26
Als sie aufwachten, ging Reacher in sein eigenes Zimmer zurück, um zu duschen und sich wieder anzuziehen. Er benutzte die Treppe, als er allein zum Frühstück hinunterging. Die vier Männer aus McLean waren nach ihrem Nachtflug schon da. Waterman, White, Landry und Vanderbilt. Neagley saß bei ihnen am Tisch. Die vier wirkten müde, sie nicht. Landry sagte, er habe die Großonkel aufgespürt. Er hatte schlechte Nachrichten. Die meisten waren schon tot, und keiner hatte in der Nähe des Jungen gelebt. Es gab keinen Beweis für Kontakte. Nicht einmal Indizienbeweise. Solche Kerle waren keine Besuchstypen. Zwei von ihnen hatten sogar Haftstrafen verbüßt. Längere Einflussnahme war wenig wahrscheinlich.
Waterman konnte jedoch bessere Nachrichten vorweisen. Er sagte, Wileys Mutter sei aufgespürt worden und bereit, über ihre früheren Freunde zu sprechen. Sie lebte in New Orleans von Sozialhilfe. Die dortige FBI-Außenstelle sei benachrichtigt. Agenten würden Mrs. Wiley aufsuchen. Erste Ergebnisse waren in sieben bis acht Stunden zu erwarten. Wegen der Zeitzonen.
White wirkte sichtlich unglücklich. Der CIA-Mann. Sein Haar war noch länger geworden. Er sah dünner aus. Er zuckte und wand sich. Und wrang die Hände und blinzelte.
Reacher fragte: »Was?«
White sagte: »Der Iraner müsste dringend rausgeholt werden.«
»Nichts von alledem hat mit der Kurierin zu tun. Wir haben sie verpasst.«
»Ratcliffe sieht die Sache zu eng. Stößt ihnen in Hamburg etwas Schlimmes zu, führt das zu umfangreichen Ermittlungen. Dann ist jeder verdächtig. Diese Leute sind nicht dumm. Sie werden die richtigen Schlüsse ziehen. Wie viele Variablen gibt es schließlich? Zwei verschiedene Kuriere, aber nur ein sicheres Haus. Der Iraner wird in weniger als fünf Minuten enttarnt.
»Sie sollten mit Bishop reden.«
»Bishop führt ihn, aber er darf den Jungen nicht abziehen.«
»Das muss er können.«
»Nicht wenn’s ums große Ganze geht. Nur bei unmittelbar drohender Gefahr.«
»Die Ihrer Ansicht nach jetzt gegeben ist.«
»Spätestens wenn Sie Wiley fassen. Womit ihr Deal geplatzt ist. Und das ist wann?«
»Hoffentlich bald.«
»Genau.«
»Sie sollten mit Bishop reden«, sagte Reacher wieder.
Dann kam Sinclair herein. Schwarzes Kleid, Perlen, Nylons, Schuhe. Ihr Haar war feucht. Landry und Vanderbilt machten Platz, damit sie sich setzen konnte. Sie sagte: »Ich habe mit Mr. Ratcliffe gesprochen. Wir gehen davon aus, dass die Verhandlungsphase beendet ist und die Übergabephase unmittelbar bevorsteht. Also müssen wir wissen, was, wo und wann.«
»Die Kurierin könnte schon wieder zu Hause sein«, erklärte Neagley. »Mit einem Direktflug oder mit einmal umsteigen. Dann schicken sie einen Kurier in die Schweiz. Weil sie Telefonen nicht trauen. Mit den Kontonummern und Passwörtern. Dann dauert die Transaktion nur eine halbe Stunde. Könnte schon morgen passieren.«
»Oder heute in einem Jahr«, warf Vanderbilt ein. »Sind sie bereit zu handeln? Haben sie das Geld?«
»Wiley kann nicht noch ein Jahr warten«, sagte Waterman. »Er ist schon vier Monate auf der Flucht. Nicht einfach. Viel Stress und hohes Risiko. Er will wieder zur Ruhe kommen. Ich glaube, dass alles jetzt sehr rasch vonstattengeht. Morgen, übermorgen, überübermorgen. Ich wette, dass das Geld längst bereitliegt. Vermutlich auf derselben Bank. Verschiedene Buchungen auf demselben Rechner.«
»Okay«, sagte Sinclair. »Also heißt’s jetzt was, wo und bald.«
»Das Wo hängt von dem Was ab«, sagte Reacher. »Geht’s um Geheiminformationen oder ein Dokument, kann die Übergabe gleich in der Bank erfolgen. Ist’s ein großes Objekt, muss es schon jetzt irgendwo in Deutschland gelagert oder versteckt sein, sodass sie ein Team hinschicken müssten, um es abtransportieren zu lassen.«
»Wir sollten die Bank überwachen«, meinte Waterman.
