balkone auf ihrem eigenen Stockwerk, bis sie direkt unter seinem stand? Nein, zuerst nach oben, Desdemona! Verschwinde, so schnell du nur kannst, von dieser Etage. Die Frage war nur, wie!
Jedes Stockwerk bedeutete einen Höhenunterschied von rund drei Metern, eine Zimmerhöhe von zwei Meter siebzig innen plus dreißig Zentimeter Betondecke. Zu weit, um hinaufreichen zu können, viel zu weit …
Der Wind pfiff, aber nachdem sie die Schiebetür erst einmal geschlossen hatte, würde kein Luftzug mehr durch die Isolierverglasung hineingelangen. Bitterkalt schnitt der Wind durch ihren Schlafanzug, als wäre er aus Papier. Desdemona sprang hinauf auf das Balkongeländer, verharrte dort, zehn Stockwerke über der Straße, schwankend, während der Wind an ihr zerrte. Sie griff nach oben über den dreißig Zentimeter dicke
Sims und fand schließlich den unteren Teil der Balustrade eine Etage höher. Da! Nur ihre Größe und ein jugendlicher Hang zum Turnen machten es möglich, aber sie besaß diese Größe, diesen Hang. Mit beiden Händen umklammerte sie die Unterseite des oberen Geländers, löste die Füße von der Balustrade und sprang. Ein riesiger Satz, und sie stand auf dem Balkon über ihrem eigenen.
Ein Stockwerk geschafft, eines noch zu bezwingen. Ohne Verschnaufpause stieg sie auf das Geländer und griff wieder nach dem unteren Teil der Balustrade auf Carmines Etage. Na los, Desdemona, mach’s, bevor du nicht mehr kannst! Wieder hochschwingen, um den Balkon zwei Etagen über ihrem zu erreichen.
Jetzt musste sie nur noch auf dieser Etage von einem Balkon zum nächsten klettern – leichter gesagt als getan, da zwischen dem Ende des einen und dem Anfang des nächsten eine beträchtliche Lücke klaffte. Sie entschied sich, diese Lücke zu überbrücken, indem sie zunächst auf dem Geländer balancierte und dann mit aller Kraft auf die nächste Balustrade hinübersprang. Ihre Füße wurden bereits taub, und in den Händen in ihren Wollhandschuhen hatte sie schon längst kein Gefühl mehr. Aber es war zu schaffen – sie musste es schaffen.
Schließlich stand sie auf Carmines Balkon und begann, gegen die Schiebetür seines Schlafzimmers zu trommeln.
»Carmine, Carmine! Lassen Sie mich rein!«, schrie sie.
Die Tür wurde aufgerissen; lediglich mit Boxershorts bekleidet, stand er vor ihr, musterte sie kurz und zog sie dann hinein.
Im nächsten Augenblick hatte er die Daunensteppdecke von seinem Bett gezogen und legte sie ihr um die Schultern.
»Er ist in meiner Wohnung«, brachte Desdemona heraus.
»Bleiben Sie hier und wärmen Sie sich auf«, sagte Carmine, drehte den Thermostat hoch und zog sich noch im Laufen seine Hose an. Dann war er fort.
»Seht euch das an«, sagte er zwanzig Minuten später an Desdemonas offenstehender Tür zu Abe und Corey.
Der harte stählerne Bolzen war einfach durchtrennt worden; ein kleiner Haufen Eisenspäne lag auf dem Boden an der Stelle, wo sich die Absperrung befunden hatte.
»Mein Gott!«, stieß Abe flüsternd aus.
»Wir müssen ein neues Handwerk lernen«, sagte Carmine grimmig. »Wenn das hier irgendwas beweist, dann, dass unsere Vorstellungen bezüglich Sicherheit überholt sind. Um ihn draußen zu halten, hätten wir eine Überlappung des Metalls auf der Außenseite der Tür haben müssen. Oh, er ist weg – genau in dem Moment, als er merkte, dass Desdemona geflohen war, vermute ich. Hinausgehuscht wie ein Gespenst.«
»Wie zum Teufel ist sie nur an ihm vorbeigekommen?«, fragte Corey.
