Kapitel sechzehn

Donnerstag, den 13. Januar 1966

 

»Carmine sieht fertig aus«, flüsterte Marciano Patrick zu.

»Er und Desdemona sind sich nicht gerade grün.«

Commissioner Silvestri räusperte sich. »So, wie viele von denen haben es denn nun abgelehnt, dass wir uns ohne Durchsuchungsbefehl umschauen?«

»Im Allgemeinen sind sie sehr kooperativ gewesen«, sagte Carmine, der tatsächlich ziemlich niedergeschlagen aussah. »Ich bekomme zu sehen, worum ich bitte, auch wenn ich darauf achte, dass zumindest immer einer von ihnen bei mir ist. Ich habe Charles Ponsonby nicht um Erlaubnis gebeten, seinen Wald durchsuchen zu dürfen, weil ich keinen Sinn darin sah. Falls Corey und Abe in all diesem Schnee frische Spuren oder Anhaltspunkte dafür finden sollten, dass Spuren verwischt wurden, werde ich fragen. Ich wette jedoch, dass diese zwanzig Morgen unberührt sein werden, warum also Chuck und Claire vorzeitig Kummer bereiten?«

»Sie mögen Claire Ponsonby«, sagte Silvestri. Eine Tatsachenfeststellung.

»Ja, eine erstaunliche Frau, die keinerlei Groll hegt.« Er verbannte sie aus seinem Kopf. »Um Ihre ursprüngliche Frage zu beantworten: Bislang habe ich Ablehnungen von Satsuma, Chandra und Schiller erhalten, den drei Ausländern. Ich vermute, Satsuma hat seinen persönlichen Sklaven Eido ungefähr zehn Sekunden, nachdem ich sein Penthouse verließ, zu seinem Cottage auf Cape Cod geschickt. Chandra ist ein arroganter Bastard, was aber wahrscheinlich beim erstgeborenen Sohn eines Maharadschas nachvollziehbar ist. Selbst wenn es uns gelingen sollte, einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen, würde er sich bei der indischen Botschaft beschweren. Schiller ist da schon eher ein mitleiderregenderer Fall. Ich verdächtige ihn wegen eines Haufens Fotos nackter junger Männer an seinen Wänden, allerdings habe ich ihm wegen seines Selbstmordversuchs noch nicht weiter zugesetzt. Es war ein ernstzunehmender Versuch, keine Effekthascherei.« Carmine grinste breit. »Apropos Fotos nackter Männer – ich habe ein Prachtexemplar in Tamara Vilichs Ketten-und-Leder-Schlafzimmer gefunden. Niemand anderen als diesen ambitionierten Neurochirurgen Keith Kyneton, der besser strippt als Mr Universe. Man sagt ja, diese Bodybuildertypen kompensieren damit nur ihren zu kleinen Schwanz, aber das kann ich bei ihm wirklich nicht sagen. Er hat ein Gemächt wie ein Pornostar.«

»Und, was meinst du?«, fragte Marciano, der sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, um Silvestris Zigarre auszuweichen. »Schließt das die Kynetons aus? Oder Tamara Vilich?«

»Nicht ganz, Dany, gleichwohl sie auf meiner persönlichen Liste nie weit oben gestanden haben. Sie malt sehr abgedrehte Bilder, und sie ist eine Domina.«

»Dann lässt sich Keith-Baby also gern die Scheiße aus dem Leib schlagen.«

»Anscheinend. Allerdings kann Tamara nicht zu viele Spuren auf ihm hinterlassen, denn sonst bekäme seine ihn über alles liebende Ehefrau ja etwas davon mit. Seine Mutter tut mir am meisten leid.«

»Noch jemand, den Sie mögen«, sagte Silvestri.

»Ja, man muss auch anfangen, sich Sorgen zu machen, wenn ich mal niemanden mehr mag.«

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Marciano.