»Wir wissen nicht, welche. Sie haben Hunderte.«
»Dann die Flughäfen. Hier und in Zürich.«
Landry sagte: »Am einfachsten wär’s, wenn wir rauskriegen könnten, was er verkauft.«
»Echt? Ohne Scheiß?«, fragte Neagley.
»Irgendwas muss es ja sein.«
»Aber was? Hingehen und holen kann er’s nicht mehr. Er würde sofort festgenommen. Folglich ist es vor vier Monaten gestohlen oder sonst wie beiseitegeschafft worden. Allerdings ist nichts als vermisst gemeldet.«
White sagte: »Wir müssen den Iraner rausholen.«
»Noch nicht«, sagte Sinclair.
»Wann sonst?«
»Reden Sie mit Mr. Bishop. Wir fahren jetzt alle ins Konsulat. Er hat ein Büro für uns herrichten lassen. Seien Sie in zehn Minuten in der Hotelhalle.«
Müller stieg die Feuertreppe zu Griesmanns Etage hinauf, Es war noch früh. Vor acht Uhr. Um diese Zeit war noch niemand im Haus. Die Vorzimmer lagen verwaist da. Der Eingangskorb von Griesmanns Sekretärin sah genau wie am Vorabend aus. Müller hatte darauf geachtet, alles wieder sorgfältig hineinzulegen. Aber wo befand sich das Phantombild? Die amerikanischen Ermittler hatten bestimmt so viele Kopien bekommen, wie sie wollten. Auch Griesmann hatte sich vermutlich einige gemacht, bevor er das Original irgendwo sicher verwahrte. Vielleicht in einer besonderen Schublade. Er konnte Dutzende von Phantombildern haben. Eine ganze Sammlung. Schließlich war er der Kripochef.
Aber wo? An der Wand neben dem ergonomischen Bürostuhl der Sekretärin standen zwei Stahlschränke mit zahlreichen Schubladen. Müller beugte sich davor hinunter. Keine der Schubladen war beschriftet. Er richtete sich wieder auf und schaute in Griesmanns Büro. Ins Allerheiligste. Auch dort wieder Stahlschränke, von denen drei zusammengestellt eine Art Sideboard bildeten, auf dem gerahmte Fotos aufgereiht waren. Eine Frau und zwei Kinder, bestimmt Griesmanns Familie. Und eine silberne Statuette auf einem Marmorsockel. Vermutlich kein Sportpokal, wenn man an die Statur des Mannes dachte. Auch an der Wand gegenüber standen noch zwei solcher Stahlschränke. Insgesamt zwanzig Schubladen hier drinnen, dazu acht im Vorzimmer.
Unangenehm viele.
Müller schloss einen Deal mit sich selbst ab. Eine Erfolgschance von eins zu vier war besser als eine fast sichere Chance, seinen Job zu verlieren. Auf lange Sicht war er auf seinem Posten nützlicher. Mit Blick auf das große Ganze. Deshalb würde er den Arbeitsplatz der Sekretärin, aber nicht Griesmanns Büro durchsuchen. Ein vernünftiger Kompromiss. Er wandte sich wieder den Schubladenschränken zu. Er würde von links nach rechts vorgehen. Jeweils ein rascher Blick genügte. Eine Zeichnung musste leicht zu finden sein. Vermutlich auf dickerem Papier von einem Zeichenblock. Vielleicht kein Standardformat. Vermutlich in einer Schutzhülle.
Er beugte sich hinunter.
Hinter ihm sagte eine Frauenstimme: »Hallo?«
Überrascht, leicht fragend.
Müller richtete sich auf und drehte sich um.
Griesmanns Sekretärin.
Er sagte nichts.
Die Frau legte ihre Handtasche auf den Schreibtisch und schlüpfte aus ihrem Mantel. Sie hängte ihn neben der Tür auf, kam eilig wieder zurück. Sie fragte: »Kann ich Ihnen behilflich sein, Herr Kommissar?«
Müller gab keine Antwort.
Die Frau fragte: »Suchen Sie irgendwas?«
»Eine Zeichnung«, antwortete Müller.
»Wovon?«
Müller zögerte kurz.
Überlegte.
