17

Reachers Echsengehirn kontrollierte Türen und Fenster, während sein Stirnlappen Fakten und Logik überprüfte. Fakten und Logik siegten. Aber Gewissheit war eine gefährliche Illusion, deshalb sagte er: »Vielleicht gehen wir besser hinein.«

Neagley ging voraus. Sinclair schnappte sich ihre Schultertasche, hielt die Geldbörse und die beiden Führerscheine in der anderen und folgte ihr. Reacher bildete die Nachhut. Sie durchquerten den Frühstücksraum und stiegen die Treppe zur Hotelhalle hinauf. Dort befand sich niemand. Sinclair sagte: »Vielleicht sollten wir in meinem Zimmer nachsehen.«

Reacher fragte: »Wo liegt es?«

»Oberster Stock.«

Der Aufzugschacht war leer. Der Vogelkäfig stand in einem der oberen Stockwerke.

Reacher sagte: »Augenblick.«

Er trat an den Empfang. Die Rezeptionistin war eine füllige ältere Dame, bestimmt sehr kompetent. Er fragte sie: »Ma’am, hat eine Frau, die meiner Freundin dort drüben ähnlich sieht, einen Schlüssel verlangt? Hat sie einen Ausweis vorgezeigt?«

»Nein«, antwortete die Frau. »Mich hat niemand gefragt. Ich habe hier keine Frau gesehen. Nur einen Mann. Er hat am Aufzug gestanden, als wartete er auf einen Gast. Aber dann hatte ich im Büro zu tun und habe ihn nicht mehr gesehen.«

Sie deutete auf die Bürotür hinter sich.

Reacher fragte: »Wie hat der Mann ausgesehen?«

»Er war ziemlich klein. Hat einen Trenchcoat getragen.«

»Danke«, sagte Reacher.

Er ging zu den anderen zurück.

Er sagte: »Ich denke, wir nehmen die Treppe.«

Neagley ging voraus, blieb dicht an der Wand und verrenkte sich den Hals, um nach oben zu sehen. Die Treppe wand sich um den Aufzugschacht, in den sie durch das Gitterwerk aus Schmiedeeisen sehen konnten. Dort drinnen bewegte sich nichts. Nur Drahtseile, Kabel und ein eisernes Gegengewicht, alle statisch. Sie erreichten den ersten Stock, dann den zweiten. Dort sahen sie die Unterseite der Aufzugkabine über sich. Der Vogelkäfig hielt weiter im dritten Stock. Im obersten Stock.

Reacher sagte: »Bewegt er sich, rennen wir wieder runter. Wir sind früher dort. Er ist ziemlich langsam.«

Aber der Aufzug bewegte sich nicht. Er stand einfach nur. Dann waren sie hoch genug, um hineinsehen zu können. Er war leer, wartete mit geschlossener Tür. Sie stiegen weiter die Treppe hinauf und erreichten den Flur im obersten Stock.

Leer.

Sinclair deutete nach vorn. Sie hatte das Zimmer neben Reacher. Ebenfalls ein Upgrade-Raum. Nur das Beste für Onkel Sams Personal. Die Tür war geschlossen.

Neagley sagte: »Ich gehe voraus.«

Sie bewegte sich lautlos über den hochflorigen Teppichboden. Die Türangeln waren am nächsten, die Türklinke war weiter entfernt. Neagley schlüpfte unter dem Sichtbereich des in die Tür eingelassenen Spions hindurch und blieb an die Wand gepresst stehen. Sie griff nach hinten, um die Klinke herabzudrücken. Das war immer sicherer. Schüsse konnten durch Türen gehen.

Sie sagte lautlos: »Abgesperrt«, und verlangte damit den Zimmerschlüssel. Sinclair klemmte sich Geldbörse und Führerscheine unter den Arm und wühlte in ihrer Schultertasche. Sie zog einen Sicherheitsschlüssel mit einem großen Anhänger aus Messing heraus. Reacher nahm ihn ihr ab und warf ihn Neagley zu, die ihn mit einer Hand auffing und ins Schloss steckte – wieder von der Seite, um aus der Schusslinie zu bleiben.

