TEIL ZWEI

Dezember 1965

Kapitel sieben

Mittwoch, den 1. Dezember 1965

 

Die Schüler strömten zu Hunderten aus der Travis High. Einige hatten nur kurze Heimwege bis in The Hollow, andere stiegen in Dutzende von Schulbussen, die entlang der Twentieth und um die Ecken bis in die Paine standen. Früher wären sie einfach in irgendeinen Bus eingestiegen, der in ihre Richtung fuhr, aber seit das Monster von Connecticut aufgetaucht war, hatte jeder Schüler einen bestimmten, nummerierten Bus zugewiesen bekommen. Jeder Fahrer erhielt eine Namensliste und hatte die klare Anweisung, nicht loszufahren, bis nicht jeder einzelne Schüler da war. Die Verwaltung der Travis ging so gewissenhaft vor, dass der Name eines fehlenden Schülers von der täglichen Liste gestrichen wurde, bevor sie an den Fahrer ging. Der Weg zur Schule war kein so großes Problem, es war der Heimweg, wovor jeder Angst hatte.

Die Travis war die größte öffentliche Highschool in Holloman. Die knappe Mehrheit der Schüler war schwarz, und obwohl es gelegentlich Rassenprobleme gab, mischten sich die Schüler entsprechend ihren persönlichen Neigungen und Vorlieben. So fanden an der Travis High nicht nur die Black Brigade Anhänger, sondern auch diverse Kirchen und andere Vereine. Jeder Lehrer hätte sofort bestätigt, dass Hormone mehr Probleme verursachten als die Rasse.

Obwohl die größte Aufmerksamkeit der Polizei den katholischen Highschools galt, war die Travis High nicht vernachlässigt worden. Als die sechzehnjährige Francine Murray, eine Zehntklässlerin aus dem Valley, nicht in ihrem Bus erschien, stieg der Fahrer aus und lief zu dem Streifenwagen hinüber, der auf dem Bürgersteig in der Nähe des Haupteingangs parkte. Wenige Minuten später herrschte ein kontrolliertes Chaos: Busse wurden angehalten, und Uniformierte fragten, ob Francine Murray sich unter den Passagieren befand, andere baten Francines Freunde, vorzutreten, und Carmine Delmonico raste mit Corey und Abe zur Travis High.

Nicht, dass er darüber das Hug vergessen hätte. Bevor der Ford losfuhr, gab er noch Marciano Anweisung, sich zu vergewissern, dass jeder Mitarbeiter des Hug anwesend und sein Aufenthaltsort bekannt war. »Ich weiß, dass wir im Moment keinen Wagen erübrigen können, also ruf bitte Miss Dupre an und richte ihr von mir aus, dass ich über sämtliche Schritte jedes einzelnen Bescheid wissen will, einschließlich Ausflüge aufs Klo. Du kannst ihr vertrauen, Danny, aber erzähl ihr nicht mehr als unbedingt nötig.«

Nachdem die Schule von oben bis unten durchsucht worden war, drängten sich die Lehrer im Schulhof zusammen, während Derek Daiman, der hochangesehene schwarze Direktor, auf und ab schritt. Weitere Streifenwagen trafen ein, nachdem andere Schulen keine fehlenden Schüler gemeldet hatten und ihr Kontingent an Polizisten zur Travis High geschickt worden war, um die Schule noch einmal zu durchsuchen.

»Ihr Name ist Francine Murray«, sagte Mr Daiman zu Carmine. »Sie hätte in dem Bus dort drüben sein sollen, aber sie tauchte nicht auf. Sie war in ihrer letzten Unterrichtsstunde anwesend und hat offenbar das Gebäude mit einer Gruppe von Freunden verlassen. Sie zerstreuen sich, sofern sie erst einmal im Hof sind, abhängig davon, ob sie mit dem Bus fahren oder zu Fuß nach Hause gehen – Lieutenant Delmonico, das ist furchtbar!«

»Jetzt aufgebracht zu sein hilft weder Ihrer Schülerin noch uns, Mr Daiman«, sagte Carmine. »Am wichtigsten ist: Wie sieht Francine aus?«

»Wie die verschwundenen Mädchen«, sagte Daiman. »Wunderhübsch und sehr beliebt! Nur beste Noten, nie irgendwelcher Ärger, ein großes Vorbild für die anderen Schüler.«

»Ist sie karibischer Herkunft, Sir?«

»Soweit ich weiß, nicht, nein«, antwortete der Direktor und wischte sich Tränen aus den Augen. »Ich denke, deswegen haben wir es nicht bemerkt – in den Nachrichten hieß es, alle Mädchen seien teils hispanoamerikanischer Herkunft, aber das ist sie nicht. Sie kommt aus einer dieser wirklich alten schwarzen Familien Connecticuts und aus einer Mischehe. Oh, lieber Gott, was soll ich jetzt nur tun?«

»Mr Daiman, versuchen Sie mir vielleicht zu sagen, dass ein Elternteil von Francine schwarz ist und der andere weiß?«, fragte Carmine.

