MITTWOCH, 5. NOVEMBER
Ich habe mir überlegt, dass ich tatsächlich ein paar Rituale habe, die die Zeit, die ich in sie investiere, möglicherweise nicht wert sind. Ich denke nicht, dass ich es aufgeben könnte, die Wetterdaten zu notieren – über das Muster beim Wetter kann man viel über die Tendenzen eines Ortes erfahren, und es macht mir Spaß zu sehen, wie oft die Vorhersagen falsch sind. Aber vielleicht könnte ich aufhören, die Tage ohne meinen Vater zu zählen, vor allem, weil ich das meinen Daten erst vor Kurzem hinzugefügt habe. Außerdem, wenn ich es so sehe, wie Dr. Buckley vorgeschlagen hat, bin ich nicht wirklich ohne meinen Vater. Er ist bei mir – in meinen Gedanken und Erinnerungen. Das ist etwas, das außerhalb der Grenzen der rein auf Tatsachen beruhenden Welt liegt, in der ich leben will, aber ich denke, ich würde gern ausprobieren, ob es funktioniert.
An all dies denke ich um 8:17 Uhr, neununddreißig Minuten nach meinem Aufwachen. Falls das Ausrechnen für Sie eine zu große Herausforderung ist: Das war dann um 7:38 Uhr, das 228. Mal in 310 Tagen (weil es ein Schaltjahr ist), dass ich um diese Uhrzeit aufgewacht bin. Es war außerdem das dritte Mal in Folge, dass ich zu dieser häufigsten aller Aufwachzeiten aufgewacht bin, und ich entnehme daraus, dass ich allmählich zu meinem normalen Rhythmus zurückkehre. Ich bin erleichtert. Was meinen Rhythmus angeht, herrschte in letzter Zeit zu viel Kuddelmuddel. (Ich liebe das Wort »Kuddelmuddel«.)
Vor ein paar Minuten habe ich durch die Gardine im Wohnzimmer gespäht und beobachtet, wie Donna Middleton ihren Sohn mit seinem Rucksack ins Auto verfrachtete – für die Fahrt zur Schule, wie ich annehme. Es war schwer, das Verlangen zu unterdrücken, hinauszugehen und zu testen, ob ich Donnas Aufmerksamkeit gewinnen kann in der Hoffnung, dass sie mit mir spricht, aber ich habe an das gedacht, was Dr. Buckley gesagt hat. Donna Middleton braucht Zeit und eigenen Freiraum. Und obwohl ich nur noch etwa 280.000 Stunden meines Lebens übrig habe – mal angenommen, ich werde durchschnittlich lange leben, und ich mag keine Annahmen –, bin ich gewillt, einige von ihnen dafür zu opfern, dass ich Donna Middleton entscheiden lasse, was sie tun will.
Jetzt sitze ich bei einem weiteren meiner nicht verhandelbaren Rituale am Esstisch: Ich esse meine Cornflakes und lese die Morgenausgabe des Billings Herald-Gleaner. An der großen Schlagzeile auf der Titelseite erkenne ich, dass Barack Obama gewonnen hat. Die Schlagzeile lautet in Großbuchstaben: »ZEIT FÜR OBAMA«. Die Schlagzeile beeindruckt mich nicht, sie klingt wie eine Bierwerbung. Ich habe fast Lust, einen Beschwerdebrief an den Herausgeber zu schreiben, aber dann denke ich noch einmal darüber nach und merke, dass ein weiteres meiner Rituale möglicherweise überflüssig geworden ist. Ich denke, ich werde ausprobieren, ob ich ohne nicht abgeschickte Beschwerdebriefe zurechtkomme und stattdessen einfach versuche, mit enttäuschenden Situationen genau dann fertig zu werden, wenn sie passieren. Wenn eine Beschwerde nötig ist, werde ich mich beschweren. Aber wenn ich die Sache auf sich beruhen lassen kann, dann werde ich das versuchen, auch wenn ich weiß, dass es schwer sein wird. Eine schlechte Schlagzeile im Billings Herald-Gleaner ist zwar ärgerlich, gehört aber zu den Dingen, die ich auf sich beruhen lassen sollte.
