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Sinclair setzte sich auf, rückte etwas näher an den Tisch heran, als wollte sie ihre Punkte betonen, und sagte: »Der Iraner ist allen Berichten zufolge sehr clever, kann sich gut ausdrücken und versteht auch Nuancen. Der Stationsleiter hat lange mit ihm darüber gesprochen, und wir sind der Überzeugung, dass das eine schlichte Tatsachenbehauptung war. In den bewussten fünfzig Minuten hat der Kurier sich mit einem Amerikaner getroffen. Bei diesem Treff hat der Amerikaner ihm mitgeteilt, er wolle hundert Millionen Dollar. Als Preis für irgendetwas. Dieser Kontext war klar. Aber mehr ist vorläufig nicht bekannt. Welcher Amerikaner das war, wissen wir nicht. Wofür er hundert Millionen will, wissen wir nicht. Wer sie zahlen soll, wissen wir nicht.«
White sagte: »Aber hundert Millionen engen das Feld ziemlich ein. Selbst wenn er sich auf fünfzig runterhandeln lässt, ist das noch ein Haufen Geld. Wer verfügt über solche Mittel? Massenhaft Leute, könnte man sagen, aber die hätten alle in einer einzigen Rolldatei Platz.«
»Falscher Ansatz«, warf Reacher ein. »Der Verkäufer ist in jedem Fall wichtiger, als es die Käufer sind. Wofür würden Leute, die im Jemen den Dschihad planen, hundert Millionen Dollar ausspucken? Und welcher Amerikaner in Hamburg hat so etwas zu verkaufen?«
Waterman sagte: »Hundert Millionen sind eine Menge Geld. Ein Preis dieser Art würde mir ein bisschen Sorgen machen.«
Sinclair nickte, dann sagte sie: »Dieser Preis macht uns große Sorgen. Er scheint ernst gemeint zu sein. Und er ist höher als alle bisherigen. Schon deshalb ziehen wir alle Register. Wir haben weltweit alle unsere Agenten alarmiert. Hunderte von Leuten arbeiten schon angestrengt. Aber wir brauchen mehr. Ihr Job wird es sein, diesen Amerikaner aufzuspüren. Befindet er sich noch im Ausland, ist die CIA zuständig, und Mr. White hat das Kommando. Hält er sich wieder in den Staaten auf, ist das FBI zuständig, und Special Agent Waterman löst ihn ab. Und weil die weitaus meisten Amerikaner, die zu irgendeinem Zeitpunkt in Deutschland leben, beim Militär sind, brauchen wir Major Reacher, der mit einem oder beiden von Ihnen zusammenarbeiten wird.«
Reacher sah erst Waterman, dann White an. In ihren Augen standen Fragen, wie vermutlich auch in seinen.
Sinclair sagte: »Personal und Material treffen morgen früh ein. Sie können jederzeit alles haben. Aber Sie sprechen nur mit mir, Mr. Ratcliffe oder dem Präsidenten. Diese Einheit steht unter Quarantäne. Selbst wenn Sie nur eine Schachtel Bleistifte wollen, wenden Sie sich an mich, Mr. Ratcliffe oder den Präsidenten. In der Praxis natürlich an mich. Koordiniert werden Ihre Ermittlungen im West Wing. Keiner von Ihnen darf persönlich identifizierbar sein. Weil hundert Millionen Dollar eine Menge Geld sind, könnten Ministerien in den Fall verwickelt sein. Der Amerikaner kann im Außenministerium, im Justizministerium oder im Pentagon arbeiten. Sie könnten versehentlich mit dem Falschen sprechen. Also dürfen Sie mit niemandem reden. Das ist Regel Nummer zwei.«