»Ich glaube schon, ja.«

Abe und Corey waren bei den uniformierten Polizisten, Carmine sagte ihnen, sie sollten jeden Bus gründlich durchsuchen und dann wegschicken, aber die Gruppe von Francines Freunden zurückhalten, damit sie befragt werden könnten.

»Sind Sie sicher, dass sie nicht noch irgendwo in der Schule ist?«, fragte Carmine Sergeant O’Brien, als der seine Leute und die begleitenden Lehrer aus dem riesigen Gebäude führte.

»Lieutenant, ich schwöre, Francine ist nirgendwo. Wir haben jeden Schrank geöffnet, unter jeden Tisch geguckt, in jeden Toilettenraum, die Cafeteria, die Klassenzimmer, den Versammlungsraum, die Lagerräume, den Heizungskeller, die Dachböden, die Labors, das Zimmer des Hausmeisters – in jeden verdammten Raum«, sagte O’Brien.

»Wer hat das Mädchen als Letztes gesehen?«, fragte Carmine die Lehrer, die unter Schock standen und zitterten.

»Sie ging mit ihren Freunden aus meinem Klassenzimmer«, sagte Miss Corwyn aus der Chemie. »Ich blieb noch, um aufzuräumen, und bin ihnen nicht gefolgt. Ach, hätte ich es doch getan!«

»Machen Sie sich keinen Vorwurf, Ma’am. Das konnten Sie doch nicht wissen«, meinte Carmine und wandte sich an die anderen. »Hat sie noch jemand gesehen?«

Nein, das hatte niemand. Und niemand hatte irgendwelche Fremden gesehen.

Er hat es schon wieder getan, dachte Carmine, und ging zu dem verstörten Haufen junger Leute, die behauptet hatten, mit Francine Murray befreundet zu sein. Der Täter hat sie sich geschnappt, ohne dass auch nur eine Seele ihn gesehen hatte. Es ist 62 Tage her, seit Mercedes Alvarez verschwunden ist, wir waren bereit, haben die Leute gewarnt, haben Fotos gezeigt, auf welche Art von Mädchen der Täter es abgesehen hat, haben die Sicherheit an den Schulen verschärft. Und was macht er? Er lullt uns in die Sicherheit, die karibische Herkunft sei ein wichtiger Teil seiner Besessenheit, und wechselt dann zu einer anderen ethnischen Gruppe. Und ausgerechnet Travis! Ein Ameisenhaufen! 1500 Schüler! Die halbe Stadt denkt, Travis sei ein Ort voller Ganoven, Rabauken und Abschaum, und vergisst dabei, dass es auch ein Ort ist, wo eine Menge anständiger Kinder, schwarze wie weiße, eine ziemlich gute Erziehung genießen.

Francines beste Freundin war ein schwarzes Mädchen namens Kimmy Wilson.

»Francine war bei uns, als wir aus dem Chemieunterricht kamen«, sagte Kimmy schluchzend.

»Wart ihr alle bei Chemie?«

»Ja, Sir.«

»Erzähl weiter, Kimmy.«

»Ich dachte, sie wäre auf die Toilette gegangen. Francine hat eine schwache Blase, darum geht sie ständig auf die Toilette. Ich habe mir nichts dabei gedacht, weil ich sie ja kenne.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ach, warum bin ich bloß nicht mitgegangen?«

»Fahrt ihr zusammen im selben Bus, Kimmy?«

»Ja, Sir.« Kimmy strengte sich sehr an, ihre Gefühle im Griff zu behalten. »Wir wohnen beide in Whitney, draußen im Valley.« Sie zeigte auf zwei weinende Mädchen. »Genauso wie Charlene und Roxanne. Niemand von uns hatte an sie gedacht, bis die Busfahrerin die Namen ausrief und sie nicht geantwortet hat.«

»Kennst du deine Busfahrerin?«

»Nicht ihren Namen, Sir, nicht die von heute. Ich kenne ihr Gesicht.«

 

Um fünf Uhr war die Travis High menschenleer. Nachdem die Schule und das umliegende Viertel durchkämmt worden waren, sperrte die Polizei die Gegend immer weiträumiger ab, während sich in Holloman die Nachricht verbreitete, das Connecticut-Monster habe wieder zugeschlagen. Keine Latina diesmal. Ein echtes schwarzes Mädchen. Während Carmine noch auf dem Weg zum Haus der Murrays war, rief der von Wesley le Clerc informierte Mohammed el Nesr seine Truppen zusammen.