Sie drehte den Schlüssel um.

Die Tür öffnete sich einen Spalt weit.

Stille.

Keine Reaktion.

Reacher trat vor, blieb Neagley gegenüber auf der anderen Seite der Tür stehen, ebenfalls aus der Schusslinie, streckte eine Hand mit gespreizten Fingern aus und stieß die Tür ganz auf.

Keine Rektion.

Neagley drehte sich um den Türrahmen und schlüpfte tief gebückt ins Zimmer. Reacher war gleich hinter ihr. Eine bewährte Methode. Klein zuerst, groß dicht dahinter. So hatten beide ungehinderte Sicht. Und der Größere bekam keinen versehentlichen Schuss in den Rücken.

Im Zimmer war niemand.

Nur ein breites französisches Bett mit einem halben Dutzend Brokatkissen und ein Rollkoffer mit Schloss, der mitten im Raum stand.

Niemand im Bad.

Niemand im Kleiderschrank.

Sinclair kam herein und ließ ihr Zeug aufs Bett fallen. Ihre Schultertasche, die Geldbörse, die beiden Führerscheine. Reacher schloss die Tür und sperrte sie ab. Er trat ans Fenster.

Nichts zu sehen.

Keine Gefahr.

Sinclair sagte, sie erkenne ihren echten Führerschein an der alten Kugelschreiberspur an einer Ecke. Sie hatte auf einer Bank in D.C. einen Scheck eingelöst, sich dabei mit ihrem Führerschein ausgewiesen und war beim Unterschreiben auf dem engen Raum vor dem Panzerglas des Kassenschalters mit dem Kugelschreiber abgerutscht. Obwohl sie den Fleck mit dem Daumen abgewischt hatte, war eine deutliche Spur zurückgeblieben.

Sie steckte ihren Führerschein wieder in die Geldbörse, die in die Schultertasche kam. Den gefälschten Führerschein ließ sie auf der Tagesdecke liegen und setzte sich daneben. Sie hielt ihn mit einem Zeigefinger fest, als könnte er davonschweben, und sagte: »Der wirft jede Menge Fragen auf, denke ich.«

»Zumindest eine«, sagte Reacher.

»Nur eine?«

»Haben Sie Ihren Führerschein jemals verloren?«

»Ist das die Frage?«

»Ja.«

»Nein, niemals.«

»Dann gibt es Arbeit für Mr. Ratcliffe, glaube ich.«

»Wieso für ihn?«

»Weil man vermeiden will, das FBI mit den Ermittlungen zu betrauen. Der Fall ist zu skandalträchtig.«

»Wer will das vermeiden?«

»Das Weiße Haus.«

»Vergessen Sie das Weiße Haus. In Hamburg läuft eine Frau herum, die sich als mich ausgibt.«

»Oder umgekehrt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Vielleicht sind Sie eine ausländische Spionin«, sagte Reacher. »Vielleicht läuft die echte Marian Sinclair in Hamburg herum.«

»Im Ernst?«

»Wir sollen nichts unversucht lassen.«

»Lächerlich!«

»Interessieren Sie sich für Baseball?«

»Was?«

»Baseball«, sagte Reacher. »Interessieren Sie sich dafür?«

»Ja, aber nicht sehr intensiv.«

»Zu welchen Spielen gehen Sie?«

»Zu denen der Orioles.«

»Was sehen Sie hinter der rechten Tribüne?«

Sinclair sagte: »Ein Lagerhaus.«

»Okay, Sie haben den Test bestanden.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Nein, ich wollte Sie nur aufziehen. Sie sind natürlich echt, weil Sie Neagleys Post mitgebracht haben.«

»Ziemlich unpassend, Major.«

»Ein gelegentlicher Scherz muss sein. Sonst könnten wir Depressionen bekommen.«

»Das Weiße Haus hat meinen Führerschein bestimmt nicht gefälscht.«

»Sicher nicht.«

»Wir sind nur einen Steinwurf von der Bar entfernt, in der solche Dinge verkauft werden.«

»Zufall«, sagte Reacher.

