13
Nach dem Lunch fuhr Griesmann Reacher und Neagley zu dem Hotel, in dem sie schon mal gewohnt hatten. Sie bedankten sich und winkten ihm nach, als er davonfuhr, checkten aber nicht ein. Reacher blieb nicht gern zweimal im selben Hotel. Eine Angewohnheit. Überflüssig, fanden manche. Er sagte, er sei zweiunddreißig und lebe noch. Das müsse irgendwas bedeuten.
Sie sahen auf Neagleys Stadtplan. Sie tippte auf das sichere Haus und sagte. »Natürlich können sie mehr als eins haben.«
»Möglich«, meinte Reacher. »Bei der ganzen Sache geht’s um Wahrscheinlichkeiten.«
Sie gingen zu Fuß los und fanden die Straße, auf der die vier Streifenwagen gestanden hatten. In der das Callgirl gewohnt hatte. Sie bogen nach links in Richtung sicheres Haus ab, nahe, aber nicht zu nahe, und kontrollierten unterwegs die Nebenstraßen. Das war nicht einfach. Nicht wie in manchen anderen Großstädten. Keine blinkenden Leuchtreklamen, keine im Wind schwingenden Schilder. Vermutlich aus Stilgründen verboten. So mussten sie sich alle Geschäfte einzeln vornehmen. Sie sahen eine Autovermietung, die das Erdgeschoss zweier Häuser beanspruchte. Meistens waren Erklärungen überflüssig, aber in einem Fall irrte Reacher sich, als er einen Empfangsbereich mit Sesseln und einer Rezeption betrat, der zu einem Hotel zu gehören schien. Tatsächlich standen sie in einem Sonnenstudio mit Kabinen im rückwärtigen Teil. Die Frau am Empfang lachte und empfahl ihnen ein Boutique-Hotel in der Nähe. Das sich als sehr attraktiv erwies. Ein livrierter Türsteher stand bereit, die Eingangstür für sie aufzureißen.
»Haben wir so viel Geld?«, fragte Neagley.
»Ratcliffe zahlt«, sagte Reacher.
»Er weiß nicht, dass wir hier sind.«
»Wir rufen ihn an. Das sollten wir ohnehin tun.«
»Von wo aus?«
»Aus deinem oder meinem Zimmer.«
»Wir bekommen keine Zimmer. Ohne Geld lassen sie uns nicht einchecken.«
Reacher zog seinen Packen Spesengeld aus der Tasche. In Empfang genommen, aber nie zurückgegeben. Ein bescheidener Betrag. Neagley hatte ebenso viel.
Reacher sagte: »Wir nehmen ein Doppelzimmer. Vorläufig. Bis der NSC hier anruft.«
Neagley zögerte kurz, dann sagte sie: »Okay.«
Sie gingen hinein.
In diesem Augenblick befand sich der Amerikaner drei Straßen von ihnen entfernt und parkte mit seinem Leihwagen vor der Autovermietung ein, die sie vorhin gesehen hatten. Er hatte in Groningen früh zu Mittag gegessen. Mit einem Glas Wein. Deshalb hatte er sich noch etwas Zeit gelassen, damit der Alkohol abgebaut werden konnte. Reine Vorsichtsmaßnahme. Die Strafen für Alkohol am Steuer waren hoch. Also machte er einen Spaziergang. Groningen besaß eine malerische Altstadt. Dann fuhr er weiter, überquerte die Grenze, an der nicht kontrolliert wurde, und erreichte die Autobahn nach Bremen. Er genoss jeden Kilometer, weil ihm vorzeitig nostalgisch zumute war. Es würde lange dauern, bis er Europa wiedersah. Wenn überhaupt.
Er gab den Leihwagen zurück und ging dann in Richtung Wasser davon. Zu seinem Apartment, dessen Mietvertrag keinen vollen Monat mehr lief. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Gutes Timing.
Das Zimmer, das sie bekamen, hatte dunkelgrüne Tapeten mit schiefergrauen Akzenten. Und das Telefon funktionierte. Reacher erreichte den Wachhabenden vom NSC, der es übernahm, ihren Aufenthalt durch das US-Generalkonsulat finanzieren zu lassen. Dann meldete White sich und sagte: »Vanderbilt hat die Sache mit der Schweiz vier Jahre lang zurückverfolgt und anschließend alles noch einmal kontrolliert. An dem bewussten Tag gab es in Deutschland genau hundert Amerikaner, die früher schon einmal in Zürich waren.«
»Gute Informationen«, sagte Reacher. »Aber nicht eindeutig. Er kann ein Konto auf den Cayman Islands haben. Oder in Luxemburg. Oder in Monaco. Oder er hat Zürich als Tourist besucht. Ich war auch mal dort – und habe ganz bestimmt kein Konto eröffnet.«
White sagte: »Verstanden.«
»Aber richten Sie Vanderbilt meinen Dank aus.«
Dann war Waterman dran, der sagte: »Sie sind Ihretwegen nervös.«
Reacher fragte: »Wer?«
»Ratcliffe und Sinclair.«
»Er hat gesagt, dass wir in alle Richtungen ermitteln sollen. Das geht nicht von McLean aus.«
»Sind Sie schon weitergekommen?«
»Und Sie?«
»Keinen Schritt.«
»Wir auch nicht. Und es hat keinen Zweck, gemeinsam am selben Ort stillzustehen.«
»Sinclair wird mit Ihnen reden wollen.«
»Sagen Sie ihr, dass ich mich später melde. Wenn das Konsulat sich für uns zuständig erklärt hat. Vielleicht motiviert sie das.«
»Und für Sergeant Neagley ist ein Schreiben vom Heeresministerium gekommen.«
»Dringend?«
»Sieht nicht so aus.«
»Gut, dann lassen Sie’s liegen, bis ich mit Sinclair gesprochen habe.«
»Können wir einen Zeitpunkt vereinbaren?«
»Richten Sie ihr aus, dass ich in zwei Stunden anrufe«, sagte Reacher.