Waterman fragte: »Was war Regel Nummer eins?«
»Regel Nummer eins lautet: Der Iraner darf nicht verbrannt werden. Wir dürfen nichts tun, was zu ihm zurückverfolgt werden könnte. Wir haben viel in ihn investiert und werden ihn zukünftig brauchen, weil wir nicht wissen, was als Nächstes passieren wird.«
Dann schob sie ihren Sessel zurück, stand auf und ging zur Tür. Bevor sie verschwand, sagte sie noch: »Denken Sie daran: wie mit Feuer unterm Hintern.«
Reacher lehnte sich in seinen Sessel zurück. White sah ihn an und sagte: »Es muss um Panzer und Flugzeuge gehen.«
Reacher erklärte: »Unsere nächsten Panzer stehen tausend Meilen vom Jemen oder Afghanistan entfernt. Tausende von Soldaten würden Wochen und Wochen brauchen, um sie zu verlegen. Da wär’s einfacher, den Jemen oder Afghanistan zu ihnen zu bringen. Auch schneller und unauffälliger.«
»Dann also Flugzeuge.«
»Wahrscheinlich könnte man mit hundert Millionen ein paar Piloten zum Überlaufen motivieren. Vielleicht drei oder vier. Ich bezweifle, dass es in Afghanistan genügend lange Landebahnen gibt. Aber vielleicht im Jemen. Das wäre also theoretisch möglich. Nur würden Flugzeuge ihnen nichts nützen. Sie bräuchten außerdem Hunderte Tonnen Ersatzteile und Hunderte von Ingenieuren und Technikern. Und viele hundert Flugstunden. Und wir würden sie binnen fünf Minuten aufspüren und mit Lenkwaffen am Boden zerstören. Oder vielleicht geht das jetzt schon ferngesteuert.«
»Gut, dann eben andere militärische Hardware.«
»Aber welche? Eine Million Gewehre zum Stückpreis von hundert Dollar? So viele haben wir nicht.«
Waterman sagte: »Es könnte ein Geheimnis, ein Codewort, ein Passwort, eine Formel, eine Landkarte, ein Plan, ein Diagramm, eine Liste, eine Blaupause der Sicherungssysteme der Fed, eine kommerzielle Rezeptur oder die Summe aller Bestechungsgelder sein, die nötig wären, um ein Gesetz in allen fünfzig US-Bundesstaaten durchzubringen.«
White fragte: »Sie denken an Datenmaterial?«
»Was lässt sich sonst unauffällig kaufen und verkaufen und ist so viel wert? Vielleicht Diamanten, aber die gibt’s in Antwerpen, nicht in Hamburg. Vielleicht auch Drogen, aber kein Amerikaner besitzt solche Vorräte, die er gleich verschiffen könnte. Das ist etwas für Mittel- und Südamerika. Und Afghanistan baut selbst Mohn an.«
»Wie sieht das Worst-case-Szenario aus?«
»Das geht über meine Besoldungsgruppe hinaus. Fragen Sie Ratcliffe. Oder den Präsidenten.«
»Und Ihre persönliche Einschätzung?«
»Wie sieht Ihre aus?«
»Ich bin Nahostexperte. Für mich gibt’s nur Worst-case-Szenarios.«
»Pockenerreger«, meinte Waterman. »Das wäre mein schlimmster Fall. Oder irgendwas in dieser Art. Ein Pestausbruch. Eine biologische Waffe. Oder Ebola. Oder ein Gegenmittel. Oder ein Impfstoff. Was bedeuten würde, dass sie den Erreger schon haben.«
Reacher starrte die Decke an.
Diese Sache würde vielleicht nicht gut enden.
Das klingt nicht glücklich, aber Sie sollten’s sein.
So lange wie nötig, denke ich.
Garber hatte in Rätseln gesprochen.
