SAMSTAG, 25. OKTOBER

Dies sind die heutigen Daten:

Aufwachzeit: 7:37 Uhr (das siebzehnte Mal in diesem Jahr, das bisher 299 Tage hatte, weil es ein Schaltjahr ist).

Gestrige Höchsttemperatur: sechs Komma fünf Grad.

Gestrige Tiefsttemperatur: minus vier Komma fünf Grad.

Heutige Vorhersage der Höchsttemperatur: neun Grad.

Aber wie Sie inzwischen wissen, sind Vorhersagen bekanntermaßen unzuverlässig. Ich werde vorzugsweise wieder auf die Tatsachen warten.

Eine Tatsache steht fest: Ich hasse Onlinedating.

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Nach dem Frühstück logge ich mich ein letztes Mal bei Montana Personal Connect ein, um mein Konto zu löschen, und sehe Folgendes:

Posteingang (1).

Ich klicke auf den Link.

Edward,

ich will das du weißt, dass es für mich bei dir nicht »gefunkt« hat. Ich kann es nicht wirklich erklären aber ich hatte das Gefühl, dass wir nicht kompatabel sind weil ich im Bin 119 fand das du dich nicht wirklich für mich interessiert hast. Als ich erzählte wie mein Onkel mich adoptiert hat, hast du gesagt »Ich hab gerülpst« und dann überhaupt nichts zu den was ich erzählt hab, damit du mich kennenlernen kannst. Ich hab mich isoliert gefühlt und das gefällt mir nicht. Ich will damit nicht sagen das wir keine Freunde sein können aber wir können nicht zusammensein. Das ist eine andere Ebene und die fühl ich nicht mit dir.

Ich kann nicht wirklich den Finger drauf legen und dies ist nur ein schlechtes Beispiel für dass was ich eigentlich sagen will, aber ich bin ein sehr intuitiver, empfindsamer (offensichtlich), sinnlicher und »musischer« Mensch, und du bist mehr der »Fernsehtyp« und nicht so sehr was davon … und ich hab schon Männer kennengelernt die das sind, und ich such mehr nach solchen weil ich mich bei Gärtnern öffne und aufblühe und auf diese Weise will ich leben.

Als du von Sex geredet hast, hat mich das auch furchtbar gestört aber das kann ich dir vielleicht verzeihn, weil du sicher auch nervös warst wegen den Treffen. Ich wars auf jeden Fall.

Jedenfalls sind das meine Gedanken die ich dir voller Respekt mitteile und hoffe dass du es als Geschenk ansiehst – überhaupt was zu teilen ist ein Geschenk – und ich hoffe das du auch so damit umgehst. Aber das liegt allein an dir.

Ich seh einfach nicht, dass wir mehr sind als Freunde aber weil wir so weit auseinander wohnen kann ich mir das eigentlich auch nicht vorstellen.

Tut mir leid.

Joy

Ich notiere solche Daten nicht, aber sicher ist 9:12 Uhr die früheste Zeit, zu der ich je einen Beschwerdebrief geschrieben habe. Ich bereite einen neuen grünen Aktenordner vor, klemme einen Karteireiter mit »Joy« daran fest und setze mich zum Schreiben an den Computer.

Joy,

vielen Dank für Deine E-Mail vom fünfundzwanzigsten. Bitte gestatte mir eine Antwort.

Erstens weiß ich nicht, was das mit dem »gefunkt« heißt. Zweitens habe ich von dem Wein gerülpst, den ich noch nie getrunken habe und, wie Du sagtest, unbedingt probieren müsse.

Drittens hast Du »kompatibel« falsch geschrieben.

Viertens musst Du lernen, wie man Kommata setzt.

Fünftens habe ich Dir zugehört.

Sechstens weiß ich nicht, was ein »Fernsehtyp« ist.

Siebtens fühlt sich Deine Mail nicht gerade wie ein Geschenk an.

Achtens: Warum schreibst Du, wir könnten nicht mehr als Freunde sein, aber das dann eben auch nicht? Das ergibt keinen Sinn.

