MONTAG, 20. OKTOBER

Ich erwache um 7:38 Uhr, das 223. Mal in den 294 Tagen dieses Jahres (weil es ein Schaltjahr ist). Obwohl ich in den Normalbereich zurückzugleiten scheine, falls »normal« überhaupt definiert werden kann, fühle ich mich überhaupt nicht normal. Ich mag nicht aufstehen. Michael Stipes Kopfschmerzgrau hüllt mich ein, eine Spätfolge meiner gestrigen Spät-ins-Bett-früh-aufsteh-Aktion.

Ich drifte weg.

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Ich beobachte eine Szene, an der ich nicht beteiligt bin. Joy, meine Onlinebuhle (ich liebe das Wort »Buhle«) aus Broadview steht auf einem Parkplatz, auf dem keine Autos und Pick-ups und SUVs zu sehen sind, sondern ein Haufen Leute, alle um sie herum.

Joy hält eine riesige Fernbedienung in den Händen, die wie die Fernbedienung eines Fernsehers aussieht, nur viel größer. Sie hat Knöpfe und einen Joystick. Joy hält das Ding über ihren Kopf, und die Menge hinter ihr jubelt auf. Dann fangen die Leute an zu skandieren: »Zeig es! Zeig es! Zeig es!«

Joy dreht der Menge den Rücken zu, senkt die riesige Fernbedienung und fängt an, auf Knöpfe zu drücken. An einer Hauswand über ihr und der Menge flackert ein riesiger Plasmabildschirm auf. Und da bin ich, in zehnfacher Vergrößerung, wie ich an meinem Computer-tisch sitze. Ich bin nackt. Schlimmer ist – falls irgendetwas überhaupt noch schlimmer sein kann –, dass ich beim Tippen laut gurre: »Oh, Joy. Du bist meine kleine Zwitschermeise. Du bist mein süßes Spätzchen.«

Die Menge grölt vor Lachen, und Joy dreht sich um. Sie lächelt breit, ihre Grübchen bilden kleine Löcher auf den Wangen, und ihre Augen leuchten.

Die Leute drehen sich ebenfalls alle um, zeigen mit dem Finger auf mich und lachen.

Ich sehe nach unten und bin nicht mehr auf dem Bildschirm, sondern auf dem Parkplatz, nackt.

Entsetzt blicke ich wieder nach oben. Donna Middleton steht in vorderster Reihe der grölenden Meute und lacht mich aus.

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Um 10:26 Uhr erwache ich erneut. Natürlich sind meine Daten jetzt völlig vermurkst. Ich betrete vollkommen neues Terrain, also muss ich improvisieren. Ich strecke die Hand aus, greife nach meinem Notizbuch und dem Stift und notiere zwei Zeiten:

Erste Aufwachzeit: 7:38 Uhr.

Zweite Aufwachzeit: 10:26 Uhr.

Ich fühle mich weder erholt noch munter.

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Nachdem ich die Wetterdaten notiert – gestrige Höchsttemperatur: dreizehn, Tiefsttemperatur: ein Grad Celsius, Vorhersage für heute: bis zu vierzehn Grad (was ich erst morgen sicher wissen werde) –, eine Schüssel Cornflakes gegessen und meine achtzig Milligramm Flouxetin eingenommen habe, bin ich für den Tag bereit.

Eines muss man der Zehn-Tages-Wettervorhersage lassen: Sie war bisher goldrichtig und erlaubt es mir nun, ein weiteres Mal die Garage zu streichen, was längst überfällig ist. Das grässliche Mokkabraun ist schon drei Tage dran, und ich werde es keinen weiteren Tag tolerieren (ich liebe das Wort »tolerieren«), dass meine Garage ein Schandfleck für die ganze Nachbarschaft ist. Wenn ich mich beeile, kann ich die Zeit, die ich durch den extra Schlaf und die schlechten Träume verloren habe, wieder einholen.

Daher beschließe ich, mich heute erst abends in Montana Personal Connect einzuloggen, wenn ich fertig bin. Ich bin gespannt auf Joys Antwort – und um ehrlich zu sein, bin ich fast ausgeflippt (ich liebe das Wort »ausgeflippt«), dass sie in meine Träume eingedrungen ist, obwohl ich natürlich weiß, dass es keine riesigen Fernbedienungen und keine Plasmabildschirme an den Hauswänden von Billings gibt und dass ich niemals, unter gar keinen Umständen, nackt am Computer sitzen würde. Für diese Träume gibt es irgendeine Erklärung, und ich werde Dr. Buckley bitten, sie mir zu geben.