»Ich glaube nicht an Zufälle. Sie sollten’s auch nicht tun.«

»Manchmal muss man daran glauben. Wäre Ihr Führerschein in Deutschland gefälscht worden, hätten diese Leute ein Pressefoto verwenden müssen. Aus einer Zeitung oder einer Zeitschrift. Fotografiert und bearbeitet, damit es echt aussieht und wirklich Sie zeigt, aber eben nicht Ihr Führerscheinfoto, das sie nicht hätten. Dieses Foto hat nur die Zulassungsstelle in Virginia. Aber weil Sie Ihren Führerschein nie verloren haben, kann es nicht direkt kopiert worden sein.«

»Wer war’s also?«

»Die Zulassungsstelle in Virginia.«

»Die alles Mögliche, aber keine kriminelle Organisation ist.«

»Sicher nicht. Sie hat nur ihren Auftrag ausgeführt. Eine Dienstleistung. Als Sie Ihren ersten Führerschein verloren und einen neuen beantragt haben.«

»Aber das habe ich nie getan!«

»Sie hat nicht gewusst, dass der Antrag nicht von Ihnen kam. Jemand hat den Vordruck ausgefüllt, mit Ihrem Namen unterschrieben und dann Ihr Postfach überwacht, bis der Ersatz da war.«

»Wer?«

»Jemand in der Reisestelle des Weißen Hauses. Ein älterer Angestellter, der schon lange dort arbeitet. Daher könnte der Fall peinlich werden. Deshalb wird Ratcliffe ihn nicht dem FBI übergeben.«

»Wieso in der Reisestelle?«

»Weil für den Antrag bei der Zulassungsstelle mehr als nur Name und Adresse nötig sind. Verlangt werden alle möglichen Daten. Die Leute, die Ihre Flüge, Ihre Mietwagen und Ihre Hotels buchen, würden sie alle kennen.«

»Mein Anwalt weiß alle. Mein Steuerberater auch. Vermutlich sogar meine Haushälterin.«

»Sie haben sechstausend Kilometer von der Heimat entfernt gefrühstückt. Ihr gefälschter Führerschein ist zwanzig Meter von Ihnen entfernt zurückgelassen worden. Und Sie glauben nicht an Zufälle? Wer wusste, dass Sie hier sind?«

Sinclair überlegte, dann sagte sie: »Die Reisestelle des Weißen Hauses.«

»Wer noch?«

»Sonst niemand.«

»Nicht einmal der Hotelempfang«, sagte Reacher. »Weil Sie unter falschem Namen reisen. Also gibt’s nur eine Erklärung. Jemand in der Reisestelle muss voraustelefoniert haben.«

»Mit wem? Mit einer Frau von hier, die dafür ausgebildet ist, sich als mich auszugeben?«

»Die gibt es nicht. Niemand war an der Rezeption, niemand in der Hotelhalle außer einem kleinen Mann in einem Trenchcoat.«

»Was ist also passiert?«

»Der kleine Mann im Trenchcoat hat Ihre Ankunftszeit gekannt. Mit dem Lufthansa-Nachtflug. Jemand in der Reisestelle hat ihm alles erzählt. Er ist Ihnen vom Flughafen ins Hotel gefolgt, hat beobachtet, wie Sie eingecheckt haben und nach oben gefahren sind, ist unauffällig in die Hotelhalle gegangen, hat den Aufzug nach unten gerufen, den Führerschein auf den Boden gelegt und ist wieder verschwunden.«

»Aber wozu das alles?«

»Das war eine Nachricht. Ich denke, Sie sollten den Führerschein selbst finden. Sie sind mit Ihrem Koffer nach oben gefahren, aber er hat erwartet, dass Sie gleich zum Frühstück herunterkommen würden.«