Dann sagte er: »Heute spätnachts hat es einen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht gegeben. Den bearbeitet natürlich meine Abteilung. Ein Radfahrer ist angefahren und schwer verletzt worden. Der Unfallfahrer ist geflüchtet. Aber die Begleiterin des Verletzten konnte ihn ziemlich gut beschreiben. Ein markantes Gesicht und eine ungewöhnliche Frisur.«
»Wie können wir Ihnen helfen?«
»Einer meiner Leute hatte ungefähr eine Stunde zuvor mit einem Ihrer Kriminalbeamten gesprochen. Er wollte ihn wegen Falschparkens kontrollieren, aber es handelte sich um eine Observierung. Der Beamte hatte ein Phantombild auf dem Beifahrersitz liegen. Von einem Amerikaner namens Wiley. Als mein Mann sich später daran erinnert hat, ist ihm klar geworden, dass die Begleiterin des Unfallopfers ihm genau dieses Gesicht beschrieben hatte.«
»Ich verstehe«, sagte Griesmanns Sekretärin.
»Deswegen müssen wir diese Zeichnung unserer Zeugin vorlegen. Um eine Bestätigung zu erhalten.«
»Sie können gern eine Kopie haben.«
Müller sagte: »Wenn’s nicht zu viel Mühe macht.«
»Oh, durchaus nicht.«
»Also vielen Dank.«
Die Frau verschwand im Allerheiligsten, und Müller hörte, wie eine Schublade aufgezogen wurde. Als sie zurückkam, hielt sie ein Blatt Zeichenpapier in einer Plastikhülle in der Hand. Sie schaltete ihren Farbkopierer ein. Müller vernahm ihn klicken und ticken, roch heißen Toner. Aber er hörte auch, wie die Aufzugtür sich öffnete. Zwei weitere Sekretärinnen stiegen aus. Schultertaschen, leichte Mäntel, rascher Schritt. Die beiden gingen höflich lächelnd vorbei, hatten es eilig, an den Schreibtisch zu kommen.
Griesmanns Sekretärin klappte die Abdeckung hoch, legte das Phantombild auf die Glasplatte, schloss den Deckel und drückte einen Knopf. Das Gerät surrte. Eine Fotokopie erschien.
Die Aufzugtür ging erneut auf. Nicht Griesmann. Nur ein Kerl im Anzug. Müller kannte ihn vage. Der Mann nickte ihm zu und ging weiter.
Griesmanns Sekretärin gab Müller die Farbkopie. Das Phantombild war mit Buntstiften gezeichnet. Ein hagerer Mann mit markanten Augenbrauen, hervortretenden Wangenknochen, tief in den Höhlen liegenden Augen und einem langen blonden Haarschopf.
Müller sagte: »Danke« und ging – den Flur entlang, zur Brandschutztür, die Feuertreppe hinunter, auf seine eigene Etage, den eigenen Flur entlang und in sein eigenes Büro, in dem er sich sofort daranmachte, einen Unfallbericht über den verletzten Radfahrer und den flüchtigen Autofahrer zu fälschen. Nur für den Fall, dass Griesmann das kontrollierte.
Reacher und Neagley gingen gleich in die Hotelhalle hinauf. Neagley sagte: »Wir brauchen Wileys Stationierungen und Abkommandierungen. Lückenlos. Das ist der Schlüssel zu dieser Sache. Er befindet sich seit gut zwei Jahren in Deutschland und hat sich vor vier Monaten unerlaubt von der Truppe entfernt. Also war er ziemlich genau zwei Jahre lang im aktiven Dienst. In dieser Zeit hat er etwas gesehen, sich einen Plan zurechtgelegt und es gestohlen. Deshalb müssen wir genau wissen, wo er sich überall aufgehalten hat. Tag für Tag, weil er mindestens einen Tag lang ganz in der Nähe des Objekts war. Was immer es ist. Vielleicht hat er’s sogar berührt. Körperliche Nähe.«
»Mindestens einen Tag lang«, sagte Reacher. »Als er’s gestohlen hat.«
»Ich tippe auf mindestens zwei Tage«, sagte Neagley. »Erst hat er’s gesehen, dann hat er einen Plan gemacht, dann ist er zurückgekommen, um es zu stehlen.«
»Nur hat er’s nicht gesehen. Eigentlich nicht. Er hat es gefunden. Er hat es aufgespürt. Diese Sache war von langer Hand vorbereitet. Wiley ist nach Deutschland gekommen, um sich etwas zu holen, von dem er längst wusste.«
»Trotzdem habe ich recht. Es muss einen physischen Kontakt gegeben haben.«
»Ich möchte wissen, wovon er seine Miete zahlt«, sagte Reacher. »Er ist ein kleiner Obergefreiter, der keinen Sparplan hat. Lass nachprüfen, ob seine Abkommandierungen mit ungeklärten Eigentumsdelikten zusammenfallen. Irgendwo muss er sein Startkapital herbekommen haben.«
Und dann nahm die Rezeptionistin einen Anruf entgegen, drückte den Hörer an ihren Busen und rief: »Major Reacher, für Sie!«
Der Anrufer war Orozco, der dem Klang nach aus einem Keller anrief.