White sah ihn an und fragte: »Worüber denken Sie nach?«
Reacher antwortete: »Über den Widerspruch zwischen Regel Nummer eins und dem Rest. Wir dürfen den Iraner nicht verbrennen. Was bedeutet, dass wir die Hände von dem Kurier lassen müssen. Wir dürfen einen Ort, zu dem er uns führt, nicht mal observieren. Weil wir offiziell nicht wissen, dass es den Kurier gibt. Außer durch einen Insidertipp.«
»Das ist hinderlich«, sagte Waterman, »aber kein Widerspruch. Wir müssen eine Möglichkeit finden, darum herumzukommen. Sie brauchen diesen Mann.«
»Hier geht’s in erster Linie um Effizienz. Sie müssen frühzeitig wissen, wer diese Männer sind. Sie müssen Netzwerke aufspüren und Datenbanken anlegen. Deshalb sollten sie sich ganz auf die Kuriere konzentrieren. Mündliche Fragen und Antworten im Kopf, Reisen von einem Kontinent zum anderen, Frage, Antwort, Frage, Antwort. Sie wissen alles. Sie sind hundert Insider wert. Weil sie das Gesamtbild vor Augen haben. Was hat der Iraner vorzuweisen? Nichts als vier Wände in Hamburg und erzwungene Untätigkeit.«
»Trotzdem darf er nicht geopfert werden.«
»Sie könnten ihn in dem Augenblick abziehen, in dem sie sich den Kurier schnappen. Sie könnten ihm ein Haus in Florida schenken.«
White sagte: »Der Kurier würde nicht reden. Das sind Stammessachen, die tausend Jahre zurückreichen. Sie verraten einander nicht. Mit unseren zahmen Methoden ist nichts aus ihnen rauszukriegen. Also ist’s clever, den Insider zu belassen, wo er ist. Sie wissen echt nicht, was uns bevorsteht. Ein frühzeitiger Hinweis wäre nett. Selbst ein paar Andeutungen.«
Reacher fragte: »Wissen Sie, was uns bevorsteht?«
»Irgendwas ist aus dem Ruder gelaufen. Nichts ist mehr wie früher.«
»Haben Sie schon mal mit Ratcliffe zusammengearbeitet? Oder mit Sinclair?«
»Niemals. Und Sie?«
Waterman sagte: »Sie haben uns nicht ausgewählt, weil sie uns kennen, sondern weil wir uns zum fraglichen Zeitpunkt nicht in Hamburg aufhielten. Wir waren anderswo im Einsatz. Folglich können wir nicht die falschen Leute sein, mit denen man keinesfalls reden sollte.«
Eine Einheit in Quarantäne, hatte Sinclair gesagt, und so fühlte es sich auch an. Drei Kerle in einem Raum, von der restlichen Welt abgeschottet, weil sie alle infiziert waren – mit einem Alibi.
Kurz nach neunzehn Uhr holte Reacher seine Sachen aus dem Auto und trug sie nach oben in sein Zimmer, das am Ende eines Korridors mit drei Räumen lag, die wie große Büros aussahen und vielleicht gestern noch welche gewesen waren. Zu seinem geräumigen Zimmer gehörte auch ein Bad. Dies war die Suite einer Führungskraft. Nicht für ein Bett, sondern für einen Schreibtisch ausgelegt, aber trotzdem gut geeignet.
Um ein Abendessen zu bekommen, setzte er sich in den alten Caprice, fuhr durch McLean und bog instinktiv auf die Art Straßen ab, die in die Art Stadtteile führten, in denen es die Art Restaurants geben würde, die er suchte. Nicht jedermanns Wahl, aber durch seinen Metabolismus bedingt. Er entdeckte eine Leuchtreklame und glänzendes Aluminium neben einer Tankstelle an einer Zufahrt zur Interstate. Ein Diner, alt genug, um sogar authentisch zu sein. Ein paar Dellen und blinde Flecken. Ziemlich viele Meilen auf dem Tacho.
Er bog von der Straße ab, parkte, zog die verchromte Tür auf und trat ein. Auch die Luft unter dem kalten Neonlicht war kalt. Als Erstes sah er eine Frau, die er kannte. Ganz allein in einer Sitznische. Aus der vorletzten von ihm kommandierten Einheit. Die beste Soldatin, mit der er je zusammengearbeitet hatte. Auf zurückhaltende Art vielleicht sogar seine beste Freundin, wenn Freundschaft bedeutete, dass man Dinge ungesagt lassen durfte.
Im ersten Augenblick hielt er das für einen nicht besonders erstaunlichen Zufall. Die Welt war klein, und im näheren Umkreis des Pentagon wurde sie noch kleiner. Dann korrigierte er sich jedoch selbst. In der großen Zeit der 110th MP war sie jahrelang seine erste Sergeantin gewesen. Sie hatte eine wichtigere Rolle als die meisten gespielt. Vielleicht wichtiger als seine.
Weil sie ausgesprochen clever war.
Viel zu clever, um zufällig hier zu sitzen.
Er trat an ihren Tisch. Sie bewegte sich nicht. Sie beobachtete sein Spiegelbild auf der gewölbten Rückseite eines Löffels. Er glitt auf die Sitzbank ihr gegenüber und sagte: »Hallo, Neagley.«