»Ich habe die Treppe genommen.«

»Offensichtlich.«

»Wieso ein älterer Angestellter, der schon lange in der Reisestelle arbeitet?«

»Das können Sie sich selbst ausrechnen. Ich glaube, dass Sie’s schon wissen. Sie fragen auch nicht, wer der Mann im Trenchcoat war. Weil Sie auch das bereits wissen.«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Aber Sie können es sich denken.«

»Es gibt Dinge, die ich Ihnen nicht sagen darf.«

Neagley bemerkte: »Lassen Sie mich ein paar wilde Vermutungen anstellen. Bei einem schwarzen Unternehmen haben Ihre Leute unsere Seite mit deutschen Papieren ausgestattet. Zur Tarnung. Oder nur so aus Spaß. Oder die Israelis haben’s mit Ihrer Erlaubnis gemacht. Die deutsche Regierung hat davon erfahren und sich darüber aufgeregt. Weil Sie nichts zugeben oder besprechen wollten, setzt der deutsche Geheimdienst Sie jetzt sehr zivilisiert unter Druck. Er sagt: Seht ihr, wir können das auch. Er fragt: Na, wie gefällt euch das? Vermutlich ist auch ein bisschen Angeberei dabei, aber warum auch nicht? Alles höchst diskret und letztlich harmlos. Aber trotzdem beunruhigend, meine ich.«

»Wieso ein älterer Angestellter, der schon lange dort arbeitet?«

»Sie haben Botschaftspersonal, das dafür infrage käme, aber weil es immer gut ist, etwas leugnen zu können, haben sie einen amerikanischen Schläfer aktiviert. Neue Beziehungen dieser Art gibt es nicht. Nicht fürs neue Deutschland. Aber ein paar haben aus alten DDR-Zeiten überlebt. Irgendein junger US-Beamter, der auf die Weltrevolution hoffte, hat damals Dokumente kopiert und in tote Briefkästen gelegt. Später kauft er ein Haus und braucht Geld – und so geht die Sache weiter, bis ihn das neue Deutschland und sein Geheimdienst erben. Jetzt ist er endlich nützlich, denn er kennt Ihre Adresse, weil er in der Reisestelle des Weißen Hauses arbeitet.

Der Mann beantragt Ihren Ersatzführerschein und liefert ihn in der Botschaft ab. Vielleicht auch Ratcliffes und wer sonst auf ihrer Liste steht. Dort liegen sie in einem Safe, bis der Erste von Ihnen nach Deutschland reist. Das waren heute Morgen Sie. Aber Sie sind nicht allein geflogen. Jemand aus der Botschaft hat mit ihrem Führerschein in einem Umschlag in derselben Maschine gesessen. Deshalb musste der Mann im Trenchcoat Ihnen vom Flughafen aus folgen, obwohl er wusste, in welches Hotel Sie fahren würden, weil die Reisestelle es gebucht hatte. Zuvor musste er den Umschlag in Empfang nehmen. Auf der ganzen Fahrt in die Stadt war Ihr Führerschein ständig ungefähr zwei Minuten hinter Ihnen.«

Sinclair machte eine nachdenkliche Pause. Dann sagte sie: »Ich will nichts davon kommentieren. Aber wir könnten das natürlich nie eingestehen. Wenn es so gewesen wäre. Was ich weder dementieren noch bestätigen will.«

Reacher fragte: »Werden Sie darauf reagieren?«

»Das wäre ein komplizierter doppelter Bluff, nicht wahr?«

»Sie könnten zu Griesmann gehen, ihn mit den Tatsachen konfrontieren. Er ist bestimmt sehr freundlich, schafft die Sache aber hinter Ihrem Rücken aus der Welt, um als verlässlich dazustehen. Das würde ihm sicher nützen. Er könnte sich Ihnen verpflichtet fühlen. Vielleicht lässt er dafür das sichere Haus überwachen.«

»Für ihn wär’s einfacher, darauf zu bestehen, dass wir den Fingerabdruck überprüfen.«

»Was wir ohnehin tun sollten. Eine Frau ist ermordet worden. Das wäre anständig gehandelt.«

»Das meinen die Leute auf den billigen Plätzen?«

»Das sollte die Meinung auf allen Plätzen sein.«

Sinclair schwieg.