Mit freundlichen Grüßen,

Edward

Ich drucke den Brief aus, ordne ihn ein, setze mich wieder an den Computer, gehe erneut auf Montana Personal Connect und sehe Folgendes:

Posteingang (1).

Edward,

ich habe große Erwartungen für uns gehabt. Wirklich. Männer in Broadview zu finden ist so schwer weil es nur eine begrenzte Anzahl netter Lokahle gibt und ich immer jemand bekanntes treffe. Ich lebe sehr zurückgezogen und deshalb will ich nicht das man mich überall in der Stadt sieht und Gerüchte aufkommen. Außerdem wollte ich dir gestern Abend was sagen aber ich habs nicht gemacht und finde das sollte ich jetzt: Mein Vorname ist eigentlich Annette. Ich wollte nur nicht meinen richtigen Namen für die E-Mail-Adresse angeben, deswegen hab ich dieses Konto mit mein zweiten Namen eingerichtet. Ich denke dass jeder vernünftige Mensch mich versteht und mir glaubt das es so für mich sicherer ist.

Annette

Ich gehe zu meinen Akten zurück, ziehe Joys Ordner hervor, nehme den Pappeinschub aus dem Karteireiter und schreibe neben das »Joy«, das schon dasteht: »alias Annette«.

Annette,

über Deine letzte Enthüllung bin ich absolut schockiert. Ich war mit meinem Namen ganz ehrlich. Warum konntest Du das nicht auch sein? Offen gesagt finde ich, dass unsere Korrespondenz eine hässliche Wendung genommen hat. Ich bitte Dich, von einer weiteren Kontaktaufnahme abzusehen.

Mit freundlichen Grüßen,

Edward

Ich ordne den zweiten Brief ein, hänge den Ordner in den Aktenschrank und kehre an den Rechner zurück.

Posteingang (1).

Heilige Scheiße!

Edward,

der Mann mit den ich mich geschrieben hab, hat sich gestern Abend nicht gezeigt. Insgesamt scheinst du ein netter Kerl zu sein aber es ist nicht leicht von Angesicht zu Angesicht mit dir zu reden … warum auch immer. Ich mag mich für so was nicht gern so sehr anstrengen. Es tut mir leid wenn meine Wahrnehmung wehtut und sie kann auch ganz falsch sein, das muss ich zugeben.

Ich habe nicht die Geduld darauf zu warten das du dich zeigst … und das du nicht auf mich eingegangen bist und zu gar nichts was gesagt hast was ich erzählt hab, verrät sehr deutlich das du dachtest du wärst der Einzige der nervös ist oder den es leicht gemacht werden muss. Dass habe ich getan, du aber nicht. Dass hat mich traurig und auch ein bisschen böse gemacht weil ich mehr von dir erwartet hätte.

Annette

Erneut hole ich den grünen Aktenordner.

Annette,

ich weiß nicht, warum Du mir unbedingt noch weiter schreiben willst. Deine Beschwerden werden allmählich sehr bizarr. Dr. Buckley sagt, wenn ich anfange, mich überfordert zu fühlen oder außer Kontrolle zu geraten, soll ich tief durchatmen und mich auf einen Weg konzentrieren, der aus dem Chaos hinausführt. Ich denke, diesen Rat solltest jetzt eher Du befolgen.

Mit freundlichen Grüßen,

Edward Stanton

Annette oder Joy oder wie auch immer sie heißt, schreibt mir noch drei weitere Male, und mein grüner Aktenordner wird immer voller.

Edward,

ich wollte dir schreiben und sehn ob wir uns auf irgendwas einigen können aber ich glaube es ist besser wenn wir es sein lassen. Ich finde das zu diesen Zeitpunkt jeder Versuch einer Erklärung zu noch mehr Misverständnissen und »Drama« führen wird. Ich denke du bist bodenständig, freundlich, nett und auf ganz eigene Weise ein lieber Mensch. Aber ich kann mich jetzt emotional nicht binden. Mein letzter Freund, den ich sehr geliebt und bei Viel sehr unterstützt habe, hat mich nur ausgenutzt und dann vor nur wenigen Monaten einfach ein anderes Mädchen aufgerissen. Deshalb suche ich jetzt grade was weniger dramatisches.