In der Zeitung steht außerdem ein Artikel über den jetzt freien Sitz im Landrat. Mein Vater ist so kurz vor den Wahlen gestorben, dass keine Zeit war, sofort neue Kandidaten zu suchen und im Zuge der Präsidentschaftswahl mitwählen zu lassen, daher hat man in der Bezirksregierung beschlossen, den Posten mittels einer extra Wahl im Januar neu zu besetzen. Billings’ Bürgermeister Kevin Hammel kündigt an, er werde sich für das Amt bewerben. Da er seine Wahl zum Leiter der Schulaufsichtsbehörde von Montana gerade deutlich verloren hat – ein weiterer Artikel im heutigen Herald-Gleaner –, sollte er ausreichend Zeit dafür haben. Es gefällt mir nicht, dass er Chancen hat zu gewinnen, wobei das nur eine fundierte Meinung ist und keine Tatsache. Ich bevorzuge Tatsachen.
Ich lese außerdem, dass meine frühere Vorgesetzte in der Zentralregistratur ihren Posten verloren hat. Ich wette, dass Lloyd Graeve und alle anderen, die dort arbeiten, heute Morgen feiern.
Ich überfliege alle Artikel, die ich lesen möchte, und gehe auch zu den anderen Ressorts des Billings Herald-Gleaner – vor allem zur Briefkastentante, die auf den Brief eines neunundfünfzigjährigen Mannes antwortet, dessen Augen so schlecht sind, dass er seine Freundin nicht sehen kann, wenn sie intim werden. Eine gute Überschrift für diese Kolumne wäre »Liebe ist blind« gewesen, aber natürlich hat der Billings Herald-Gleaner diese Chance nicht ergriffen. Diese Zeitung hat schrecklich unfähige Schlagzeilentexter. Aber ich werde das auf sich beruhen lassen.
Als ich mit Lesen fertig bin, ist es 9:05 Uhr, und ich muss mich beeilen, sonst komme ich zu spät zum Haus meiner Eltern – meiner Mutter.
Das Wohnzimmer im Haus meiner Mutter ist heute ungewohnt unordentlich. Sie hatte mehrere Armvoll Kleidung meines Vaters heruntergebracht und sortiert sie in verschiedene Stapel.
»Was tust du, Mutter?«, frage ich, nachdem sie mich zur Tür hereingelassen hat.
»Ich gebe die Kleidung deines Vaters der Wohlfahrt. Geh sie durch und nimm alles mit, was du möchtest.«
»Ich will nichts davon.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Ich mag keine Golfshirts.«
Bei einem Blick durch den Raum sehe ich, dass er Hunderte von Golfshirts hatte … und Hosen und Golf-Pullunder und Fleece-Pullover. Diese Kleidungsstücke, die an die Heilsarmee und die Hilfsmission von Montana gehen sollen, werden für viele Leute schöne Stücke sein. Ich wäre nicht überrascht, wenn ich diesen Winter einen Obdachlosen in St. Andrews sehen würde, der Vaters Pullover trägt. Das wäre lustig.
»Warum machst du das gerade jetzt, Mutter?«
»Warum nicht? Was du heute kannst besorgen … Und ich finde, es ist zu viel Zeug. Dein Vater ist nicht mehr da, um es zu tragen, und es wäre nicht recht, wenn wir so viel haben und andere so wenig.«
Das ergibt Sinn. Und meine Mutter scheint richtig darin aufzugehen.
»Es hat auch noch auf andere Weise sein Gutes, Edward.«
»Was?«
»Komm her und riech mal dran.« Sie hält mir eines der Shirts meines Vaters entgegen, ein aquamarinblaues langärmliges Polohemd mit dem Logo des Golfclubs Augusta National auf der linken Brust.
»Ich soll an dem Golfshirt riechen?«
»Ja, das ist nichts Schlimmes. Versuch’s mal.«
Ich beuge mich vor, berühre den Stoff aber nicht mit der Nase. Trotzdem kann ich schwach den Parfümduft meines Vaters ausmachen, Canoe.
»Wenn man vierzig Jahre lang mit einem Mann zusammengelebt hat, kennt man seinen Geruch«, sagt meine Mutter. »Es ist, als wäre er hier mit mir im Zimmer. Und das tröstet mich.«
Sie lächelt mich an, und ich lächle zurück.
»Vielleicht nehme ich doch eins mit, Mutter.« Sie gibt mir das aquamarinblaue Shirt, das ich beiseitelege, und dann helfe ich ihr, die anderen Sachen zusammenzufalten und aufzustapeln.
»Ich habe einen Entschluss gefasst, Edward.«
Meine Mutter und ich sitzen in der Küche und essen Thunfisch-Sandwiches und Karottenschnitze.
