Carmine und Desdemona heirateten Anfang Mai und verbrachten als Gäste von Myron Mendel Mandelbaum ihre Flitterwochen in L. A.; die Nachbildung des Hampton Court Palace war so riesig, dass ihre Anwesenheit weder Myron noch Sandra in Verlegenheit brachte. Myron stand jederzeit für sie zur Verfügung, wohingegen Sandra auf Wolke sieben der Bewusstlosigkeit schwebte. Etwas zu Carmines und Myrons Überraschung entschied sich Sophia, Desdemona zu mögen, deren Hypothese war, dass ihre neue Stieftochter mit der klaren, sachlichen Art, mit der ihre Stiefmutter sie behandelte, gut klarkam. Wie eine verantwortungsvolle, vernünftige Erwachsene. Ein gutes Omen.
Zurück in Holloman waren die Omen nicht ganz so gut. Als wenn das Hug nicht genug unter den Sensationen und Skandalen der letzten Monate gelitten hätte, produzierten seine Todeskämpfe noch einen weiteren, als Mrs Robin Forbes sich bei der Polizei von Holloman beschwerte, ihr Mann würde sie vergiften. Nachdem er von den frisch dekorierten Detective Sergeants Abe Goldberg und Corey Marshall befragt worden war, wobei er die Anschuldigungen voller Verachtung und Abscheu von sich wies, lud Forbes sie ein, von allen Nahrungsmitteln und Flüssigkeiten im Haus Proben zu nehmen, und zog sich in seinen Adlerhorst zurück. Als die Ergebnisse aller Analysen negativ waren, packte Forbes seine Bücher und Papiere in Kartons, nahm zwei Koffer und ging nach Fort Lauderdale. Dort wurde er Teilhaber in einer Praxis für Geriatrische Neurologie; solche Sachen wie Schlaganfälle und Altersdemenz hatten ihn nie interessiert, aber sie waren definitiv Professor Frank Watson und Mrs Robin Forbes vorzuziehen, von der er die Scheidung einreichte. Als Carmines Anwalt ihn wegen des Hauses an der East Circle kontaktierte, verkaufte er es deutlich unter Wert, um es Robin heimzuzahlen, die die Hälfte erhielt. Nach einem erschütternden Ringen, welche ihrer Töchter sie mehr brauchte, zog Robin nach Boston zu der angehenden Gynäkologin Roberta. Robina schickte ihrer Schwester eine Beileidskarte, aber Roberta war sogar hocherfreut, jetzt eine Haushälterin zu haben.
All das hatte zur Folge, dass Desdemona Sophia den Einzug in den Turm anbieten konnte.
»Es ist recht schön«, sagte sie leichthin, ohne zu enthusiastisch zu klingen. »Das obere Zimmer hat einen Dachgarten und würde ein schönes Wohnzimmer abgeben, und das Zimmer daneben könnte ein kleines Schlafzimmer sein, wenn wir ein Stück abknapsen und daraus eine Kochnische und ein kleines Bad machen. Carmine und ich dachten, dass du vielleicht auf der Dormer deinen Highschoolabschluss machen und dann über eine gute Universität nachdenken könntest. Wer weiß, vielleicht wird die Chubb noch zweigeschlechtlich, bevor du mit dem Studium beginnst. Was meinst du, hast du Interesse?«
Der verwöhnte Teenager jauchzte vor Freude; Sophia schlang ihre Arme um Desdemona und drückte sie. »O ja, bitte!«
Der Juli war schon fast zu Ende, als Claire Ponsonby Carmine eine Nachricht schickte, ihn sehen zu wollen. Ihre Bitte war eine Überraschung, aber selbst sie hatte nicht die Macht, ihm seine gute Laune an diesem wundervollen Tag zu verderben. Sophia war vor zwei Wochen aus L. A. angekommen und konnte sich immer noch nicht zwischen einer Tapete und farbig gestrichenen Wänden in ihrem Turm entscheiden. Es verblüffte ihn, über was sie und Desdemona alles reden konnten, genauso wie ihn seine einst so formelle Frau erstaunte. Wie einsam sie gewesen sein musste, als sie so knauserte und sparte, um sich ein Leben zu kaufen, mit dem sie nie zufrieden gewesen wäre, wenn man sich ansah, wie sie jetzt in der Ehe aufblühte. Obwohl ein wenig davon wohl auch auf ihre Schwangerschaft zurückzuführen war. Das Baby kam im November, und Sophia konnte es kaum erwarten. Kein Wunder, dass selbst Claire Ponsonby nicht die Macht hatte, Carmines Gefühl von Glück, von der Erfüllung seiner Träume zu trüben.