Auf halber Strecke ins Valley hielt der Ford an einer Telefonzelle, und Carmine sprach mit Marciano ohne die lästigen Randerscheinungen des Polizeifunks; die Presse könnte es anzapfen, und außerdem rauschte es nahezu unerträglich.

»Im Hug sind alle da, Danny?«

»Nur Cecil Potter und Otis Green nicht, die bereits Feierabend gemacht hatten. Beide waren aber zu Hause, als Miss Dupre anrief. Sie sagte, alle anderen seien nachweislich im Hause gewesen.«

»Was können Sie mir über die Murrays sagen? Alles, was ich herausfinden konnte, ist, dass ein Elternteil schwarz ist und das andere weiß.«

»Sie sind genauso wie alle anderen, Carmine – das Salz der Erde«, sagte Marciano seufzend. »Der einzige Unterschied ist, soweit man weiß, gibt es keine karibischen Wurzeln. Sie besuchen regelmäßig die hiesige Baptistengemeinde, also habe ich mir die Freiheit genommen, ihren Priester anzurufen, einen gewissen Leon Williams, und ihn gebeten, hinüberzugehen und die Nachricht zu überbringen. Sie verbreitet sich jetzt mit Lichtgeschwindigkeit, und ich wollte nicht, dass uns ein glotzender Nachbar zuvorkommt.«

»Danke, Danny. Was gibt’s noch?«

»Der schwarze Elternteil ist der Vater. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Elektrotechnik im Susskind Science Tower, was bedeutet, er gehört dem Lehrkörper an und bezieht ein ordentliches Gehalt. Die Mutter ist weiß. Sie arbeitet mittags in der Susskind-Cafeteria, also ist sie im Hause, wenn die Kinder in die Schule gehen und vor ihnen wieder zurück. Sie haben zwei Jungs, beide jünger als Francine, beide besuchen die Higgins Middle School. Reverend Williams erzählte, die Murrays hätten für Gerede gesorgt, als sie vor neun Jahren nach Whitney umgezogen seien, aber die Neuigkeit ist längst Schnee von gestern, und jetzt gehören sie einfach dazu. Sie sind allgemein beliebt und haben Freunde in beiden Hautfarben.«

»Danke, Danny. Wir sehen uns später.«

Das Valley war eine Gegend mit einer ziemlich durchmischten Bevölkerungsstruktur, nicht direkt wohlhabend, aber auch nicht arm. Von Zeit zu Zeit kam es dort zu Spannungen zwischen den Rassen, meist wenn eine neue weiße Familie in die Gegend zog, aber die Immobilienpreise waren nicht ausreichend hoch, als dass die schwarze Hautfarbe einen negativen Einfluss gehabt hätte. Es war keine Gegend, die für Hassbriefe, das Umbringen von Haustieren, das Abladen von Müll vor fremden Haustüren oder Graffiti bekannt war.

Als der Ford in Whitney einbog, merkte Carmine, wie sich Abes und Coreys Haltung versteifte.

»Himmel, Carmine, wie konnten wir zulassen, dass das passiert ist?«, platzte Abe heraus.

»Weil er seine Gangart verändert hat, Abe. Er hat uns ausgetrickst.«

Sie hielten vor einem gelbgestrichenen Haus. Carmine legte Corey die Hand auf die Schulter. »Ihr Jungs bleibt hier. Wenn ich euch brauche, rufe ich, okay?«

Reverend Leon Williams öffnete die Tür der Murrays und ließ ihn herein. Das wird langsam zur Gewohnheit, Carmine.

Die beiden Söhne waren irgendwo anders; man hörte die gedämpften Laute eines Fernsehers. Nebeneinander auf dem Sofa sitzend, versuchten die Eltern tapfer die Fassung zu bewahren; die Frau hielt die Hand ihres Mannes, als wäre es eine Rettungsleine.

»Sie sind nicht aus der Karibik, Mr Murray?«, fragte Carmine.