Orozco fragte: »Sitzen wir in der Klemme?«
»Alles ist gut«, antwortete Reacher. »Gegenwärtig retten wir die Welt.«
»Bis wir’s nicht mehr tun.«
»Dann ist sowieso alles egal.«
»Ich habe gerade mit Billy Bob und Jimmy Lee geredet. Sie bestätigen, dass sie sich für ihre deutschen Ausweise jeden Namen aussuchen durften. Aber es musste ein deutscher sein. Ein ausländischer Name hätte bei einer zufälligen Überprüfung auffallen können. Bei deutschen Namen hat es keine Einschränkungen gegeben. Sie konnten einen nehmen, der gut geklungen oder ihnen etwas gesagt hat.«
»Okay, danke«, meinte Reacher. »Muss jetzt weiter.«
Weil er der Rezeption den Rücken zukehrte, konnte er durch bodentiefe Fenster auf die Straße hinaussehen.
Dort stand ein Mann in einem Hauseingang.
Auf der anderen Straßenseite.
Reacher gab den Hörer zurück. Er nickte Neagley zu und deutete. Auch sie schaute nach draußen und sagte: »Ich sehe ihn. Schwer zu übersehen.«
»Komm, wir wollen etwas frische Luft schnappen.«
Neagley trat als Erste ins Freie. Reacher folgte ihr. Das überraschte den Mann im Hauseingang, der demonstrativ gähnte und sich räkelte und langsam davonschlenderte, als hätte er massenhaft Zeit.
Neagley fragte: »Wollen wir sehen, wohin er geht?«
Sie hielten mit dem Kerl Schritt: drei Meter hinter ihm und durch zwei Fahrspuren mit morgendlichem Berufsverkehr von ihm getrennt, als er weiterschlenderte. Er trug einen leichten Wollmantel, aber keinen Hut. Er war ziemlich muskulös, größer als Neagley, aber kleiner als Reacher. An der Kreuzung bog er rechts ab. Reacher und Neagley benutzten den Fußgängerübergang und blieben weiter auf seiner Höhe.
Der Kerl bog erneut rechts ab.
In einen Durchgang zwischen zwei Gebäuden.
»Ganz klar eine Falle«, erklärte Neagley. »Vermutlich ein Innenhof. Kein Wunder, dass der Typ so gut zu sehen war. Er sollte dich herlocken.«
»Mich?«
»Der Kerl gehört weder zu Griesmanns noch zu Bishops Leuten. Wer ist er also? Von Orozco wissen wir, dass die hiesigen Rechten straff organisiert sind. Ich möchte wetten, dass Helmut Klopp zu den Gründungsmitgliedern gehört. Er weiß, wie wir aussehen, und kennt unsere Namen. Du hast vier ihrer Fußsoldaten zusammengeschlagen. Das wollen sie dir jetzt heimzahlen.«
»Glaubst du, dass sie deswegen noch wütend sind?«
»Vermutlich.«
»Wie groß dürfte der Innenhof sein?«
»Ich bin keine Architektin, aber ich tippe auf zehn mal zehn Meter. Wie ein großes Zimmer.«
»Wie viele Kerle haben sie wohl zusammengetrommelt?«
»Mindestens sechs. Sieben mit dem Typen, der dich hergeführt hat.«
»Uns hergeführt hat.«
»Bis ich unseren Vormarsch gestoppt habe. Als Sergeantin bin ich für die Sicherheit meines Offiziers verantwortlich.«
»Bringen sie euch das bei?«
»Zwischen den Zeilen.«
»Damit kann ich leben«, meinte Reacher.
»Wir sollten umkehren.«
»Vielleicht hast du unrecht.«
»Das glaube ich nicht.«
»Vielleicht ist das der Hof einer Wohnanlage. Zwischen Blocks mit Sozialwohnungen. Ein innerstädtisches Elendsquartier. Zimmer ohne Aussicht. Häuser, in denen man wohnt, wenn man arbeitslos ist. Wenigstens hat man dann Zeit, den ganzen Morgen in einem Hauseingang gegenüber einem Hotel zu stehen.«
»Glaubst du, dass er heimgegangen ist?«
»Ich denke, wir sollten nachsehen.«
»Das ist eine Falle, Reacher!«
»Ich weiß, dass es eine ist. Aber wir müssen erreichen, dass sie unseretwegen besorgt sind. Wir müssen sie weiter unter Druck setzen. Vielleicht sollten wir sie dazu zwingen, uns den Passverkäufer auszuliefern. Er ist bestimmt einer von ihnen. Wir brauchen Wileys neuen Namen. Unter Umständen kommen wir nur so an ihn heran. Lass mir zwei Minuten Zeit. Bin ich bis dahin nicht wieder draußen, kannst du reinkommen und dich nützlich machen.«