»Tamara wegen der Sache mit Kyneton nerven.«

»Das wird dir dann ja nicht schwerfallen. Sie magst du definitiv nicht.«

Carmine stellte sie in ihrem Büro zur Rede. »Ich habe das Foto von Dr. Kyneton unter dem von Ihrer Mum gefunden«, sagte er unverblümt und bewunderte ihr Temperament; furchtlos hob sie ihre Augen, in diesem Licht eher khakifarben, zu seinem Gesicht.

»Vögeln ist nicht morden, Lieutenant«, sagte sie. »Zwischen mündigen Erwachsenen ist es nicht mal ein Verbrechen.«

»Das Vögeln interessiert mich nicht, Miss Vilich. Wissen möchte ich hingegen, wo Sie sich zum Vögeln treffen.«

»In meinem Haus, in meiner Wohnung.«

»Wo mindestens die Hälfte Ihrer Nachbarn in der medizinischen Fakultät der Chubb oder auf dem Science Hill arbeitet? Jemand, der Kyneton oder seinen Wagen kennt, muss ihn dann doch früher oder später entdecken. Ich glaube, Sie haben irgendwo ein geheimes Refugium.«

»Sie irren sich, das haben wir nicht. Ich bin Single, ich wohne allein, und Keith achtet darauf, dass niemand in der Nähe ist, wenn er vor Einbruch der Dunkelheit kommt. Er kommt nie vor Einbruch der Dunkelheit. Deshalb liebe ich übrigens den Winter.«

»Was ist mit Gesichtern, die hinter Spitzengardinen nach draußen linsen? Durch Ihre Affäre mit Dr. Kyneton ist er gleich zweifach mit dem Hug verbunden. Seine Frau und seine Geliebte arbeiten dort. Weiß seine Frau davon?«

»Sie ist völlig ahnungslos, aber ich nehme an, Sie werden jetzt überall über Keith und mich das Maul aufreißen«, sagte Tamara übellaunig.

»Ich reiße mein Maul nicht auf, Miss Vilich, aber ich werde mit Keith Kyneton sprechen müssen und mich vergewissern, dass Sie nicht doch irgendwo einen geheimen Zufluchtsort haben. Ich rieche Gewalttätigkeit in Ihrer Beziehung, und Gewalttätigkeit bedeutet in aller Regel ein sicheres Versteck.«

»Wo niemand die Schreie hören kann. So weit gehen wir nie, Lieutenant, es ist vielmehr so, dass wir ein Szenario durchspielen«, sagte sie. »Strenge Lehrerin und ungezogener kleiner Junge, Polizistin mit Handschellen und Gummiknüppel – Sie wissen schon.« Ihre Miene veränderte sich, sie schüttelte sich. »Er wird Schluss mit mir machen. Mein Gott, was werde ich dann tun? Was werde ich tun, wenn er mich abserviert hat?«

Was mal wieder beweist, dachte Carmine, als er ging, wie unzutreffend Mutmaßungen sein können. Ich dachte, sie liebt einzig und allein sich selbst, aber sie ist völlig verrückt nach einem Deppen wie Keith Kyneton, was wiederum ihre Bilder erklären könnte. Sie zeigen, wie sie zur Liebe steht – wie traurig, die Liebe zu hassen! Weil sie weiß, dass Keith ausschließlich wegen Sex da ist. Er liebt Hilda – falls er überhaupt lieben kann.

Tamara erwischte Carmine am Fahrstuhl.

»Wenn Sie sich beeilen, Lieutenant, erwischen Sie Dr. Kyneton zwischen zwei OPs«, sagte sie. »Das Holloman Hospital, neunter Stock. Der beste Weg dorthin ist der Tunnel.«

Er war so gespenstisch wie alle Tunnel. Nach Erkundung des Tunnellabyrinths, in dem die Japse während des Krieges auf manchen Pazifikinseln gelebt hatten, fürchtete Carmine sich vor ihnen und hatte sich beispielsweise in London zwingen müssen, in die Eingeweide der Erde hinabzusteigen, um die Verbindungstunnel zwischen U-Bahn-Linien gehen zu können. Tunnel besaßen so ein böses Knurren, transportierten eine gewisse Entrüstung der aufgebrachten Erde, in die der Mensch eindrang. Ein Tunnel konnte noch so trocken und hell erleuchtet sein, er suggerierte doch immer lauernden Schrecken. Carmine legte die hundert Meter des Hug-Tunnels mit großen Schritten zurück, nahm dann die Abzweigung rechts und erreichte den Keller des Krankenhauses neben der Wäscherei.