Sie zogen los, um sich die Bar anzusehen, in der Helmut Klopp den Treff beobachtet hatte. Sie war zwanzig Minuten entfernt, genau wie von dem sicheren Haus, aber in anderer Richtung. Wie zwei Speichen eines Rades. Sie gingen daran vorbei, ohne langsamer oder schneller zu werden, blickten dabei geradeaus und begutachteten die Bar nur aus dem Augenwinkel heraus. Sie befand sich im Parterre eines alten Gebäudes, früher anscheinend eine Fabrik, die den Feuersturm überstanden hatte. Der Eingang lag in der Mitte des mit Holz verkleideten Erdgeschosses. Aber der Effekt war nicht rustikal, nicht wie von einer verwitterten alten Scheune irgendwo auf dem Land. Die passgenau gehobelten goldgelben Balken glänzten dick gefirnisst wie ein Ruderboot auf einem See in einem Park. Cremefarbene Spitzenvorhänge verdeckten die untere Hälfte der kleinen Fenster, während in der oberen an Schnüren aufgereihte Papierfähnchen hingen. Die Fähnchen waren alle schwarz-rot-gold. Hinter den Scheiben brannte gedämpftes bernsteingelbes Licht.
Neagley sagte: »Zwei Leute beschatten uns.«
Reacher fragte: »Wo?«
»An der Ecke, fünfzig Meter hinter uns.«
Er sah sich nicht um.
Er fragte: »Wer?«
»Zwei Männer zwischen dreißig und vierzig. Größer als ich, kleiner als du. Vermutlich keine Deutschen. Sie gehen wie Amerikaner.«
»Wie gehen Amerikaner?«
»Wie wir.«
»Wie lange folgen sie uns schon?«
»Weiß ich nicht genau.«
»Wangenknochen?«
»Nein. Außerdem zu groß.«
»Okay«, meinte Reacher. »Komm, wir gehen einen Kaffee trinken.«
Sie schlenderten entspannt weiter, bis sie zu einer Bäckerei mit Kuchen im Schaufenster, einer Espressomaschine und vier kleinen Tischen mit je zwei Stühlen kamen. Tische und Stühle waren silbern eloxiert und standen mit gutem Blick auf die Straße am Fenster. Neagley nahm Platz, und Reacher ging an die Verkaufstheke. Er bestellte zwei doppelte Espressi und rief zu Neagley hinüber: »Willst du Kuchen?«
»Klar«, antwortete Neagley. »Apfelstrudel.«
»Zweimal«, sagte Reacher zu der Verkäuferin. Die alte Soldatenregel: Iss, wenn du kannst. Die nächste Mahlzeit gibt’s vielleicht erst in ein paar Tagen. Die Verkäuferin bedeutete Reacher, er solle Platz nehmen, sie werde mit einem Tablett kommen. Er bedeutete ihr, gleich zahlen zu wollen. Das hatte er sich zur Regel gemacht. Falls er ohne Vorwarnung aufbrechen musste, wollte er niemanden schädigen, der sein Geld mit ehrlicher Arbeit verdiente. Er steckte sein Wechselgeld ein, ging zum Tisch und setzte sich. Neagley machte unauffällig einen langen Hals und sagte: »Sie haben uns hier reingehen sehen und sind schneller geworden. Sie müssten gleich auftauchen.«
Reacher schaute nach draußen. Schräg gegenüber lag zwanzig Meter entfernt ein weiteres Café mit Tischen am Fenster. Jeder vernünftige Mensch würde dort drüben Stellung beziehen. Sie konnten beliebig lange bleiben, ohne Verdacht zu erwecken, und die Verfolgung fortführen, sobald die Zielpersonen sich wieder in Bewegung setzten.
»Da sind sie«, sagte Neagley.