»Was für einen?«
»Ich werde das Haus verkaufen.«
»Warum?«
»Es ist zu groß für mich allein. Ich hätte kein gutes Gefühl, wenn ich allein hier wohnen bliebe. Es ist zu groß und … Na ja, es ist etwas, das ich mit deinem Vater geteilt habe. Jetzt ist er nicht mehr da, und ich denke, es ist an der Zeit, dass ich eine Wohnung nur für mich suche.«
»Was für eine Wohnung?«
»Direkt in der Stadt gibt es nette Eigentumswohnungen. Sie sind überschaubar für mich allein und liegen in der Nähe zu allem, wo ich gerne hingehe. So schön die Aussicht von hier oben auch ist, fand ich es nie gut, dass wir so weit von der Stadt entfernt wohnen und auch an schlimmen Wintertagen den ganzen Berg hinunterfahren müssen. Ich denke, ich würde gern unten in der Stadt wohnen.«
»Ja.«
»Außerdem werde ich auch nicht mehr so oft hier sein.«
»Ach ja?«
»Ja«, bekräftigt sie. »Ich habe beschlossen, dass ich meine Zeit gern zwischen hier und Dallas aufteilen würde. Deine Tante Corinne lebt immer noch dort, und ich habe sie nicht so oft gesehen, wie ich es gern gewollt hätte.«
»Ist Onkel Andy nicht letztes Jahr gestorben?«
»Ja. Wir könnten dann als zwei verrückte Witwenschwestern in Texas herumlaufen.«
»Das ist witzig, Mutter.«
»Wäre das für dich in Ordnung, wenn ich von nun an mehr Zeit in Texas verbringe?«
»Ja. Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht. Du bist ein erwachsener Mann, Edward, und ich weiß, du kommst allein zurecht. Aber falls du den Eindruck hättest, ich lasse dich im Stich, würde ich nicht fahren wollen.«
»Ich weiß, dass du mich nicht im Stich lässt, Mutter.«
»Gut.«
»Ich könnte dich sogar manchmal besuchen kommen.«
»Edward, das fände ich großartig.«
Sie streckt ihre Hand aus, ergreift meine rechte und drückt sie. Ich drücke zurück.
»Bist du mir böse wegen mancher Dinge, die dein Vater getan hat?«
Meine Mutter und ich sind in seinem Arbeitszimmer und sehen die Fotoalben durch. Sie meint, ich solle welche davon mitnehmen und sie in meinem Haus an der Clark Avenue aufheben, was ich für eine gute Idee halte.
»Nein.«
»Ich fühle mich schrecklich wegen all der Dinge, die ich nicht wusste. Als ich diese Briefe in Jays Ordner gesehen habe, kam ich mir so … so hintergangen vor. Von deinem Vater und auch von Jay. Später kam ich mir dumm vor. Ich habe mich gefragt: Wie habe ich das nicht merken können? Wie habe ich mich so von dir und deinem Leben entfernen können? Wie konnte ich es zulassen, dass er mich dir so entfremdet hat?«
»Dr. Buckley sagt, ich solle versuchen, mich an das Gute in Vater zu erinnern, und im Zweifelsfall davon ausgehen, dass er das Beste gewollt hat, selbst wenn es nicht schön war.«
»Und was hältst du davon?«
»Ich denke, das ist leichter gesagt als getan. Ich denke aber auch, dass Dr. Buckley sehr weise ist und sich die Anstrengung lohnt.«
»Ich schätze, ja.«
Wir sehen weiter Fotos an.
»Edward, was war das für ein Brief, den Jay dir am Montag gegeben hat?«
»Vor ein paar Jahren hat Vater mir geschrieben, dass er stolz auf mich ist und mich liebt, und dass er hofft, er werde es mir sagen, bevor er stirbt, damit ich es nicht in dem Brief lesen müsse.«
Die Augen meiner Mutter füllen sich mit Tränen. »Ich wünschte, er hätte es dir gesagt.«
»Das wünschte ich auch, aber Dr. Buckley sagt, er habe mir damit ein großes Geschenk gemacht. Sie habe Klienten, die ihr ganzes Leben lang darauf warten, diese Worte von ihren Vätern zu hören. Ich musste nur warten, bis ich neununddreißig Jahre und zweihundertneunundneunzig Tage alt wurde.«
Meine Mutter lacht, während ihr die Tränen über die Wangen laufen. »Ich liebe dich auch, Edward.«
»Ich weiß, Mutter. Und ich liebe dich.«
Bevor ich gehe, erklärt meine Mutter, dass wir noch einen Tagesordnungspunkt zu erledigen hätten.
»Lass deinen Toyota hier und nimm den Cadillac.«
Der Cadillac DTS meines Vaters steht in der Auffahrt und glänzt im Licht der frühen Nachmittagssonne.
