DONNERSTAG, 6. NOVEMBER
Ich weiß nicht genau, wo wir sind. Da ist eine lange, geradlinige Highway-Fahrbahn durch eine Ebene ohne Bäume, umgeben von Brachland. Wir sitzen im Cadillac – ich als Fahrer, mein Vater als Beifahrer.
»Fährt sich gut, hm?«, meint mein Vater und grinst mich an. Er trägt eine Sonnenbrille.
»Sehr gut.«
»Du weißt, warum, oder?«
»Warum?«
»Weil du einen gottverdammten Cadillac fährst, darum!« Er lacht schallend.
»Aber wohin fahren wir?«, will ich wissen.
»Wohin du willst, Edward. Aber meinst du nicht, du musst zuerst …«
Zum Supermarkt. Das denke ich, als ich um 7:38 Uhr die Augen aufschlage.
An einem Tag wie diesem braucht ein Mensch ein gutes Frühstück, und ich bin ein Mensch, aber ich habe kein Frühstück. Dass ich meinen Einkauf am Dienstag ausgelassen habe, zeigt zwar, dass ich kühn und impulsiv sein kann, aber das hilft mir heute nicht weiter, wo ich nichts zu essen habe. Wenn das Thunfisch-Sandwich, das meine Mutter mir gestern zum Mittag gemacht hatte, und meine übrige Pizza als Abendessen nicht gewesen wären, hätte ich gestern vielleicht ans Einkaufen gedacht. Aber das habe ich nicht. Dieses Versäumnis ist mein eigener Fehler.
In meinem Schlafzimmer ziehe ich mich im Dunkeln an und verlasse dann schnell das Haus. Ich kann mir 7:38 Uhr merken. Schließlich bin ich 229-mal an den 311 Tagen dieses Jahres (weil es ein Schaltjahr ist) zu dieser Zeit aufgewacht. Wenn ich mich daran nicht mehr erinnern könnte, müsste ich meinen Kopf untersuchen lassen, was ich auf keinen Fall will.
Ich kann meine Daten also vervollständigen, wenn ich wieder nach Hause komme.
So früh am Morgen ist es kalt und düster. Der Spätherbsthimmel ist dunkelgrau wie ein Gewehrlauf, und ich würde schätzen, dass die Temperatur heute nicht viel über den Gefrierpunkt kommen wird. Ich würde schätzen, aber das tue ich nicht gern. Schätzungen sind Vermutungen. Ich bevorzuge Tatsachen.
Im Albertsons an der 13th Street West, Ecke Grand Avenue jedoch ist es hell und leer, und es macht mir Spaß, die Gänge entlangzugehen und Lebensmittel zusammenzusuchen, die ich brauche.
Ich habe beschlossen, es noch einmal mit anderem Essen zu versuchen. Ich sehe ein, dass die Änderung meiner Einkaufsgewohnheiten nichts mit dem zu tun hatte, was meinem Vater passiert ist; das war einfach Zufall. Ich würde immer noch gern ausprobieren, ob ich ein Steak braten kann, und deshalb kaufe ich ein Paket mit zwei Rumpsteaks für den Fall, dass der erste Versuch nicht klappt.
Gewohnheitsgemäß (ich liebe den Begriff »gewohnheitsgemäß«) nehme ich außerdem Cornflakes und die Zutaten für Spaghetti, was weiterhin mein Lieblingsessen bleibt, auch wenn ich gesagt habe, ich hätte das Gefühl, es sei zu öder Routine geworden. Seit ich das gesagt habe, hat sich viel verändert.
Ich werde es erneut mit ein paar Mikrowellen-Diätgerichten versuchen, aber ich denke, es ist in Ordnung, auch noch ein paar Tiefkühl-Fertiggerichte zu nehmen, weil ich die mag. Dasselbe gilt für Eiskrem und Pizza. Ich hole Dreyer’s Vanille-Eis und Salami-Pizza von DiGiorno, weil sie mir gut schmecken. Es ist okay, Dinge zu holen, die man mag. Es bedeutet nicht, dass man Sklave seiner Rituale ist.
Ich denke, Dr. Buckley würde mir zustimmen.
»Ich glaube nicht, dass ich Sie hier schon mal so früh gesehen habe.« Die Frau hinter der Kasse spricht mit mir.