Claire Ponsonby und der Hund warteten auf der Veranda. Rechts und links neben einem kleinen Tisch aus Bambusrohr, auf dem eine Karaffe Limonade, zwei Gläser und ein Teller Kekse standen, waren zwei Stühle hingestellt.
»Lieutenant«, sagte sie, als er die Stufen heraufkam.
»Jetzt Captain«, meinte er.
»Meine Güte! Captain Delmonico. Das hört sich gut an. Setzen Sie sich, und trinken Sie ein Glas selbstgemachte Limonade. Es ist ein altes Familienrezept.«
»Danke, ich setze mich, aber bitte keine Limonade.«
»Sie würden nichts essen oder trinken, was ich zubereitet habe, nicht wahr?«, fragte sie süßlich.
»Offen gestanden, nein.«
»Ich verzeihe Ihnen. Dann setzen wir uns einfach nur.«
»Warum wollten Sie mich sehen, Miss Ponsonby?«
»Aus zwei Gründen. Zum einen, weil ich wegziehe. Und da meine Rechtsanwälte mir gesagt haben, niemand könne mich daran hindern, hielt ich es für vernünftig, Sie darüber zu informieren. Charles’ Kombi ist mit den Dingen beladen, die ich mitnehmen werde, und ich habe einen Chubb-Studenten engagiert, der mich und Biddy heute Abend nach New York City bringt. Den Mustang habe ich verkauft.«
»Ich dachte, Ponsonby Lane 6 wäre bis zu Ihrem Tode Ihr Zuhause?«
»Ich habe festgestellt, dass ich ohne den lieben Charles kein Zuhause mehr habe. Dann habe ich ein Angebot erhalten, das ich nicht ablehnen konnte. Major F. Sharp Minor hat mir eine recht ansehnliche Summe für das bezahlt, woraus er, wie ich annehme, ein Museum des Schreckens machen will. Diverse Reisebüros in New York wollen Zwei-Tages-Touren anbieten. Tag eins: Gemütliche Busfahrt durch die liebliche Landschaft Connecticuts, Abendessen und Übernachtung im Motel Major Minor. Tag zwei: eine geführte Tour über das Gelände des Monsters von Connecticut, einschließlich Besichtigung des legendären Tunnels. Vor der Tunneltür können die Rehe gefüttert werden, die garantiert dort warten. Schlendern Sie zurück zur Höhle des Monsters, und sehen Sie sich vierzehn Imitate der Köpfe an ihrem ursprünglichen Platz an. Und das alles mit Schreien und Heulen vom Band. Der Major bricht das alte Wohnzimmer auf, damit dreißig Gäste Platz haben, und macht aus unserem alten Esszimmer die Küche. Denn sein Küchenchef kann natürlich kein Essen auf einem AGA-Herd zubereiten, während die Leute zugucken, wie er auf- und zuschwingt. Dann mit dem Bus zurück nach New York«, sagte Claire ruhig.
»Ich dachte, Sie würden nichts davon glauben«, erwiderte Carmine.