»Sie ist auf ihren Balkon, hat sich zwei Etagen nach oben katapultiert, ist dann über die Balkone der dazwischenliegenden Wohnungen zwischen hier und meinem Apartment gestiegen. Ich habe dann gehört, wie sie gegen meine Balkontür gehämmert hat.«
»Dann muss sie jetzt aber ziemlich fertig sein, bei diesem Wetter – Metallgeländer, der Wind.«
»Desdemona doch nicht!«, sagte Carmine mit einer Spur Stolz in der Stimme. »Sie hat Handschuhe angezogen.«
»Ein Teufelsweib«, meinte Abe ehrfürchtig.
»Ich muss wieder zu ihr. Leitet alles Nötige in die Wege. Durchsucht das Haus vom Penthouse bis in die Keller.«
Als er Desdemona wenig später immer noch unter seiner Bettdecke vorfand, wickelte er sie aus. »Geht’s wieder?«
»Als hätte ich mir die Arme ausgekugelt, so fühle ich mich, aber – ach, Carmine, ich bin entkommen! Er war da, stimmt’s? Ich habe mir das alles nicht nur eingebildet, oder?«
»Ja, er war da. Hat mit so etwas wie einer Bogensäge mit Diamantblatt den Stahlbolzen durchtrennt – eine dünne, feine Säge, die durch alles schneidet, wenn ein Fachmann sie führt. Daher wissen wir jetzt, dass er ein Experte ist. Hat nicht versucht, es zu schnell zu machen und dabei womöglich das Sägeblatt abzubrechen. Dieser Mistkerl! Er hat auf unsere Sicherheitsvorkehrungen gespuckt!« Carmine bückte sich, um ihr die durchnässten Socken auszuziehen, und untersuchte dann die Haut ihrer Füße. »An diesem Ende hier haben Sie’s überlebt. Jetzt lassen Sie mal Ihre Hände sehen. Sie sind eine unglaubliche Frau, Desdemona.«
Inzwischen gründlich aufgewärmt, begann sie zu glühen. »Das ist ein Kompliment, das ich stets behüten werde, Carmine.« Dann zitterte sie. »Oh, aber ich hatte eine solche Angst! Ich hatte zwar nur seinen Schatten gesehen, als er die Wohnungstür aufmachte, aber ich wusste genau, dass er gekommen war, um mich zu töten. Aber warum? Warum ausgerechnet mich?«
»Vielleicht, um so an mich heranzukommen. Um an die Cops heranzukommen. Um zu beweisen, dass ihn nichts aufhalten kann, falls und wenn er sich entscheidet, zu handeln. Das Problem ist, dass wir normale Kriminelle gewohnt sind, Männer, die nicht den Verstand oder die Geduld besitzen, eine solche Nummer durchzuziehen, wie einen fünf Zentimeter starken Stahlbolzen durchzusägen. Diamantsägeblatt oder nicht, er muss mehrere Stunden dafür benötigt haben.«
Plötzlich griff er nach ihr und zog sie fest an sich. »Desdemona, fast hätte ich dich verloren! Du musstest dich selbst retten, während ich geschlafen habe! Oh, mein Gott, Desdemona, ich wäre gestorben, wenn ich dich verloren hätte!«
»Du wirst mich nicht verlieren, Carmine«, sagte sie mit einem Seufzer, vergrub ihren Kopf an seiner Schulter und ließ ihre Lippen über seinen Hals gleiten. »Ich hatte schreckliche Angst, ja, aber ich habe nie auch nur einen Moment daran gedacht, woandershin zu gehen als zu dir. Ich weiß, dass ich bei dir sicher bin.«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch. Aber noch sicherer würde ich mich fühlen, wenn du mich jetzt ins Bett bringst«, sagte Desdemona und hob den Kopf. »Ich habe da ein paar Stellen, die seit Jahren nicht mehr aufgetaut sind.«