»Wie bitte?«
»Sie sind früh dran. Kommen Sie sonst nicht immer später am Tag?«
»Ja. An Dienstagen. Diese Woche aber nicht.«
»Vergessen?«
»Nein. Ich bin bewusst nicht gegangen.«
»Ja, einkaufen kann manchmal ganz schön stressig sein.« Sie zieht weiter meine Einkäufe über den elektronischen Strichcode-Leser.
»Mein Vater ist gestorben. Das hat meinen Zeitplan irgendwie durcheinandergebracht.«
Sie sieht mich bestürzt an. »Oh, das tut mir leid.«
»Ist schon okay.«
»Tja«, meint sie und hält die Eispackung hoch, »Eiskrem ist exzellentes Tröster-Essen.«
»Ja.«
Sie ist fertig mit dem Einlesen der Preise.
»Okay, das macht vierundfünfzig Dollar und achtundsiebzig Cent«, verkündet sie.
Ich ziehe meine Karte durch den elektronischen Kartenleser, tippe auf die Kreditoption und warte, dass der Beleg erscheint. Als er herauskommt, unterschreibe ich mit meinem Namen.
»Vielen Dank. Es war nett, Sie zu sehen«, sagt die Frau an der Kasse. »Machen Sie’s gut.«
Ich sage ihr Auf Wiedersehen.
Während ich zum Cadillac zurückgehe, fällt mir ein, dass ich im Supermarkt noch nie ein Gespräch geführt habe. Es hat Spaß gemacht.
Wie viel auch immer es bedeuten mag – und das ist sicher nicht viel, bis ich morgen die wahren Tatsachen überprüfen kann –, stimmt die Wettervorhersage des Billings Herald-Gleaner mir zu: Es soll heute kalt werden, mit einer Höchsttemperatur von zwei und einer Tiefsttemperatur von minus fünf Komma fünf Grad Celsius. Das sind zu diesem Zeitpunkt aber noch Vermutungen, und ich bevorzuge Tatsachen. Davon habe ich zwei: Die gestrige Höchsttemperatur betrug neun und die Tiefsttemperatur ein Grad. Ich notiere diese Zahlen in meinem Notizbuch, und meine Daten sind vollständig. Dann esse ich den Rest meiner Cornflakes, spüle das Fluoxetin mit Orangensaft hinunter, und mein Frühstück ist beendet.
Mr Withers hat nicht erwähnt, was ich zu unserem Treffen anziehen soll, also gehe ich mit etwas Förmlichem auf Nummer sicher und wähle den Anzug von George Foreman und das Hemd mit den blauen Streifen. Dieselben Sachen habe ich bei meiner Verabredung mit Joy-Annette getragen, was mich vorübergehend nachdenklich macht. Aber ich kenne Mr Withers schon sehr lange und habe keine Angst, dass er mich abservieren wird, wie Joy-Annette es getan hat. Ich denke, das geht in Ordnung. Dass ich dieselben Sachen trage, ist reiner Zufall. Es hat nichts zu bedeuten.
Ich gehe unter die Dusche. Ich muss mich beeilen, damit ich sauber und angezogen um Punkt 10:00 Uhr beim Billings Herald-Gleaner erscheinen kann.
Die Frau am Empfang hat ein nettes, fröhliches Gesicht. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Zu Mr Withers, bitte.«
»Werden Sie erwartet?«
»Ja.«
»Ihr Name?«
»Edward Stanton.«
Sie nimmt den Telefonhörer auf und tippt eine Nummer. »Hier ist ein Edward Stanton, der Sie sprechen möchte. Ja, okay.« Sie legt auf.
»Er kommt gleich runter.«
Ich sehe mich im Foyer des Herald-Gleaner um. Die Frau, mit der ich gesprochen habe, sitzt hinter einer hohen Glastrennwand, durch die ich Dutzende von Büroabteilen sehen kann, in denen Leute vor Computern sitzen und tippen oder Papiere bearbeiten. An der linken Wand, der Nordseite des Gebäudes, sind Büros mit Glaswänden. In der Mitte des großen Raumes hinter der Glastrennwand ist ein kleiner Tisch in einer Mulde, umgeben von etwas, das wie Bäume aussieht. Ich kann nicht erkennen, ob es echte Bäume sind. Sie sehen echt aus; einige Blätter wirken verwelkt. Ich weiß aber auch, dass die Hersteller sehr gut darin geworden sind, falsche Dinge wie echt aussehen zu lassen. Ich werde diesbezüglich Mr Withers fragen müssen.