»Tue ich auch nicht. Dennoch wurde mir versichert, dass all die Dinge existieren. Und wenn sie das tun, dann verdiene ich es, davon zu profitieren. Sie geben mir die Chance, noch einmal neu anzufangen, irgendwo fern von Connecticut. Ich denke an Arizona oder New Mexico.«
»Dann wünsche ich Ihnen Glück. Was war der zweite Grund?«
»Eine Erklärung«, sagte Claire und hörte sich weicher an, mehr nach der Claire, mit der er Mitleid gehabt und die er irgendwie gemocht hatte. »Ich halte Sie nicht mehr für den Stereotyp eines brutalen Bullen, Captain. Sie erschienen mir immer als ein Mann, der mit großem Engagement bei der Arbeit ist – aufrichtig und fast schon altruistisch. Ich verstehe, warum ich unter den Verdacht all dieser grauenhaften Verbrechen geriet, da Sie weiter darauf bestehen, dass mein Bruder der Mörder gewesen sei. Meine eigene Theorie ist, dass Charles und ich hereingelegt worden sind, dass jemand anderes all diese – Renovierungen in unserem Keller vorgenommen hat.« Sie seufzte. »Sei es, wie es will – ich habe entschieden, dass Sie Gentleman genug sind, um mir einige Fragen zu stellen, höflich und diskret.«
Carmine lehnte sich in seinem Stuhl vor, die Hände gefaltet. »Danke, Miss Ponsonby. Ich würde gerne mit der Frage beginnen, was Sie über den Tod Ihres Vaters wissen?«
»Ich habe mir gedacht, dass Sie das fragen würden.« Sie streckte ihre langen, sehnigen Beine, überkreuzte sie an den Fußgelenken und spielte mit einem Fuß an Biddys Halskrause. »Wir waren vor der großen Depression sehr begütert und haben gut gelebt. Die Ponsonbys haben das gute Leben immer sehr genossen – gute Musik, gutes Essen, guter Wein, schöne Dinge um uns herum. Mama hatte einen ähnlichen Hintergrund, Shaker Heights, wissen Sie. Aber die Ehe war keine Liebesheirat. Meine Eltern waren gezwungen, zu heiraten, weil Charles unterwegs war. Mama war bereit, alles Erdenkliche zu tun, um sich Daddy unter den Nagel zu reißen, der sie gar nicht wirklich wollte. Aber als es hart auf hart kam, hat er seine Pflicht getan. Sechs Monate später wurde Charles geboren. Zwei Jahre später kam Morton, und danach kam ich.«
Der Fuß hielt inne. Biddy winselte, bis Claire ihn wieder bewegte, und lag dann mit geschlossenen Augen da, die Schnauze auf den Vorderpfoten. Claire erzählte weiter.
»Wir hatten immer eine Haushälterin und eine Putzfrau. Ich meine, eine Angestellte, die bei uns wohnte und all die Hausarbeiten erledigte, bis auf das Kochen. Mama kochte gerne, aber sie hasste es, abzuwaschen oder Kartoffeln zu schälen. Ich glaube nicht, dass sie besonders tyrannisch war, doch eines Tages kündigte unsere Haushälterin. Und Daddy brachte Mrs Cantone mit nach Hause – Louisa Cantone. Mama war wütend. Wie er es wagen könnte, sich ihrer Rechte zu bemächtigen, und so weiter. Aber Daddy setzte ebenso gerne seinen Willen durch wie Mama, und also blieb Mrs Cantone. Sie war ein Juwel, was Mama wieder beruhigte – ich vermute, Mama hat von Anfang an gewusst, dass Mrs Cantone Daddys Geliebte war, aber eine lange Zeit ging alles gut. Dann gab es einen schrecklichen Streit. Mama bestand darauf, dass Mrs Cantone ginge, Daddy bestand darauf, dass sie bliebe.«
»Hatte Mrs Cantone ein Kind?«, fragte Carmine.
»Ja, ein kleines Mädchen namens Emma. Ein paar Monate älter als ich«, sagte Claire verträumt und lächelte. »Wir spielten zusammen und aßen gemeinsam. Ich konnte damals schon nicht besonders gut sehen, und so war Emma ein klein wenig mein Blindenhund. Charles und Morton hassten sie. Sehen Sie, der Streit kam deswegen, weil Mama herausfand, dass Emma Daddys Tochter war – unsere Halbschwester. Charles hatte die Geburtsurkunde gefunden.«
Sie schwieg, der Fuß kraulte Biddy weiter.