Die Operationssäle befanden sich ausschließlich im neunten Stock, aber Dr. Keith Kyneton erwartete ihn vor den Fahrstühlen, ganz in Grün gekleidet, eine Gesichtsmaske aus Baumwolle um den Hals.

»Ich bestehe darauf, dass wir dies privat und vertraulich behandeln«, flüsterte der Neurochirurg. »Schnell, hier hinein!«

»Hier« war ein Lagerraum voller Kartons mit Krankenhausbedarf, ohne einen Stuhl oder eine Atmosphäre, die Carmine sich zunutze machen könnte.

»Miss Vilich hat es Ihnen gesagt, richtig?«, fragte er. »Ich war immer dagegen, dass sie dieses verfluchte Foto machte.«

»Sie hätten es zerreißen sollen.«

»Ach, meine Güte, Lieutenant, Sie verstehen das nicht! Sie wollte es! Tamara ist – ist phantastisch!«

»Das glaube ich Ihnen unbenommen, wenn Sie es gern pervers haben. Schwester Katheter und ihr Klistier. Wer hat damit angefangen?«

»Ich kann mich ehrlich nicht mehr daran erinnern. Wir waren beide betrunken, eine Krankenhausparty, zu der Hilda nicht mitkommen konnte.«

»Wann war das?«

»Vor zwei Jahren. Weihnachten 1963.«

»Wo treffen Sie sich immer?«

»In Tamaras Wohnung. Ich bin sehr vorsichtig, wenn ich komme und gehe.«

»Nirgendwo sonst? Kein kleines Refugium auf dem Land?«

»Nein, nur bei Tamara.«

Plötzlich drehte Kyneton sich um, legte beide Hände auf Carmines Unterarm und klammerte, zitterte, während ihm Tränen übers Gesicht rollten.

»Lieutenant! Sir! Bitte, ich flehe Sie an, erzählen Sie es niemandem! Meine Teilhaberschaft in New York City ist praktisch im Sack, aber wenn die das hier herausfinden, werde ich alles verlieren!«, jammerte er.

Mit seinen Gedanken bei Ruth und Hilda, bei ihren ständigen Opfern für dieses große, verwöhnte Baby, schüttelte Carmine den Griff energisch ab.

»Ihre kostbare Praxis in New York interessiert mich einen Scheißdreck, aber zufälligerweise mag ich Ihre Mutter und Ihre Frau. Sie haben keine von beiden verdient! Ich werde das niemandem gegenüber erwähnen, aber Sie sind doch sicherlich nicht dumm genug, zu glauben, dass Tamara Vilich ebenso nachsichtig sein wird! Sie werden sie abservieren, gleichgültig, wie phantastisch der perverse Sex mit ihr auch immer sein mag, und sie wird sich dafür wie jede andere verschmähte Frau rächen. Morgen wird es jeder wissen, der Ihnen etwas bedeutet. Ihr Professor, Ihre Mutter, Ihre Frau und die New Yorker Mischpoke ebenfalls.«

Kyneton ließ die Schultern hängen, schaute sich vergebens nach einem Stuhl um und hielt sich stattdessen an einem Karton Wattestäbchen fest. »Oh, mein Gott, ich bin erledigt!«