Hinter den Bäumen ist ein Raum mit Glaswänden an drei Seiten, einem großen Tisch und vielen Stühlen. Vermutlich werden dort wichtige Konferenzen abgehalten. Rechts sind noch mehr Büroabteile und Glasbüros an der Südseite. Hier im Herald-Gleaner wirkt alles sehr geschäftig und wichtig.
»Edward, mein Junge!« Mr Withers’ laute Stimme dringt durch die Glastrennwand zu mir herüber. Ich würde sie überall wiedererkennen. Er schiebt eine Tür auf und bittet mich hereinzukommen.
»Wie geht es dir, Edward?«, fragt er, streckt mir seine Hand entgegen, und ich drücke sie.
»Es geht mir gut.«
»Ausgezeichnet.«
Seit meinem Abschluss an der Billings West Highschool vor einundzwanzig Jahren habe ich Mr Withers nur ein paar Mal gesehen. Damals war er vermutlich jünger als ich jetzt bin, vielleicht um die fünfunddreißig oder sechsunddreißig. Jetzt ist er etwa Mitte fünfzig, und sein rötlich braunes Haar, an das ich mich noch erinnern kann, ist grau geworden. Er ist ein bisschen dicker geworden und hat ein paar mehr Falten um die Augen, aber seine Stimme und Körperhaltung sind immer noch dieselben.
»Edward, noch einmal mein herzliches Beileid zu deinem Vater. Er war ein guter Mann.«
»Ja.«
Er klopft mir auf die Schulter. »Tja, mein Junge, dann komm mal mit mir nach oben. Wir haben einiges zu besprechen.«
Auf dem Weg nach oben erzählt Mr Withers von seiner Arbeit beim Herald-Gleaner.
»Ich bin der Technische Leiter«, sagt er. »Das bedeutet in erster Linie, dass ich hier alles am Laufen halte. Es geht dabei um mechanische Dinge wie die Druckerpresse und die Instandhaltung der Büros und der Außenanlage. Das ist viel Verantwortung. Es ist ein großes Grundstück. Ich werde dir gleich alles zeigen.
»Warum haben Sie an der Highschool aufgehört?«
»Ich war dreiunddreißig Jahre dort. Es wurde Zeit. Ich habe mir mein Anrecht auf eine Pension erarbeitet, und es wurde immer schwerer, mit den Schulleitern und den Bestimmungen klarzukommen. Ich hatte das Gefühl, es wäre Zeit für eine Veränderung. Kennst du das Gefühl, Edward?«
»Ja.« Das habe ich in letzter Zeit häufig gehabt.
»Jedenfalls … hier ist mein Büro«, sagt er und führt mich in einen kleinen Raum mit Ausblick auf die 4th Avenue North, eine der viel befahrenen Straßen von Billings. »Setz dich.«
Ich setze mich, und Mr Withers nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz.
»Der Grund, warum ich dir geschrieben habe, ist der, dass ich möchte, dass du für mich arbeitest.«
Das hatte ich nicht erwartet, und deshalb fällt mir nur ein Wort ein.
»Warum?«
»Jemanden wie dich kann ich gut gebrauchen. Du hast geschickte Hände und ein gutes Verständnis für Mechanik. Diese Anlage ist vierzig Jahre alt und muss gut gewartet werden. Ich dachte, du bist genau der Richtige, der mir dabei helfen kann.«
»Wann?« Ich bin gleichermaßen aufgeregt wie verängstigt.
»Ich denke, ich würde dich in der sogenannten ›Spätschicht‹ einsetzen. Die geht vom späten Nachmittag bis etwa Mitternacht«, antwortet Mr Withers. Dann wird seine Stimme etwas leiser und ernster. »Edward, ich weiß, dass du zum Arbeiten deine Ruhe brauchst. Ich weiß auch, warum. Bei dieser Arbeit wäre das gegeben. Du bist mir unterstellt, und wenn du hier bist, wirst du Aufgaben übernehmen, die ich dir gebe und die du dann allein verrichten kannst. Verstehst du, was ich sage?«
»Ja.«
»Gut«, erwidert er und kehrt zu seinem munteren Selbst zurück. »Was meinst du – sollen wir uns einmal umsehen?«
Mr Withers führt mich durch den gesamten Herald-Gleaner und erklärt mir, was in jedem Teil des Gebäudes passiert.
Im nördlichen Teil, so sagt er, arbeiten die Mitarbeiter der Anzeigen- und Marketingabteilungen, die Werbefläche in den Zeitungen und auf ihrer Webseite verkaufen und an Werbeaktionen arbeiten und solchen Sachen. Er stellt mich einer ganzen Reihe von Leuten vor, aber ich kann mir ihre Namen nicht alle merken.