»Wie ging der Streit aus?«, fragte Carmine.
»Daddy musste am nächsten Tag zu einem dringenden Termin, und Mrs Cantone verließ uns mit Emma.«
»Wann war das genau?«
»Lassen Sie mich nachdenken … Ich war fast sechs, als er umgebracht wurde – ein Jahr davor.«
»Wie lange war Mrs Cantone schon bei Ihnen, als sie ging?«
»Achtzehn Monate. Sie war eine ausgesprochen hübsche Frau – Emma war ihr Ebenbild. Dunkel. Mischblut. Ihre Stimme war wundervoll. Ein Jammer, dass ihre Worte immer so banal waren.«
»Also warf Ihre Mutter sie hinaus, während Ihr Vater unterwegs war.«
»Ja, aber ich glaube, da war noch mehr. Wenn wir Kinder nur ein bisschen älter gewesen wären, könnte ich Ihnen mehr sagen, oder wenn ich, das Mädchen, die Älteste gewesen wäre – Jungen sind nicht so aufmerksam, wenn es um Emotionen geht. Mama konnte Menschen in Angst versetzen. Sie konnte Macht über andere ausüben. Ich habe oft mit Charles darüber gesprochen, und wir waren uns einig, dass Mama gedroht hatte, Emma umzubringen, wenn die beiden nicht für immer verschwänden. Und Mrs Cantone hat ihr geglaubt.«
»Wie hat Ihr Vater reagiert, als er nach Hause kam?«
»Es gab einen heftigen Streit. Daddy schlug Mama und rannte dann aus dem Haus. Er kam für lange nicht zurück – Tage? Wochen? Eine lange Zeit. Ich erinnere mich daran, dass Mama oft rastlos auf und ab ging. Dann kehrte Daddy zurück. Er sah entsetzlich aus, sprach nicht mit Mama, und wenn sie versuchte, ihn zu berühren, schlug er sie oder stieß sie weg. Dieser Hass! Und er – er weinte. Ständig, so schien es uns. Ich könnte mir denken, er kam unseretwegen nach Hause, aber er schleppte sich nur durch die Gegend.«
»Glauben Sie, Ihr Vater hat nach Mrs Cantone gesucht und konnte sie nicht finden?«
Die wasserblauen Augen schauten in eine blinde Unendlichkeit. »Nun, das wäre die logische Erklärung, oder? Eine Scheidung wurde schon damals verziehen, trotzdem zog Daddy es vor, Mrs Cantone als Angestellte bei sich im Haus zu haben. Mama, um den Schein zu wahren, und Mrs Cantone für seine fleischlichen Genüsse. Eine Mulattin aus der Karibik zu heiraten hätte seinen Ruf ruiniert, und Daddy war sein sozialer Status wichtig. Immerhin war er ein Ponsonby aus Holloman.«
Wie gleichgültig sie ist, dachte Carmine. »Wusste Ihre Mutter, dass er das Geld an der Wall Street verloren hatte?«
»Erst, nachdem Daddy tot war.«
»Hat sie ihn umgebracht?«
»Aber ja. Sie hatten an dem Nachmittag den schlimmsten Streit von allen – wir konnten sie oben hören. Wir haben nicht alles von dem verstanden, was sie gebrüllt haben, aber wir hörten genug, um zu begreifen, dass Daddy Mrs Cantone und Emma gefunden hatte. Und dass er vorhatte, Mama zu verlassen. Er zog seinen besten Anzug an und fuhr in seinem Auto davon. Mama schloss uns drei in Charles’ Zimmer ein und verließ das Haus mit dem zweiten Wagen. Es hatte angefangen zu schneien.« Ihre Stimme klang kindlich, als würde die pure Kraft dieser Erinnerungen sie zurück durch die Zeit schieben. »Weiter und weiter schwirrten die Schneeflocken herum, genauso, wie sie es in einer Glaskugel tun. Wir warteten endlos lang! Dann hörten wir Mamas Auto und begannen, an die Tür zu klopfen. Mama öffnete die Tür, und wir stürzten nach draußen – oh, wie dringend wir auf die Toilette mussten! Die Jungs ließen mir den Vortritt. Als ich herauskam, stand Mama im Hausflur mit einem Baseballschläger in der rechten Hand. Er war voller Blut, genauso wie sie. Dann kamen Morton und Charles aus dem Badezimmer, sahen sie und führten sie weg. Sie zogen sie aus und badeten sie, aber ich war vor lauter Hunger nach unten in die Küche gegangen. Charles und Morton entzündeten ein Feuer im alten Herd, wo jetzt der AGA steht, und verbrannten darin den Baseballschläger und ihre Kleidung. Wie traurig das war! Morton war danach nie wieder derselbe.«