»Nein, bestimmt nicht. Die Murrays haben schon vor dem Bürgerkrieg in Connecticut gelebt und für den Norden gekämpft. Und meine Frau ist aus Wilkes Barre.«

»Haben Sie ein neueres Foto von Francine?«

Sie hätte eine Schwester der anderen elf verschwundenen Mädchen sein können.

Und damit begann alles von vorne, dieselben Fragen, die er schon elf andere Familien gefragt hatte: Mit wem Francine sich traf, welche guten Taten sie tat, ob sie irgendwelche neuen Freunde oder Bekannte erwähnt hatte, ob sie jemanden beobachtet hatte, der ihr gefolgt war. Wie immer waren die Antworten alle nein.

Carmine blieb keinen Moment länger, als er musste. Ihr Priester ist ein größerer Trost für sie, als ich es in ihrem Schmerz jemals sein könnte. Ich bin der Agent des Unheils, vielleicht der Rache, so sehen sie mich. Sie sind da drinnen und beten, dass es ihrem kleinen Mädchen gutgeht, aber haben Angst davor, dass es nicht so ist. Sie warten darauf, dass ich, der Agent des Unheils, zurückkehre und ihnen sage, dass es nicht so ist.

Commissioner John Silvestri erschien nach den Sechs-Uhr-Nachrichten im Lokalfernsehen und appellierte an die Menschen von Holloman und ganz Connecticut, bei der Suche nach Francine zu helfen und sich zu melden, wenn sie etwas Ungewöhnliches bemerkt hätten. Ein Schreibtischpolizist hatte seinen Nutzen, und eine von Silvestris besten Seiten war sein öffentliches Image – dieser Kopf mit der Löwenmähne, das besondere Profil, die ruhige Ausstrahlung von Aufrichtigkeit. Er war ein derart gerissener Politiker, dass er nicht versuchte, so auf die Fragen der Moderatorin zu parieren, wie ein Politiker es tun würde. Ihre bissigen Bemerkungen über die Tatsache, dass das Monster von Connecticut immer noch auf freiem Fuß war und immer noch unschuldige junge Frauen entführte, brachte den Commissioner nicht im Geringsten aus der Ruhe; irgendwie schaffte er es, sie wie einen hübschen Wolf aussehen zu lassen.

»Er ist clever«, sagte Silvestri einfach. »Sehr clever.«

»Das muss er wohl sein«, sagte Surina Chandra zu ihrem Mann, als sie gemeinsam vor ihrem Fernseher saßen. Sie hatten ein Vermögen dafür bezahlt, sich eine besondere Leitung von New York City legen zu lassen, und so konnten sie per Kabel von Kanal zu Kanal springen, bis es um acht Uhr Zeit zum Abendessen war. Sie hatten eigentlich einen Beitrag über Indien sehen wollen. Die USA, hatten sie festgestellt, hatte nicht die Bohne ein Interesse an Indien; das Land war in seine eigenen Probleme verstrickt.

»Ja, das muss er wohl sein«, sagte Nur Chandra abwesend, mit den Gedanken bei einem Triumph von einer Größe, dass er ihn am liebsten in die Welt hinausschreien wollte. Aber er wagte nicht, es zu riskieren. Es musste sein Geheimnis bleiben. »Ich werde die nächsten Tage in meiner Hütte schlafen«, fügte er hinzu. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich habe wichtige Arbeiten zu erledigen.«

»Wie kann irgendjemand dieses Monster clever nennen?«, wollte Robin wissen. »Es ist nicht clever, Kinder zu ermorden – es ist dumm und unmenschlich!«

Ich frage mich, dachte Addison Forbes bei sich, was wohl ihre Definition von »clever« wäre, wenn ich sie zu einer Erklärung drängen würde?

»Ich bin derselben Meinung wie der Commissioner«, sagte er und entdeckte einen zerdrückten Cashewkern, der sich hinter einem Salatblatt verbarg. »Ein sehr cleverer Bursche. Was das Monster macht, ist ekelhaft, aber er hält unsere ganze Polizei zum Narren.« Die Nuss schmolz auf seiner Zunge wie Nektar. »Wer«, fuhr er fort, »hatte die Frechheit, Desdemona Dupre anzuweisen, uns alle wie Tiere zu jagen und uns zu fragen, wo wir gewesen sind! Wir haben einen Spion in unserer Mitte, und ich für meinen Teil vergesse das nicht. Dieser Schwachsinn bedeutet, das ich mit meinen klinischen Aufzeichnungen hinterherhinke. Bleib nicht für mich wach. Und wirf den Liter Eiscreme aus dem Kühlfach, hörst du?«