»Kyneton, um Himmels willen!«, fuhr Carmine ihn an. »Sie sind nicht erledigt – noch nicht. Suchen Sie jemanden, der die nächste Operation für Sie übernehmen kann, schicken Sie Ihre Frau nach Hause und folgen Sie ihr. Wenn Sie dann mit ihr und Ihrer Mutter allein sind, gestehen Sie alles. Gehen Sie vor Ihnen auf die Knie und bitten um Verzeihung. Schwören Sie, es nie wieder zu tun. Und verheimlichen Sie nichts. Sie sind ein sprachlich gewandter Schwindler, Sie werden es schon schaffen, die zwei auf Ihre Seite zu holen. Aber Gott helfe Ihnen, wenn Sie diese beiden Frauen in Zukunft nicht anständig behandeln, hören Sie? Im Augenblick beschuldige ich Sie keiner strafbaren Handlung, aber denken Sie nur ja nicht, ich könnte nichts finden, dessen ich Sie beschuldigen könnte, wenn ich das wirklich will, und ich verspreche Ihnen, ich werde Sie immer im Auge behalten, solange ich Bulle bin. Eine letzte Sache noch. Wenn Sie das nächste Mal bei Brooks Brothers einkaufen, besorgen Sie Ihrer Mutter und Ihrer Frau etwas Nettes.«

Hörte der Dreckskerl überhaupt zu? Ja, aber nur dem, wovon er vermutete, dass es ihm den Hintern rettete. »Nichts davon hilft mir aber bei meiner Teilhaberschaft.«

»Doch, doch. Vorausgesetzt, Ihre Mutter und Ihre Frau stehen zu Ihnen. Sie drei schaffen es, dass Tamara Vilich wie eine frustrierte Frau dasteht, die einen ganzen Haufen Lügengeschichten erzählt.«

Die Zahnrädchen klackerten. Kynetons Miene hellte sich auf. »Ja, ich verstehe, was Sie meinen! So muss es gemacht werden!«

Einen Augenblick später war Carmine auch schon allein. Keith Kyneton war ohne ein Wort des Dankes losgestürmt, um sein Leben wieder in Ordnung zu bringen.

»Und was, bitte schön«, wollte eine wütende Frauenstimme wissen, »denken Sie eigentlich, was Sie hier tun?«

Carmine zeigte der Krankenschwester, die aussah, als könne sie jeden Moment den Sicherheitsdienst des Krankenhauses verständigen, seine beeindruckende goldene Dienstmarke.

»Ich tue Buße, Ma’am«, sagte er. »Schreckliche Buße.«

Die Welt war einfach wunderschön, wenn sie unter einer frischen Schneedecke lag. Sobald Carmine seine wärmende Oberbekleidung abgelegt hatte, drehte er einen seiner Sessel zu dem großen Fenster, das einen Blick auf den Hafen bot, und knipste sämtliche Lampen aus. Das schrille Gelb der Autobahnbeleuchtung blendete ihn, aber wenn es auf Schnee fiel, war es gleich sanfter, goldener. Das Eis begann sich von der Ostküste ausgehend allmählich auszubreiten, auch wenn die Kais immer noch eine schwarze, hier und da glitzernde Leere waren. Zu viel Wind für lange, sich kräuselnde Reflexionen. Bis Mai würden nun keine Autofähren mehr verkehren.

Was sollte er wegen Desdemona unternehmen? All seine Anträge waren zurückgewiesen worden, seine Entschuldigungsschreiben waren ausnahmslos ungeöffnet zurückgekommen, unter seiner Tür durchgeschoben worden. Bis zu diesem Augenblick wusste er ehrlich und wahrhaftig nicht, warum sie so tödlich beleidigt gewesen war, so unnachgiebig – sicher, er hatte den Bogen überspannt, aber hatte nicht jeder mal eine kleine Auseinandersetzung? Es hatte etwas mit ihrem Stolz zu tun, doch was genau, das entzog sich ihm. Diese Mauer, die verschiedene Nationalitäten errichten konnten, war zu hoch, um auf die andere Seite zu sehen. War es seine Bemerkung, sie solle sich gelegentlich ein neues Kleid kaufen, oder war es einfach, dass er es gewagt hatte, ihr Verhalten mit einem Fragezeichen zu versehen? Hatte er es geschafft, dass sie sich unweiblich fühlte, oder …

»Ich geb’s auf«, sagte er laut, stützte das Kinn auf seiner Hand ab und versuchte, über das Gespenst nachzudenken. Das war sein neuer Name für das Monster, das so gar nichts gemein hatte mit populären Vorstellungen von Monstern.