»Sie meinen, bis dahin war er – nun, normal?«
»Ganz normal, Captain, obwohl er bis dahin noch nicht in die Schule gegangen war – Mama ließ uns erst mit acht mit der Schule anfangen. Aber nach diesem Tag sprach Morton nie wieder ein Wort. Oh, diese Wutanfälle! Mama hatte vor nichts und niemandem Angst, außer vor Morton bei einem seiner Wutanfälle.«
»Kam die Polizei?«
»Natürlich. Wir sagten, Mama sei bei uns zu Hause gewesen, im Bett mit Migräne. Als sie ihr erzählten, Daddy sei tot, wurde sie hysterisch. Bob Smith’ Mutter kam herüber, gab uns zu essen und saß bei Mama. Ein paar Tage später fanden wir heraus, dass wir unser Geld im Crash verloren hatten.«
Carmines Knie taten weh; der Stuhl war viel zu niedrig. Er stand auf, ging auf der Veranda hin und her und sah aus dem Augenwinkel, dass Claire Ponsonby in der Tat gepackt hatte. Der Kombi stand gepackt in der Einfahrt, vollgestopft mit Taschen, Kisten und einem identischen Paar kleiner Koffer aus einer Zeit mit mehr Stil und Muße, was das Reisen anging. Weil er sich nicht mehr hinsetzen wollte, lehnte er sich gegen das Geländer.
»Wussten Sie, dass auch Mrs Cantone und Emma in jener Nacht gestorben sind?«, fragte er. »Ihre Mutter hatte den Baseballschläger für alle drei benutzt.«
Claires Gesicht erstarrte. Der Fuß, der den Hund gestreichelt hatte, flog hoch wie bei einem Krampf. Carmine schenkte ihr ein Glas Limonade ein und fragte sich, ob er versuchen sollte, etwas Stärkeres zu finden. Aber Claire trank den Inhalt und gewann die Fassung wieder.
»Also das ist aus ihnen geworden«, sagte sie langsam, »und die ganze Zeit haben Charles und ich uns das gefragt. Niemand hat uns je gesagt, wer die anderen beiden gewesen sind, sondern haben nur von einer Bande Wanderarbeiter gesprochen, die einen Amoklauf veranstaltet hatten. Wir haben angenommen, Mama habe das benutzt, um ihre Tat zu vertuschen, und dass die anderen beiden Bandenmitglieder gewesen wären.«
Plötzlich lehnte sie sich abrupt nach vorn und streckte bittend eine Hand nach Carmine aus. »Erzählen Sie mir alles, Captain! Was ist passiert? Und wie?«
»Ich bin sicher, Sie hatten recht mit Ihrer Vermutung, Ihr Vater habe Ihrer Mutter gesagt, er wolle sie verlassen und ein neues Leben anfangen. Bestimmt hatte er Mrs Cantone und Emma gefunden, aber als er hinfuhr, um sie am Bahnhof zu treffen, was das das erste Mal, denn sie waren obdachlos, und es ging ihnen schlecht. Kein Geld und noch nicht einmal etwas zu essen. Die zweitausend Dollar, die er bei sich hatte, waren wahrscheinlich alles, was er zusammenkratzen konnte, um dieses neue Leben zu beginnen«, sagte Carmine. »Sie versteckten sich draußen im Schnee, was mich daran denken lässt, dass Ihre Mutter Menschen verängstigen konnte. Armer Mann! Er hat Ihrer Mutter zu viel erzählt, und drei Menschen mussten sterben.«
»All diese Jahre, und ich habe es nicht gewusst … Ja, noch nicht einmal vermutet.« Ihre Augen wandten sich seinem Gesicht zu, als könnten sie sehen, und glänzten vor Emotionen. »Ist das Leben nicht voller Ironie?«
»Möchten Sie, dass ich Ihnen einen richtigen Drink hole, Madam?«
»Nein, danke, mir geht es gut.« Claire zog ihre Beine an und steckte sie unter den Stuhl.