Annette

Annette,

Mir schwirrt der Kopf. Du suchst etwas weniger Dramatisches?

Irgendwie kann ich das nur schwer glauben.

Mit freundlichen Grüßen,

Edward Stanton

Edward,

ich wünschte du würdest zurückschreiben. Ich muss wissen was du über all dass hier denkst. Vielleicht gibt es ein Weg wie wir nochmal von vorn anfangen können. Ich weiß nicht.

Schreib zurück und lass uns drüber reden.

Annette

Annette,

ich finde es komisch – nicht »ha-ha«-komisch, sondern einfach nur so komisch –, dass offiziell ich derjenige bin, der im Kopf krank ist.

Mit freundlichen Grüßen,

Edward Stanton

Edward,

du bist ein Arschloch. Ich hab dir mein Herz geöffnet und du sagst gar nichts. Lebwohl, du Looser.

Annette

Annette,

leben Sie wohl. Und es heißt »Loser«.

Mit freundlichen Grüßen,

Edward Stanton

Ich stecke den grünen Ordner mit dem Titel »Joy alias Annette« zum letzten Mal weg. Es ist fast Mittag, und ich lege mich wieder ins Bett.

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Um 18:03 Uhr wache ich auf und gehe in die Küche, um mir Abendessen zu kochen. Zusätzlich zu allem, was bei dieser Joy-Annette-Sache schiefgelaufen ist, ist auch der Zeitplan für meine Mahlzeiten völlig durcheinandergeraten. Ich habe kein Mittag gegessen, und jetzt ist es Zeit fürs Abendessen. Als Folge davon werde ich ein Essen zu viel im Haus haben, wenn ich nächste Woche im Supermarkt einkaufen gehe. Solche Komplikationen kann ich nicht gebrauchen.

Ich mache mir das Tiefkühlgericht mit dem gebratenen Hühnchen in der Mikrowelle warm und versuche, einen Weg zurück in die Normalität zu finden, wie Dr. Buckley immer rät.

Ich kann keinen Weg erkennen.

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Um 22:00 Uhr sehe ich die heutige Folge von Polizeibericht.

Ich bin irritiert, weil ich die vierte Folge der ersten Staffel – »Das interne Verhör« – verpasst habe, die von allen achtundneunzig Farbfolgen der Serie meine liebste ist. Aber ich beschließe, dass es wichtiger ist, mich an meinen Zeitplan zu halten, als verlorenen Boden wettzumachen. Außerdem kann ich »Das interne Verhör« am 4. Januar 2009 sehen, da ich am ersten Tag eines jeden Jahres wieder mit der ersten Folge der ersten Staffel beginne. Und bis dahin dauert es nicht mehr allzu lange.

Die fünfte Folge der ersten Staffel heißt »Die roten Masken« und ist eine meiner Lieblingsfolgen. Das erste Mal wurde sie am 16. Februar 1967 ausgestrahlt, und sie handelt von einer Bande junger Punker, die rote Masken tragen und Cocktailbars überfallen.

Einer der Punker ist ein siebzehnjähriger Junge namens Larry Hubbert (gespielt von Ron Russell in seinem einzigen Auftritt in Polizeibericht). Larry ist mit einer älteren Frau namens Edna verheiratet (gespielt von Virginia Vincent, die insgesamt sechs Mal in der Serie auftrat). Edna nahm Larry auf, als seine Eltern die Stadt verließen, und sie will das Beste für ihn, selbst wenn er Cocktailbars ausrauben möchte.

An einem Punkt in der Folge sagt Edna zu Sergeant Joe Friday, sie habe genauso ein Recht auf Liebe wie jeder andere auch. Sergeant Joe Friday widerspricht ihr nicht.

Das tue ich ebenfalls nicht, aber ich habe eine Nachricht für Edna Hubbert: Liebe ist nicht leicht zu finden.