»Was wird mit dem Toyota passieren?«
»Ich lasse von Jay die nötigen Papiere vorbereiten, und dann geben wir ihn zusammen mit den anderen Sachen der Hilfsorganisation. Mit den Kleidungsstücken, dem Auto und dem Scheck, den wir noch ausstellen werden, werden wir ein paar Leuten, die es mit Sicherheit verdient haben, bestimmt frohe Feiertage bescheren, was meinst du?«
»Ja. Das klingt sehr gut.«
»Der Schlüssel steckt. Viel Spaß mit deinem neuen Auto! Dein Vater hatte ihn ganz bestimmt.«
Ich gebe meiner Mutter einen Kuss auf die Wange, dann gehe ich zu dem wunderschönen dunkelkirschroten Wagen. Ich öffne die Tür und steige ein.
Ich drehe den Zündschlüssel und begutachte das Instrumentenpaneel, das ganz anders aussieht als das in meinem Camry. Während ich den Sicherheitsgurt anlege, klopft meine Mutter gegen die Scheibe der Fahrertür.
Die Scheiben des DTS lassen sich nicht per Hand herunterkurbeln. Schließlich finde ich den Knopf für die Fenster-Automatik.
»Edward, es wird eine Weile dauern, bis das Haus verkauft ist, und ich werde nicht vor dem Frühjahr nach Texas reisen. Kann ich darauf zählen, dass wir uns ab und zu sehen?«
»Ja, Mutter. Natürlich.«
»Denn wir werden jetzt besser miteinander auskommen, du und ich, ja?«
»Ja.«
»Gut. Pass auf dich auf, mein Sohn. Ich werde dich in ein paar Tagen anrufen, oder du mich, okay?«
»Ja.«
Sie legt eine Hand auf meine Wange und lächelt, dann tritt sie vom Wagen zurück und winkt. Ich drücke den Knopf, um das Fenster hochfahren zu lassen, stelle die Automatikschaltung auf Fahrbetrieb und fahre die Auffahrt hinunter.
Wenige Minuten später, um 16:26 Uhr, bin ich auf dem Highway 3 Richtung Stadt.
Der Cadilla DTS ist ein in jeder Hinsicht besseres Auto, bis auf eines: Ich fand es schön, dass mein alter Camry Becherhalterungen hatte. Das ist nun noch etwas, von dem ich mich verabschieden muss.
Zu Hause parke ich den Cadillac DTS in der Auffahrt, dann steige ich aus und bewundere ihn.
Es ist ein schöner Wagen.
Das personifizierte Nummernschild mit »Stanton« muss natürlich verschwinden. Mein Vater hatte einen Hang zur Extravaganz. (Ich liebe das Wort »Extravaganz«.)
Die extra Halterungen für das Nummernschild mit dem Logo der Dallas Cowboys dagegen können bleiben.
Die nächsten Stunden verbringe ich vordergründig damit, die Fotos durchzugehen, die meine Mutter mir mitgegeben hat. Ich sage »vordergründig« – und ich liebe dieses Wort –, weil ich genau alle zehn Minuten aufstehe und durch die Gardinen am Wohnzimmerfenster hinaussehe, ob ich Donna Middleton und/oder Kyle irgendwo entdecke. Doch ich sehe niemanden, obwohl ich an ihrem Auto erkennen kann, dass sie zu Hause sind.
Die Fotoalben, die ich ausgesucht habe, sind aus fast allen Phasen meines Lebens, aber die meisten stammen aus der Zeit, als ich klein war und mein Vater und ich uns noch toll verstanden. Während ich durch die Alben blättere, nehme ich ein paar der Fotos heraus, die mir am besten gefallen: mein Vater und ich auf dem Riesenrad bei der Montana-Landwirtschaftsmesse, meine Mutter und ich vor einer Höhle der Carlsbad Caverns in New Mexico, meine Mutter und mein Vater planschend in einem See in Minnesota. Ich beschließe, dass diese Fotos und noch ein paar andere nicht in einem verschlossenen Album lagern, sondern lieber in einem Rahmen an der Wand hängen sollten. Da meine Wände leer sind, habe ich dafür viel Platz.
Während ich überlege, wo die ausgesuchten Fotos am besten aussehen würden, wünsche ich mir, ich hätte an jenem Schneetag Fotos gemacht, als Kyle mit dem Blauen Blitz herumdüste und Donna und ich Schneebälle warfen. Fotografien, so scheint es mir, halten sowohl bestimmte Momente fest als auch Erinnerungen. Ich habe die Erinnerung an den Tag mit Donna und Kyle, aber ich weiß auch, dass Erinnerungen ungenau sind. Wenn ich eine Kamera gehabt hätte, statt nur meines Gedächtnisses, hätte ich den Augenblick einfangen können, sodass er mir nie wieder verloren geht. Falls Donna beschlossen hat, nicht länger meine Freundin zu sein, werde ich verzweifelt an diesen Erinnerungen festhalten müssen, damit sie nicht verschwinden, weil ich keine Gelegenheit mehr haben werde, sie zu ersetzen.