»Können Sie mir noch ein bisschen von Ihrem Leben danach erzählen?«
Sie zog eine Schulter hoch. »Was möchten Sie wissen? Auch Mama war hinterher nicht mehr dieselbe.«
»Hat niemand von draußen versucht zu helfen?«
»Sie meinen Leute wie die Smiths und die Courtenays? Mama nannte es ›seine Nase in fremde Angelegenheiten stecken‹. Sie hörten auf, es zu versuchen, und ließen uns in Ruhe. Wir kamen zurecht, Captain. Es gab ein kleines Einkommen, das Mama durch den Verkauf von Land aufstockte. Ihre eigene Familie hat geholfen, denke ich. Charles und ich gingen beide zur Dormer Day School, und sie bezahlte regelmäßig die Gebühren.«
»Was war mit Morton?«
»Jemand vom Schulamt kam vorbei, warf einen Blick auf ihn und kam nie wieder. Später erzählte Charles allen, Morton sei Autist, aber Autismus passiert nicht einfach so, wenn die Mutter den Vater umbringt. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Mortons Wutanfälle waren nie gegen Charles oder mich gerichtet, nur gegen Mama oder jeden Fremden, der vorbeikam.«
»Hat es Sie überrascht, als er so unerwartet starb?«
»Man könnte eher sagen, es schockierte mich. Bis auf dieses hier war 1939 das schrecklichste Jahr meines Lebens. Ich sitze über meinen Büchern, lerne, und eine graue Wand fällt herunter – wumm! Ich bin für immer blind. Ein Besuch beim Augenarzt, und ich sitze im Zug nach Cleveland. Kaum bin ich in der Blindenschule angekommen, ruft Charles mich an und sagt, Morton sei tot. Fiel einfach – um!« Sie erschauerte.
»Sie haben angedeutet, Ihre Mutter sei vor Januar 1930 mental nicht besonders stabil gewesen, aber ganz offensichtlich hat sie das gut kaschiert. Was ist also gegen Ende 1941 passiert, das eine echte Altersdemenz hervorgerufen hat?«
Claire verzog das Gesicht. »Was direkt nach Pearl Harbor passierte? Charles sagte, er werde heiraten. Erst zwanzig, aber kurz vor der Volljährigkeit. Mitten im Physikum an der Chubb. Er hatte beim Tanzen ein Mädchen aus Smith kennengelernt, und es war Liebe auf den ersten Blick. Mama drehte völlig durch. Das Mädchen floh. Ich bot an, nach Hause zu kommen und mich um Mama zu kümmern – wie sich herausstellte, für fast zweiundzwanzig Jahre. Nicht, dass ich für Charles nicht noch mehr als eine mühselige Sache wie diese getan hätte. Nehmen Sie aber nicht an, ich sei Mamas Sklave gewesen – ich lernte, sie zu kontrollieren. Aber während sie lebte, konnten Charles und ich unsere Liebe zu gutem Essen, Wein und Musik nicht richtig ausleben. Unter uns, Captain, Sie und Mama haben mein Leben ruiniert. Drei kostbare Jahre, in denen ich Charles ganz für mich allein hatte, das ist die Summe meiner Erinnerungen. Drei kostbare Jahre …«
Fasziniert fragte sich Carmine, ob Danny Marciano recht hatte. Waren Bruder und Schwester ein Liebespaar gewesen?