»Ja, er ist clever«, meinte Catherine Finch. Sie blickte Maurice beklommen an. Er war nicht mehr derselbe, seit dieser Nazi-Depp versucht hatte, sich umzubringen. Sie war erheblich härter und unbeugsamer als Maurice und fand es daher jammerschade, dass der Nazi-Trottel nicht erfolgreich gewesen war, aber Maurice hatte immer so viel Verständnis für alles und jeden, da flüsterte ihm sein Gewissen ein, er sei der Trottel. Sie konnte sagen, was sie wollte, Maurice, der arme Kerl, gab sich die Schuld.

Er antwortete ihr gar nicht erst, sondern schob seine Ochsenbrust von sich und stand vom Tisch auf. »Vielleicht sollte ich ein bisschen an meinen Pilzen arbeiten«, sagte er und nahm sich im Vorbeigehen eine Taschenlampe von der Veranda.

»Maurice, du musst heute Abend nicht im Dunkeln da draußen sein«, rief sie.

»Ich bin die ganze Zeit im Dunkeln, Cathy, die ganze Zeit.«

Die Ponsonbys sahen Commissioner Silvestri nicht im Fernsehen, denn sie hatten keinen. Claire konnte mit einem Fernseher nichts anfangen, und Charles bezeichnete ihn als »Opiat der unkultivierten Hammelherde«.

Die Musik an diesem Abend war Hindemiths Konzert für Orchester, ein blechernes Geschmetter, das sie am meisten genossen, wenn Charles eine besonders gute Flasche Pouilly Fumé gefunden hatte. Sie aßen ein Omelett mit feinen Kräutern, gefolgt von Seezungenfilets, die in Wasser pochiert wurden, das großzügig mit trockenem weißem Wermut gewürzt war. Keine Speisestärke, nur etwas Römersalat mit einer Walnussöl-Vinaigrette und zum Abschluss ein Champagnersorbet. Keine Kaffee-und-Zigarren-Mahlzeit.

»Wie sie bisweilen meine Intelligenz beleidigen«, sagte Charles zu Claire, als Hindemith in eine ruhigere Phase überging. »Desdemona Dupre hat heute mit der wilden Geschichte nach uns allen gesucht, dass sie die Unterschriften von uns allen auf einem Dokument benötige, von dem Bob mit Sicherheit keine Ahnung hatte, und eine Stunde später wimmelte es im Hug nur so von Polizisten. Wo ich den ganzen Nachmittag gewesen sei? Pah! Ich war versucht zu sagen, sie sollten sich zur Hölle scheren, aber ich hab’s nicht. Obwohl Delmonico eine glattlaufende Operation führt. Er hat uns nicht mit seiner Anwesenheit beehrt, aber die Lakaien trugen den Stempel seines Arbeitsstiles.«

»Herrje«, sagte seine Schwester sanft und drehte mit den Fingern den Stiel ihres Weinglases. »Werden sie das Hug jedes Mal beehren, wenn ein Mädchen entführt wurde?«

»Das denke ich. Du nicht?«

»Oh, doch. Was für ein trauriger Ort unsere Welt geworden ist. Manchmal bin ich froh, dass ich blind hindurchgehe.«

»Du bist heute blind hindurchgegangen und wirst das immer tun. Obwohl ich wünschte, es wäre anders. Es wird erzählt, jemand würde Desdemona Dupre nachstellen. Obwohl mir ein Rätsel ist, was sie mit der ganzen Sache zu tun haben sollte.« Er kicherte. »Was für eine riesige und noch dazu völlig reizlose Kreatur!«

»Fäden weben vorhersehbare Muster, Charles.«

»Das«, sagte er, »hängt aber doch ganz davon ab, wer die Vorhersagen macht.«

Die Ponsonbys lachten, der Hund kläffte, und Hindemith legte los.