Reacher sah wie angekündigt zwei Kerle Anfang dreißig, größer als Neagley und kleiner als er. Ungefähr einen Meter achtzig und neunzig Kilo. Bürstenhaarschnitt. Die beiden gingen wie Amerikaner. Waren wie Amerikaner angezogen. Wie US-Soldaten in Zivil, wie er mit geübtem Blick feststellte. Steckte man einen Zivilisten für eine Filmrolle oder als Partykostüm in Uniform, wirkte er irgendwie deplatziert, fühlte sich in dieser ungewohnten Aufmachung unbehaglich. Andererseits waren auch bei einem Kerl, der in den letzten zehn Jahren Uniform getragen hatte, Jeans und Sakko irgendwie fehl am Platz. Gleichermaßen ungewohnt. Falsche Haltung, die Sachen frisch gebügelt, alle Bewegungen etwas steif und verkrampft.
Sie gingen vorbei wie Reacher und Neagley an der Bar, wurden nicht langsamer oder schneller, blickten dabei geradeaus und begutachteten die Bäckerei nur aus dem Augenwinkel heraus. Breite Gesichter, kräftige Hände. Vermutlich Unteroffiziere, ihrem Aussehen nach Berufssoldaten. Sie liefen weiter, waren sich stillschweigend einig und verschwanden in dem Café schräg gegenüber. Autos fuhren in beiden Richtungen vorüber, Einkaufende und Büroangestellte hasteten auf dem Gehsteig vorbei. Die Kerle setzten sich an einen Fenstertisch und gaben vor, Reacher und Neagley nicht zu beobachten, genau wie die beiden vorgaben, sie keines Blickes zu würdigen.
»Wer sind sie?«, fragte Reacher.
»Lässt sich so nicht feststellen«, antwortete Neagley.
»Grob geschätzt?«
»Army, versteht sich. Höchstens Sergeanten. Nicht bei der kämpfenden Truppe. Deren Sergeanten treten anders auf. Diese Kerle machen irgendwas anderes.«
»Aber in keiner Schreibstube.«
»Nein. Sie können kräftig zupacken.«
»Genau. Sie kommen aus einer Versorgungseinheit. Vielleicht aus einem Transportbataillon. Vielleicht beladen sie Lastwagen. Oder entladen sie.«
»Was denkst du?«
»Ich frage mich, was sie hier machen«, sagte Reacher. »Wie haben sie uns gefunden?«
»Griesmann? Vielleicht hat er telefoniert, nachdem er uns im Hotel abgesetzt hatte.«
»Aber wir sind nicht dageblieben. Sie haben uns nicht ab dort beschattet. Weil wir nicht von dort weggegangen sind.«
»Was bedeutet, dass der Tipp vom NSC gekommen ist. Nur die wissen, in welchem Hotel wir sind. Aber diese Vorstellung ist lächerlich.«
»Richtig. Deshalb sind sie uns von keinem Hotel aus gefolgt. Wir sind auf sie zugekommen. Sie haben in der Nähe der Bar gewartet.«
»Weshalb?«
»Vielleicht ist die Bar mehr als nur ein Treffpunkt für Gleichgesinnte und es verkehren dort alle möglichen Leute. Vielleicht wird dort Geld gewaschen. Was passiert dann, wenn plötzlich zwei Militärpolizisten in der Stadt aufkreuzen? Man stellt für alle Fälle Wachen auf. Da hast du’s! Ohne es zu ahnen, haben wir Alarm ausgelöst.«
»Sie wissen nicht, dass wir Militärpolizisten sind. Sie wissen nicht mal, wie wir heißen. Niemand weiß, dass wir uns überhaupt im Land befinden.«
»Wie haben wir von Helmut Klopp erfahren?«
»Griesmann hat irgendeinen doofen Polizeibericht weitergegeben. An unser Konsulat.«
»Weil er ein ehrenwerter Bürger ist?«
»Nein, um seinen fetten Arsch zu schützen.«
»Ein Kerl wie er würde auch eine Meldung weitergeben, dass zwei Militärpolizisten bei Ermittlungen wegen Mordes aufgefallen sind. Dass sie am Tatort vorbeigegangen sind und sich als Touristen ausgegeben haben. Unsere Namen stehen schwarz auf weiß in der Meldung. Also musste er sie weitergeben. Vermutlich direkt ans Oberkommando in Stuttgart. Dort hat jemand unsere Namen nachgeschlagen, die 110th in unserer Vergangenheit gesehen und heimlich Alarm gegeben. Wie bei einem Banküberfall. Niemand hat etwas gehört, aber in der ganzen Stadt herrscht helle Aufregung. Auf wen haben wir’s abgesehen? Unser Netz ist weit ausgeworfen. Wir werden alle möglichen Leute gegen uns aufbringen.«
»Und wenn dies die richtigen Leute sind?«
»Das sind sie nicht. Ich bin ein Glückspilz, aber so viel Glück habe ich nicht.«
»Wer sind sie also?«
»Lässt sich rein optisch nicht feststellen«, meinte Reacher.
Sie aßen die letzten Krumen Apfelstrudel, tranken die doppelten Espressi aus. Dann standen sie auf und hasteten auf die Straße hinaus.