Ich habe gelesen, dass jeder träumt, sogar Tiere. Es gibt einen eigenen Wissenschaftsbereich, Oneirologie genannt, der sich mit Traumdeutung beschäftigt. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ich vor den letzten paar Tagen nicht geträumt habe, ist äußerst gering, aber die Träume der letzten Tage kann ich einfach nicht vergessen.

Eines meiner Lieblingslieder von R.E.M. heißt »I Don’t Sleep, I Dream« – Ich schlafe nicht, ich träume. In dem Song kommen Wörter über Träume vor, die ein Oneirologe bestimmt faszinierend fände. Ich weiß aber nicht genau, worum es dabei geht. Michael Stipe kombiniert Wörter auf eine faszinierende und seltsame Weise. Ich weiß zum Beispiel nicht, warum er in diesem Lied »hip hip hooray« singt oder was eine Tasse Kaffee mit alledem zu tun hat. Ich denke jedoch, etwas nicht zu wissen, gehört für jemanden wie Michael Stipe vielleicht dazu. Ich weiß allerdings, dass Michael Stipe auf diesem Album Monster mehr über Sex gesungen hat als jemals davor oder danach. Erst heute, am 294. Tag des Jahres 2008 (weil es ein Schaltjahr ist) und vierzehn Jahre nach Erscheinen des Albums, wird mir klar, dass der Titel dieses Liedes möglicherweise mich meint.

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Bis 14:00 Uhr habe ich mit der Garage schon große Fortschritte gemacht. Das Perlgold überdeckt das Mokkabraun, und diese Farbe gefällt mir sehr viel besser. Es ist die beste der drei Farben. Ich denke, ich kann dabei bleiben, zumindest bis zum übernächsten Jahr, wenn es Zeit ist, die Garage erneut zu streichen.

Bevor ich mich dem Garagentor widme, mache ich eine Pause. Ich öffne die Garage und betrachte das Große Projekt, das in frisch lackierter Pracht erstrahlt. Ich stupse mit dem linken Zeigefinger an den Rahmen, um Farbe und Lackierung zu testen. Ich denke, alles ist bereit.

Ich rolle es in den Vorgarten.

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Kyle ist ein vorhersehbarer Junge, zumindest was sein Kommen und Gehen betrifft. Ich arbeite zur selben Zeit und an derselben Ecke der Garage unter dem Traufblech wie die letzten Male, als ich seine Stimme höre. Diese Verlässlichkeit beruhigt mich.

»Wow! Was ist das?«

Ich klettere von der Leiter und grinse. »Das weißt du nicht?«

»Nein. Das sieht Hammer aus! Was ist das?«

»Das ist für dich.«

»Echt? Aber was ist das?«

Ich erzähle Kyle eine Geschichte. Als ich etwas jünger war als er, schenkten meine Eltern mir 1977 zu Weihnachten etwas, das »Grüner Flitzer« hieß. Sie versuchten, mir weiszumachen, er käme vom Weihnachtsmann, aber die Existenz eines Weihnachtsmanns war mir nie logisch erschienen, und mittlerweile kannte ich die Wahrheit. Bis dahin hatte ich ihre Geschichte vom dicken Mann im roten Anzug, der an einem so unwirtlichen Ort wie dem Nordpol wohnt und in einer einzigen Nacht allen Kindern auf der Welt Geschenke bringt, einfach nur ertragen. Das Ganze ist grotesk.

Als ich Kyle jetzt davon erzähle, lasse ich den Betrug mit dem Weihnachtsmann aber weg. Es ist nicht meine Aufgabe, ihn darüber aufzuklären. Er ist ein kluger Junge. Vermutlich weiß er schon, dass es ihn nicht gibt.

Ich erzähle ihm vom Grünen Flitzer. Ich sage, er sei das schönste Weihnachtsgeschenk gewesen, das ich je bekommen hätte.

Er sah aus wie so ein Dreirad von Big Wheel, weil er vorne ein großes Rad hatte und hinten zwei kleine, aber sonst war er ganz anders. Das große Vorderrad hatte keinen Lenker. Man steuerte die Hinterachse über zwei Hebel, wodurch die Hinterräder nach rechts oder links geschwenkt wurden. Man fuhr halb im Liegen, trat die Pedale am Vorderrad und konnte über die Lenkbewegung der Hebel durch die Gegend kurven.