»Sie konnten Ihre Mutter nicht gerade leiden«, sagte er.
»Ich habe sie gehasst! Sie gehasst! Ist Ihnen klar«, fuhr Claire mit plötzlicher Heftigkeit fort, »dass Charles von seinem dreizehnten bis achtzehnten Geburtstag in einer Kammer unter den Treppen hausen musste?« Die Wut verflog; ein ängstlicher Funke flackerte in ihren Augen, der verschwand, als ihre Hände an den Mund flogen und ihre Zunge berührten. »Oh, das wollte ich nicht sagen. Das war etwas, was ich nicht sagen wollte. Es hat mich mitgerissen. Mitgerissen!«
»Besser ausgesprochen als verschluckt«, sagte Carmine. »Reden Sie weiter!«
»Jahre später hat mir Charles gesagt, Mama habe ihn beim Masturbieren erwischt. Sie wurde rasend. Sie schrie, brüllte, spuckte, biss und schlug – er hätte sich nie gegen Mama gewehrt. Ich habe mich immer gewehrt, aber Charles war das erstarrte Kaninchen im Angesicht der Schlange. Sie hat nie wieder mit ihm gesprochen, das brach sein armes, kleines Herz. Wenn er aus der Schule oder von Bob Smith nach Hause kam, ging es direkt in die Kammer. Es war eine große Kammer mit einer Glühbirne darin. Oh, Mama war ja so fürsorglich! Er hatte eine Matratze auf dem Boden und einen harten Stuhl – und es gab ein Regal, das er als Tisch benutzen konnte. Sie schob ihm ein Tablett mit Essen hinein und holte es hinterher wieder ab. Als Toilette hatte er einen Eimer, den er jeden Morgen ausleeren und reinigen musste. Bis ich nach Cleveland ging, war es meine Aufgabe, ihm das Essen zu bringen, aber ich durfte nicht mit ihm reden.«
Carmine rang nach Luft. »Das ist lächerlich!«, rief er. »Er ging auf eine sehr gute Schule – es gab Berater, einen Direktor, er hätte es nur jemandem erzählen müssen! Sie hätten sofort gehandelt.«
»Etwas zu erzählen lag Charles nicht«, sagte Claire mit erhobenem Kinn. »Er bewunderte Mama und gab Daddy an allem die Schuld. Er hätte sich einfach nur wehren müssen, aber er tat es nicht. Die Kammer war die Strafe für eine schreckliche Sünde, und er nahm seine Strafe hin. An dem Tag, als er achtzehn wurde, ließ sie ihn raus. Aber sie hat nie mehr mit ihm gesprochen.« Sie zuckte die Achseln. »Das war Charles. Vielleicht ermöglicht Ihnen das, zu verstehen, warum ich mich immer noch weigere, zu glauben, dass er irgendetwas von diesen schrecklichen Dingen getan hat. Charles hätte nie jemanden vergewaltigen oder foltern können.«
Carmine richtete sich auf. »Gott weiß, dass ich nicht den Wunsch habe, weiter zu ihrem Leid beizutragen, Miss Ponsonby, aber ich kann Ihnen versichern, dass Charles das Monster von Connecticut gewesen ist.« Er ging zu den Treppen. »Ich muss jetzt gehen. Nein, bleiben Sie sitzen. Ich danke Ihnen für all das. Es waren die restlichen Steine in einem Puzzle, das mich seit Monaten gequält hat. Ihre Namen sind Louisa und Emma Cantone? Gut. Ich weiß, wo sie begraben sind. Jetzt kann ich ihnen einen Grabstein setzen. Wissen Sie, ob Mrs Cantone sich zu irgendeinem Glauben bekannt hatte?«
»Sie war Katholikin. Ich nehme an, ich sollte etwas zu dem Grabstein beisteuern, da Emma meine Halbschwester war, aber ich bin sicher, Sie verstehen, wenn ich das nicht tue. Arrividerci.«