Im südlichen Teil des Gebäudes ist die Redaktion untergebracht – die Journalisten und Redakteure und Fotografen, die die Nachrichten schreiben und jeden Abend eine ganze Zeitung zusammenstellen. Ich erwarte einen Riesentumult, wie man es in Filmen über Zeitungsredaktionen immer sieht, aber um diese Tageszeit ist es hier ganz ruhig. Viele Leute sitzen am Telefon.
Wie sich herausstellt, sind die Bäume mitten im Gebäude echt. Mr Withers schmunzelt, als ich ihn danach frage, und deutet zur Decke, wo ein riesiges Oberlicht eingebaut ist. »Es ist ganz schön anstrengend, ständig die welken Blätter aufzufegen«, sagt er.
Er zeigt mir auch die Druckerpresse und das neue Packzentrum, in dem die Zeitung mit Prospekten und anderen Beilagen bestückt wird, wie etwa die Sonderbeilage Parade in der Sonntagsausgabe. Mr Withers erklärt, dass die Druckerpresse die meiste Zeit in Betrieb ist – nicht nur für die tägliche Zeitung, sondern auch für Prospekte und Publikationen anderer Verlage aus der Region. Das Packzentrum ist riesig und in einem Anbau untergebracht, der erst im letzten Jahr errichtet wurde.
»Es ist ziemlich aufregend hier«, sagt Mr Withers.
Es sieht aus, als könnte man hier gut arbeiten.
Auf dem Weg zurück nach oben erzählt Mr Withers, er könne mir am Anfang etwa zwölf Dollar pro Stunde geben, und das klingt gut für mich. Es ist mehr, als ich je verdient habe, abgesehen von den fünf Millionen, die mein Vater mir gegeben hat.
Als er wieder hinter seinem Schreibtisch sitzt, fragt Mr Withers: »Wie sieht’s aus, mein Junge, willst du hier für mich arbeiten?«
Ich antworte ohne zu zögern: »Ja.«
»Ausgezeichnet.«
»Wann soll ich anfangen?«
»Komm am Montagnachmittag um vier, Edward. Wir füllen dann deine Papiere aus, ich zeige dir, was du tun wirst, und du startest gleich durch. Wie klingt das?«
»Gut.«
»Na, prima.« Er steht auf und klopft mir wieder auf die Schulter. »Ich bringe dich nach unten.«
Wenige Minuten später sitze ich wieder hinter dem Steuer des Cadillac. In meinem Traum hat mein Vater gesagt, das Auto werde mich überall hinbringen, wohin ich möchte. Dass ich hier landen würde, hätte ich nie erwartet.
Ich fahre den Cadillac das kurze Stück nach Hause, und mir schwirrt der Kopf. Nie hätte ich gedacht, dass ich wieder eine Arbeit haben würde, aber ich vertraue darauf, dass Mr Withers sich gut um mich kümmert. Die Arbeitszeit, die er genannt hat, wird wohl zu einigen Änderungen in meinem Zeitplan führen. Ich werde meinen 22:00-Uhr-Termin für Polizeibericht verschieben müssen. Vielleicht kann ich es sehen, wenn ich nachts nach Hause komme. Das bedeutet, dass ich nicht mehr um Punkt Mitternacht ins Bett gehen werde. Dadurch wird sich vermutlich meine häufigste Aufwachzeit von 7:38 Uhr ändern. Wenn ich nach der Arbeit noch Polizeibericht sehen werde, kann ich frühestens um 1:00 Uhr nachts im Bett liegen.
Mein 10:00-Uhr-Termin mit Dr. Buckley ist jedoch sicher. In nur wenigen Tagen werde ich ihr viel zu erzählen haben.
Und in den Supermarkt kann ich gehen, wann immer es nötig ist. Das bleibt von meiner neuen Arbeit unbehelligt.
Gestern stand im Billings Herald-Gleaner, der neue Präsident Barack Obama habe gesagt, dass »ein Wandel ansteht«. Ich frage mich, woher er das wusste.
Zu Hause hole ich gerade meine Post aus dem Briefkasten – alles Werbesendungen –, als ich einen Briefumschlag entdecke, der an meine Tür geklebt ist. »Edward« steht darauf, aber es sind nicht die akkuraten Blockbuchstaben meines Vaters. Stattdessen ist es eine hübsch verschnörkelte Schrift. Wer auch immer das geschrieben hat, hatte in der Schule in Handschrift vermutlich eine gute Note.