»Das hier«, sage ich zu Kyle, »ist dein Grüner Flitzer. Nur dass er nicht grün ist, sondern blau. Und er ist aus viel besseren Teilen zusammengebaut. Die traurige Wahrheit ist, dass das Plastik an meinem Grünen Flitzer irgendwann kaputtging und die Räder Löcher bekamen.

Dieser hier hat außerdem einen verstellbaren Sitz, sodass du auch noch damit fahren kannst, wenn du größer wirst. Und er ist gefedert, damit dir die Löcher in der Straße nicht wehtun.«

»Er hat sogar einen Becherhalter!«, rief Kyle.

»Der ist für deine Dr. Pepper Light. Willst du das Dreirad ausprobieren?«

»Ja, na klar!« Er hüpft auf und ab.

Ich zeige ihm, wie die Hebel funktionieren – dass, wenn er den linken Hebel hochzieht und den rechten runterdrückt, sich die Achse so dreht, dass das Fahrzeug nach links fährt. Und andersherum fährt es nach rechts.

»Wenn du dich ein bisschen in die Kurve legst, geht es noch besser, und du wirst trotzdem nicht umkippen. Das Dreirad ist gut ausbalanciert. Fahr aber vorsichtig, und achte auf Autos, okay?«

»Okay.«

Dann zögert er. »Soll ich dir erst noch helfen, die Garage zu streichen?«

»Nein, das mach ich schon. Sag nur immer kurz Bescheid, wenn du vorbeifährst, ja?«

»Mach ich.«

»Hey, Kyle?«

»Ja?«

»Wie soll es denn heißen?«

Kyle zieht die Nase kraus und überlegt eine Sekunde, dann hellt sich sein Gesicht auf. »Blauer Blitz!«

Und dann ist er weg.

In den nächsten eineinhalb Stunden, in denen ich die Garage fertig streiche, dreht Kyle auf dem Bürgersteig seine Runden um den Block. Alle paar Minuten höre ich »Hallo, Edward!«, wenn er vorbeisaust – ein glücklicher Junge auf seinem Blauen Blitz.

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Um 16:36 Uhr kommt Donna über die Straße und stellt sich Kyle in den Weg, der seine siebenunddreißigste Runde um den Block dreht. (Ich habe mitgezählt.)

»Holla, Meister. Was hast du denn da für ein Ding?«

»Das ist der Blaue Blitz, Mom.«

Donna sieht von dem Dreirad zu mir. »Ist das Ihres, Edward? Das ist wirklich toll.«

»Nein, es gehört mir«, sagte Kyle. »Edward hat es für mich gebaut.«

»Tatsächlich?« Donna sieht nicht so glücklich aus wie Kyle.

»Guck mal«, sagt Kyle und erklärt ihr, wie die Hebel funktionieren und dass der Sitz verstellbar ist und es einen Getränkehalter gibt und alles. Während er aufgeregt plappert, sieht Donna immer wieder zu mir auf meiner Leiter hoch.

»Okay, Kyle, das ist wirklich toll. Fahr es jetzt bitte nach Hause.«

Kyle will sich beschweren, aber Donna bringt ihn mit einem bösen Blick zum Schweigen.

»Bis bald, Edward. Und nochmals riesigen Dank«, sagt er, lässt sich wieder in den Sitz fallen und steuert den Blauen Blitz zu seinem Haus.

»Ich muss mit Ihnen reden, Edward«, sagt Donna.

»Okay.« Ich fürchte mich vor dem, was kommen wird.

»Was Sie für Kyle gebastelt haben, ist eine tolle Sache.«

Ich nicke.

»Aber es ist ein viel zu großes Geschenk. Was haben Sie dafür ausgegeben?«

»Ach, nicht so viel.« Das ist gelogen, und ich denke, sie weiß es.