Reacher sagte: »Wir könnten ihn inoffiziell überprüfen. Gibt’s kein Ergebnis, können wir’s ihm sagen. Andernfalls lassen wir uns etwas einfallen.«

»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit?«

»Soldaten gehen zu Nutten, aber sie ermorden sie in aller Regel nicht. Und nach allem, was wir wissen, war sie sehr teuer. Das macht die Sache noch weniger wahrscheinlich.«

»Nein«, sagte Sinclair. »Das ist die Büchse der Pandora. Politisch zu riskant.«

In diesem Augenblick stand die neue Kurierin an der Passkontrolle auf dem Hamburger Flughafen an. Vier Schalter waren geöffnet: zwei für EU-Bürger und zwei für Reisende aus anderen Staaten. Mit ihrem pakistanischen Pass stand sie als Fünfte in der Schlange. Nicht nervös. Kein Grund dazu. Sie war ein unbeschriebenes Blatt. In keiner Datenbank erfasst. Sie war nie im Ausland gewesen. Sie hatte nie ihre Fingerabdrücke abgeben müssen, war nie fotografiert worden – außer für den Pass, mit dem sie jetzt reiste. Durch und durch echt, bis auf den Namen und die Nationalität.

Jetzt war sie die Vierte in ihrer Reihe. Sie konnte ihr Spiegelbild im Glas des Schalters betrachten. Lockiges Haar, verträumter Blick. Harmlos. Dank seiner Appretur war ihr Explorerhemd noch immer weiß und frisch. Die beiden oberen Knöpfe standen offen. Nie mehr als zwei, war ihr eingebläut worden. Und stell dich an einem Schalter mit einem Mann an.

Jetzt war sie die Dritte.

Reacher und Neagley ließen Sinclair in ihrem Zimmer zurück. Sie übersprangen Reachers Unterkunft und gingen in Neagleys Zimmer, um nicht durch die Wand gehört zu werden. Reacher sagte: »Ich weiß nicht, wozu sie hergekommen ist. Sie will das sichere Haus partout nicht überwachen.«

»Sie ist hier, weil eine geringe Chance besser ist als gar keine.«

»Aber sie entscheidet sich bewusst für keine!«

»Tut sie das?«

»Wie meinst du das?«

»Später«, sagte Neagley. »Mach mal Pause. Mit der Ostküste können wir erst in einer Stunde reden. Dann trommeln wir alle zusammen. Eine Telefonkonferenz heitert uns bestimmt auf.«

Reacher nutzte die Pause für einen Spaziergang. Er geriet in eine Straße, in der es fast nur Männerklamotten gab. Und Gürtel, Schuhe, Uhren und Geldbörsen. Kleidung und Zubehör. Wie eine inoffizielle Einkaufsmeile. Er betrat einen der billigeren Läden und kaufte frische Unterwäsche und ein neues T-Shirt. Das schwarze T-Shirt aus hochwertiger Baumwolle kostete ungefähr das Vierfache des Preises, den er gewöhnt war. Aber es passte. Die Deutschen waren im Durchschnitt groß. Nicht so groß wie die Holländer, die darin Weltmeister waren, aber größer als der gewöhnliche Amerikaner.

Er zog sich in der Umkleidekabine des Geschäfts um und stopfte seine alten Sachen in einen Abfallbehälter. Wie Neagley gesagt hatte, fehlten beim US-Militär eine Million Kleinigkeiten. Wie dieses olivgrüne T-Shirt: einmal ausgegeben, nie zurückgebracht oder als verloren oder vernichtet gemeldet, nun plötzlich aus einem Inventar gestrichen, das als Folge nie mehr korrekt sein würde.