Als der große Zeiger auf die Zwölf wandert und weitere zehn Minuten verstrichen sind, gehe ich wieder zum Fenster und sehe hinaus. Die beiden sind immer noch nirgends zu entdecken.
Obwohl ich nichts lieber tun würde, als dieses Haus zu verlassen und zu meinen Freunden zu gehen, entscheide ich stattdessen, nicht weiter nach ihnen Ausschau zu halten. Aus dem Fenster zu starren, verstößt nicht unbedingt gegen das, was Dr. Buckley mir geraten hat – Donna Zeit zu geben –, aber es verstößt gegen das Prinzip, das dahintersteckt.
Um 22:00 Uhr beginne ich mit der heutigen Folge von Polizeibericht. Obwohl ich gestern gegen meinen Zeitplan verstoßen und die Serie früher gesehen habe, nämlich um 19:04 Uhr, tat ich das nur, um zu verdeutlichen, dass ich meinem Rhythmus nicht sklavisch (ich liebe das Wort »sklavisch«) folgen muss. Ich habe auch eine zweite Folge gesehen, die sechzehnte der ersten Staffel in Farbe mit dem Titel »Warenhausdiebstahl«, und das ebenfalls, um etwas zu beweisen. Ich wollte zeigen, dass ich meine Lieblingsserie ansehen kann, wann immer und wie lange ich will.
Die Wahrheit ist jedoch, dass ich Polizeibericht gern um 22:00 Uhr sehe und dann auch nur eine Folge. Das passt für mich. Zu tun, was man will und wobei man ein gutes Gefühl hat, erscheint mir richtiger, als Sachen zu tun, nur um etwas zu beweisen. Ich denke, Dr. Buckley würde dem zustimmen.
Die heutige Folge, die siebzehnte und letzte der ersten Staffel der Folgen in Farbe, heißt »Der Selbstmord-Mord« und ist eine meiner Lieblingsfolgen.
Das erste Mal ausgestrahlt wurde sie am 11. Mai 1967, und Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon untersuchen darin einen Selbstmord. Eine Frau erzählt den Polizisten, ihr Mann, der von ihr getrennt lebt, sei zu Besuch gekommen, habe sich in ein Zimmer eingeschlossen und dann erschossen.
Doch die Indizien passen nicht zusammen. Wie sich herausstellt, stammt die Kugel, die man im Körper des Toten findet, nicht aus der Waffe, die er in der Hand hält. Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon kehren in das Haus der Frau zurück und untersuchen ihren Staubsaugerbeutel, weil sie das Zimmer, in dem ihr getrennter Ehemann starb, bereits gestaubsaugt hat. Da finden sie die Patronenhülse für die Kugel, die ihn getötet hat. Sie sprechen mit der Mutter der Frau, die die Tür öffnete, als der Mann vorbeikam, und finden heraus, dass sie ihn erschossen hat – weil er in ihre Bibel geschossen hatte.
Die Lehre daraus ist, denke ich, dass wir dazu neigen, die Menschen und Dinge beschützen zu wollen, die uns am Herzen liegen. Und das ist sehr leicht nachzuvollziehen.
Anstatt einen Beschwerdebrief zu schreiben, was ich ja beschlossen habe aufzugeben, leere ich meinen Aktenschrank aus und verstaue alle grünen Aktenordner mit den Briefen in einer Kiste. Ich bin versucht, alle geschriebenen Briefe zu zählen, aber ich widerstehe dem Drang. Wenn ich keine Briefe mehr schreiben werde, spielt die Anzahl keine Rolle. Ich werde die Briefe in eine Kiste packen und morgen in die Garage bringen. Dort können sie eine Weile lagern, bis ich weiß, was ich mit ihnen tue. Vielleicht werde ich sie irgendwann wieder ins Haus bringen, weil ich das Schreiben doch nicht aufgeben kann. Ich hoffe nicht, dass das passiert, aber ich weiß es einfach nicht. In dieser Hinsicht kann alles nur Vermutung sein, und ich bevorzuge Tatsachen. Tatsachen sind das Verlässlichste auf der Welt. Darin sind Sergeant Joe Friday und ich uns einig.