Ich lege die Post auf die Veranda und reiße den Umschlag auf. Darin ist ein Blatt aus einem linierten Schreibblock, wie ich ihn früher in der Schule hatte.
Lieber Edward,
dies ist ein Beschwerdebrief. Der Unterschied zwischen Ihren und meinen Beschwerdebriefen ist allerdings, dass meine abgeschickt werden.
Sie waren mir in letzter Zeit kein guter Freund, und ich möchte, dass Sie das wissen. Sie sind einfach weggegangen, als ich Ihnen sagte, wie leid mir das mit Ihrem Vater tut, und Sie haben mich und Kyle angeschrien, als wir nichts weiter von Ihnen wollten, als dass Sie rauskommen und unser Freund sind. Freunde tun das nicht, Edward. Freunde reden miteinander, und Freunde versuchen, nicht unhöflich zu sein, auch wenn sie keine Lust haben, nach draußen zu kommen. Wenn Sie mein Freund sind, können Sie mir sagen, dass Sie etwas nicht tun wollen, und ich werde es verstehen. Das tun Freunde. Wenn ich Ihre Freundin bin, werde ich es Ihnen auch sagen, wenn ich etwas nicht will.
Ich habe mit mir gerungen, ob ich diesen Brief schreiben soll. Unser Leben war in letzter Zeit recht schwierig, und ich will keine Zeit mit jemandem verschwenden, der mir kein guter Freund ist. Ihre Leistungsbilanz als mein Freund ist recht unklar. Ich versuche herauszufinden, ob Sie der Edward sind, der mit einem kleinen Jungen streitet, oder der Edward, der mir an jenem Tag im Gericht zur Seite stand und es hinterher schaffte, dass ich mich wieder gut fühlte. Manchmal denke ich, Sie könnten uns ein richtig guter Freund sein. Manchmal nicht.
Vielleicht interessiert es Sie zu erfahren, dass Mike keinen Prozess bekommen wird. Nach der Szene im Gerichtssaal hat sein Anwalt ihm geraten, auf eine Vereinbarung mit dem Staatsanwalt einzugehen. Er wird für eine Weile ins Gefängnis gehen. Nicht für immer, aber hoffentlich lange genug, dass er uns hinterher in Ruhe lässt. Ich denke, das wird er. Der Staatsanwalt sagte mir, Mike verstehe sehr wohl, in welche Schwierigkeiten er sich gebracht hat.
Edward, ich möchte, dass Sie über ein paar Dinge nachdenken: Wenn Sie unser Freund sein wollen, müssen Sie das die ganze Zeit über sein. Das heißt nicht, dass wir nicht mal verschiedener Meinung sein können oder uns mal nicht sehen wollen oder sogar mal böse aufeinander sind. Aber Sie dürfen uns nicht ausschließen. Für solche Freunde habe ich keine Zeit, und ich kann nicht zulassen, dass Kyle sich auf einen Freund verlässt, der ihn am Ende enttäuscht. Er ist noch ein kleiner Junge, und er hat schon genug Enttäuschungen erlebt. Außerdem teilen Freunde. Sie sind nie bei uns gewesen, obwohl wir Sie schon zu uns eingeladen haben. Sie sind noch nicht einmal auf unserer Straßenseite gewesen. Ihr Haus ist schön, und wir können uns dort gerne treffen, aber Sie müssen auch mal zu uns kommen. Das ist nur fair.
Was ich also sagen will, ist, dass unsere Herzen und unsere Tür offen sind für Ihre Freundschaft. Aber Sie müssen herkommen und anklopfen, um eingelassen zu werden.
Wir hoffen sehr, dass Sie das tun.
Donna und Kyle
Es sieht aus, als hätte Kyle den Brief mit unterschrieben. Wie seine Mutter, hat auch er eine exzellente Handschrift.
Ich falte den Brief zusammen und stecke ihn wieder in den Umschlag. Dann drehe ich mich um und sehe zu Donnas Haus hinüber.
Ihr Auto ist da.
Die Vorhänge sind zurückgezogen.
Sie ist zu Hause.
Auf der Clark Avenue rührt sich nichts außer den Zweigen in den Bäumen und den Blättern, die vom Wind die Straße hinuntergeweht werden.
Ich muss nichts weiter tun, als nach rechts und links zu schauen und hinüberzugehen.
ENDE