Er spazierte weiter. Nach ungefähr der Hälfte der Straße bildete ein Herrenfriseur den Mittelpunkt der inoffiziellen Einkaufsmeile. Seine Einrichtung sollte einen alten amerikanischen Barbershop imitieren. Zwei Kunstledersessel mit mehr Chrom als ein Cadillac. Auf einem Regal ein großes altes Radio. Kein Kundenfang, sondern ein Tribut an amerikanische Lebensart. Hier in der Nähe waren keine US-Soldaten stationiert. Und der PX-Friseur war immer billiger. Reacher fand, der Laden sehe mehr wie ein Diner aus, aber der Besitzer hatte sich wirklich Mühe gegeben. Die Ausstattung war teilweise richtig gut.

An einem Spiegel klebte ein Vorlagenblatt mit Haarschnitten. Reacher hatte es in den Staaten schon hundertfach gesehen. Schwarz-weiße Strichzeichnungen, vierundzwanzig Köpfe, jeder mit einem anderen Haarschnitt, damit der Kunde auf einen deuten konnte, statt viel erklären zu müssen. Links oben war der Crew Cut als Standardhaarschnitt abgebildet, dann kamen der Whitewall, der Flat Top, der Fade und so weiter, wobei die Frisuren bis zur unteren rechten Ecke jeweils etwas länger und exzentrischer wurden. Der Irokese war ebenfalls abgebildet – und ein paar wildere Frisuren, die ihn brav und bieder wirken ließen

Der Mann drinnen winkte Reacher herein.

Reacher fragte mit lautlosen Lippenbewegungen: »Wie viel?«

Der Kerl hielt die fünf Finger einer Hand hoch.

Reacher fragte weiter: »Fünf was?«

Der Besitzer kam an die Tür, öffnete sie und sagte: »US-Dollar.«

»Mein Friseur zu Hause ist billiger.«

»Aber ich bin besser. Sie lassen Ihre Uniformen schneidern, stimmt’s«

»Sehe ich wie ein Uniformträger aus?«

»Oh, bitte.«

Reacher sagte: »Fünf Bucks? Ich weiß noch, wie man für fünf Bucks zwei Hamburger und zwei Kinoplätze in der letzten Reihe bekam. Haarschneiden und Rasieren kostete zwei Dollar.«

»War das eine Hommage?«

»Eine was?«

»Haben Sie das absichtlich gesagt?«

»Ich denke schon.«

»Dann war es ein absichtliches Lob, eine Hommage. Sie haben Energie angesammelt.«

»Was habe ich getan?«

»Ihnen gefällt mein Barbershop?«

»Klar doch.«

»Dann unterstützen Sie ihn, indem Sie die vollen fünf Bucks zahlen.«

»Ich brauche keinen Haarschnitt.«

Der Mann fragte: »Wissen Sie, was der Unterschied zwischen uns beiden ist?«

Reacher fragte: »Was?«

»Ich kann Ihr Haar von außen sehen.«

»Und?«

»Sie brauchen einen Haarschnitt.«

»Für fünf Bucks.«

»Okay, ich lege eine kostenlose Rasur drauf.«

Die sich als luxuriöses Erlebnis erwies. Das Wasser war heiß, der Schaum cremig, der Stahl perfekt. Er glitt kaum spürbar über die Haut. In dem leicht getönten Spiegel wirkte sein Gesicht gebräunt, obwohl es vermutlich rosa war. Trotzdem konnte das Ergebnis sich sehen lassen. Sagen wir einen Dollar, dachte Reacher. Also bleiben vier. Immer noch unverschämt teuer.

Der Mann vertauschte das Rasiermesser mit einer Schere und fing an, Reacher die Haare zu schneiden. Reacher ignorierte ihn und betrachtete wieder das Vorlagenblatt mit Frisuren. Mit den vierundzwanzig Haarschnitten. Er betrachtete einen nach dem anderen, studierte jeden einzelnen sorgfältig – von dem einfachen Bürstenschnitt am Anfang bis zu dem fantastisch komplizierten Ducktail am Ende der Skala.

Dann befasste er sich wieder mit dem Irokesen.