Zu Carmines Überraschung stand Desdemonas Wagen vor dem Malvolio’s, als er kurz nach sieben dort eintraf, nachdem er Abe und Corey bei ihren leidgeprüften Frauen abgeliefert hatte.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte er und half ihr beim Aussteigen. »Neue Probleme?«

»Ich dachte, Sie brauchen vielleicht ein bisschen Gesellschaft. Wie ist das Essen da drinnen? Gibt’s Hamburger zum Mitnehmen?«

»Nein, keine Hamburger zum Mitnehmen, aber lassen Sie uns drinnen essen. Da ist es warm.«

»Ich habe heute Nachmittag für Captain Marciano mein Bestes gegeben«, sagte sie und aß mit den Fingern eine Fritte (die sie Chips nannte), »aber es hat ein halbe Stunde gedauert, sie alle ausfindig zu machen. Von den Forschern selbst habe ich zuerst keinen einzigen gefunden, bis mir dämmerte, dass wir zwar den ersten Dezember schreiben, es aber oben auf dem Dach warm und windgeschützt ist. Sie waren alle da oben und haben ein Gespräch über Eustace geführt. Alle waren sie da, und sie sahen aus, als hätten sie sich seit anno Tobak nicht mehr bewegt.«

»Anno Tobak?«

»Seit ewig und drei Tagen.«

»Tut mir sehr leid, Sie damit belästigt zu haben, aber ich konnte keinen Polizisten entbehren, solange noch Hoffnung bestand, Francine zu finden.«

»Schon in Ordnung, ich habe Ihnen dafür die Schuld gegeben. Ziemlich bissig.« Sie nahm sich noch eine Fritte. »Seit sich herumgesprochen hat, dass ich unter Polizeischutz stehe, werde ich ganz anders angesehen. Die meisten denken, ich täte nur so, als ob.«

»Sie täten nur so, als ob?«

»Als würde ich mir alles nur ausdenken. Tamara sagt, ich sei hinter Ihnen her.«

Er grinste. »Ein ziemlich verworrener Plan, Desdemona.«

»Schon ein Jammer, dass meine ruinierte Arbeit nicht diesen Hinweis erbracht hat.«

»Oh, der Täter ist viel zu clever, um nach dem ersten Mal noch einen weiteren Hinweis zu hinterlassen. Er wusste, sie würden es nicht melden.«

Sie zitterte. »Warum glaube ich, dass Sie denken, es sei das Monster?«

»Weil es eine Finte ist, meine Liebe.«

»Sie glauben, ich bin nicht in Gefahr?«

»Das habe ich nicht gesagt. Die Polizisten bleiben.«

»Ist es möglich, dass er glaubt, ich wisse etwas?«

»Vielleicht ja. Finten brauchen keine Gründe, außer der Illusion, die sie erzeugen.«

»Lassen Sie uns zurück in Ihre Wohnung gehen und uns den Commissioner in den Spätnachrichten ansehen«, schlug sie vor.

Dann, später, lächelte sie. »Der Commissioner sieht aus wie ein Zuckerpüppchen. Hat er das mit diesem Fräulein Schlaumeier von Moderatorin nicht gut hinbekommen?«

Carmine runzelte die Stirn. »Das nächste Mal, wenn ich ihn sehe, sage ich ihm, Sie fänden, er sei ein Zuckerpüppchen. Nettes Wort, aber Ihr Zuckerpüppchen hat einmal ein deutsches Maschinengewehr-Nest, in dem zwölf Mann hockten, im Alleingang hochgenommen und damit eine ganze Kompanie gerettet. Unter anderem.«

»Ja, die Seite an ihm kann ich mir auch gut vorstellen. Aber Sie werden mich nicht erwähnen. Wenn Sie ihn das nächste Mal sehen, wird das sicher ein sehr ernstes Treffen sein, denn die Situation ist ernst. Das Monster ist wirklich sehr clever, also ist es vielleicht deshalb so, damit man ihn unterschätzt.«

»Er ist eine ganz Reihe von Dingen, Desdemona. Schlau – clever – krank – vielleicht ein Genie. Was wir wissen, ist, dass die Fassade, die er der Welt präsentiert, absolut glaubhaft ist. Er ist immer wachsam. Wenn einmal nicht, hätte das jemand bemerkt. Ich glaube, es ist ein verheirateter Mann, dessen Frau ihn nicht verdächtigt. O ja, er ist ein ziemlich ausgefuchster Hund.«

»Sie sind selbst auch verdammt clever, Carmine, aber Sie haben noch mehr als das. Sie sind eine Bulldogge. Wenn Sie erst einmal zugebissen haben, können Sie nicht mehr loslassen. Irgendwann wird ihn das zusätzliche Gewicht, das er mit sich herumschleppen muss, ermüden.«

Wärme durchflutete ihn, entweder vom Cognac oder von dem Kompliment, da war er sich nicht sicher; Carmine schaute ein wenig in sich hinein, aber sehr vorsichtig, damit der Rest von ihm noch nicht einmal mit der Wimper zuckte.