Der Mann fragte: »Was halten Sie davon?«

Reacher sagte: »Wovon?«

»Von Ihrem neuen Haarschnitt.«

Reacher betrachtete sich im Spiegel. Er fragte: »Sind Sie schon fertig?«

»Sehen Sie das nicht?«

»Mein Haar sieht nicht wie frisch geschnitten aus.«

»Genau«, sagte der Kerl. »Der beste Haarschnitt sieht aus, als wäre er eine Woche alt.«

»Ich zahle also fünf Bucks für einen Schnitt, der bereits ausgewachsen aussieht?«

»Dies ist ein Salon. Ich bin Künstler.«

Reacher schwieg.

Er betrachtete nochmals den Irokesen.

Dann griff er in die Tasche, gab dem Mann seine fünf Dollar und fragte: »Haben Sie ein Telefon?«

Der Kerl deutete auf eine Wand. Dort hing ein altes Telefon von Ma Bell. Ganz aus Metall. Nicht für einen Barbershop, sondern für die Außenwand einer Tankstelle gedacht, aber immerhin ein Original.

Reacher fragte: »Funktioniert es?«

»Natürlich funktioniert es«, entgegnete der Mann. »Wir sind hier in Deutschland. Es ist in ein normales Telefon umgebaut worden.«

Reacher wählte die Nummer auf Griesmanns Geschäftskarte. Aus dem Umschlag mit dem Fingerabdruck. Er hörte den Wählton. Das Telefon funktionierte. Deutschland. Umgebaut.

Griesmann meldete sich.

Reacher sagte: »Wir sind nur kleine Kriminaler, Sie und ich, die auf gegenseitige Gefallen hoffen.«

Griesmann sagte: »Sie wollen den Fingerabdruck überprüfen lassen.«

»Wenn Sie etwas für mich tun.«

»Was denn?«

»Tatsächlich sogar zwei Dinge. Lassen Sie die Bar, in der Klopp Stammgast ist, von ein paar Leuten in Autos überwachen. Mit Funkgeräten. Sie sollen auf den Kerl auf dem Phantombild achten. Aber nicht zu auffällig.«

»Und?«

»Ein paar Straßen entfernt liegt ein Apartment. Auch dort werden Männer in Autos und mit Funkgeräten gebraucht. Unauffällig. Früher oder später kreuzt ein junger Saudi auf. Nach einiger Zeit kommt er wieder zum Vorschein und ist zu einem Treff unterwegs. Wir müssen in Echtzeit wissen, wohin er geht.«

»Das sind viele Männer, viele Autos.«

»Wir sind hier in Europa. Wozu brauchen Sie sie sonst?«

»Wann?«

»Sofort.«

»Ausgeschlossen! So was muss geplant werden.«

»Soll ich den Fingerabdruck überprüfen lassen oder nicht?«

Griesmann schwieg einen Augenblick, dann stimmte er mit mehr Begeisterung zu, als Reacher erwartet hatte. Der Mann wollte sich seine Bilanz nicht verderben lassen. Er wollte diesen Fall so schnell wie möglich aufklären.

Reacher sagte: »Sie tun Ihr Bestes für mich, und ich tue mein Bestes für Sie.«

Griesmann sagte: »Okay.«

Dann rief Reacher im Hotel an und verlangte Neagley, die in ihrem Zimmer saß. Er sagte: »Ich brauche Orozco. So schnell wie möglich. Und fünf Minuten später müssen wir uns mit Sinclair zusammensetzen.«

»Sie ist ohnehin auf der Suche nach dir. Sie hat etwas für dich.«

»Was denn?«

»Weiß ich nicht. Anscheinend hat sie irgendwas von Vanderbilt erfahren. Sie ist ganz aufgeregt.«

»Sag Orozco, dass ich in dem Barbershop in der zweiten Querstraße hinter dem Hotel bin. Und er soll sich beeilen!«

»Was hast du?«

»Ich weiß, wer der Amerikaner ist.«

Der Ermittler
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