»Ich würde Sie gern dafür bezahlen.«

»Das will ich aber nicht.«

»Ich würde mich dann aber besser fühlen.«

»Aber ich würde mich schlechter fühlen. Ich habe es gebaut, weil ich es wollte.«

»Kyle soll Sie nicht als den Typen von gegenüber ansehen, der ihm Sachen schenkt.«

»Ich schenke ihm keine Sachen. Ich habe ihm diese eine Sache geschenkt.«

»Ich würde mich besser fühlen, wenn ich Ihnen Geld dafür gebe.«

»Vielleicht können Sie mir einfach irgendwann einen Gefallen tun.«

Sie zuckt zusammen und macht ein empörtes Gesicht. »Was meinen Sie damit?«

»Ich meine gar nichts.«

»Sie werden Kyle nicht benutzen, um an mich ranzukommen.« Sie scheint jetzt richtig böse zu sein.

»An Sie rankommen?«

»Sie haben mich schon verstanden.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Sie irritieren mich.«

»Ich sage es ja nur.«

»Es ist noch nicht einmal ein Geschenk. Ihr Sohn hat mir zweimal geholfen, die Garage zu streichen. Er hat mir erzählt, dass er sich ein Fahrrad wünscht. Ich habe ihm etwas Besseres gebaut als ein Fahrrad. Das ist alles. Ich will nicht an Sie rankommen, was immer das bedeutet.« Ich zittere.

Jetzt wird Donnas Gesicht wieder weicher, und ich stelle fest, dass das Auge, das am Sonntagmorgen so geschwollen und lila war, heute etwas besser aussieht. Zumindest nicht mehr so geschwollen.

»Es tut mir leid. Ich bin gereizt. Ich versuche nur, das alles zu begreifen.«

Jetzt bin ich derjenige, der empört ist. »Sie haben mich gefragt, ob ich Ihr Freund sei.«

»Ja.«

»Und ich habe gesagt, das bin ich.«

»Ja.«

»Also gut. Ich muss jetzt gehen.«

Während ich mich von Donna Middleton entferne, höre ich, wie sie noch etwas sagen will, aber dann bricht sie ab und entscheidet sich offenbar dagegen. Ich drehe mich nicht um. Ich öffne die Tür, gehe ins Haus und schlage die Tür hinter mir zu.

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Das Abendessen – Spaghetti – schmeckt künstlich. Jetzt bin ich mir sicher: Ich stecke in öder Routine fest.

Ich schleudere meinen halb leeren Teller in die Spüle, wo er zerspringt.

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Bei Montana Personal Connect werde ich folgendermaßen begrüßt:

Postfach (0).

Das Leben ist blöd.

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Die heutige Folge von Polizeibericht ist die letzte der Folgen in Farbe, die zunächst von 1967 bis 1970 ausgestrahlt wurden. Das erste Mal wurde sie am 16. April 1970 gesendet, und sie heißt »Der 90-Dollar-Mord«. Es ist eine meiner Lieblingsfolgen.

Ich fand es immer passend, dass die Serie mit dieser Folge endet, denn in »Der 90-Dollar-Mord« müssen Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon das ganze Spektrum ihres Könnens unter Beweis stellen. Sie untersuchen alle Arten von Verbrechen, einschließlich zweier Tötungsdelikte, eines bewaffneten Raubüberfalls und eines Handtaschendiebstahls. Solche Tage müssen für Polizeibeamte sehr schwierig sein, nicht nur, weil Menschen tot oder verletzt sind, sondern auch, weil sie jede Menge Papierkram erledigen müssen. Sergeant Joe Friday scheint zwar jeden Verbrecher zu fangen, aber manchmal muss er sich vorkommen, als würden die Verbrecher die Oberhand haben.

Jetzt habe ich in diesem Jahr alle neunundneunzig Farbfolgen jeweils dreimal gesehen. Morgen werde ich wieder von vorn anfangen.

Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon und allen anderen des Polizeibericht-Ensembles werde ich niemals überdrüssig. Auf sie kann ich mich auf eine Art und Weise verlassen, wie ich mich sonst auf nichts oder niemanden verlassen kann.

Donna,

ich habe gerade gezögert, Sie auf vertraute Weise mit dem Vornamen anzusprechen, da ich nach dem Vorfall heute Nachmittag nicht weiß, wie gut wir einander kennen. Schließlich habe ich es doch getan in der Hoffnung, dass wir einander irgendwann auf vertraute Weise und als die Freunde betrachten, als die Sie uns offenbar sehen wollen.

Vorher muss ich jedoch die unglücklichen Ereignisse ansprechen, die sich vor nur wenigen Stunden zugetragen haben.

Ich verstehe Sie nicht. Ich verstehe nicht, warum Sie böse auf mich sind, wenn ich für Ihren Sohn etwas Nettes mache. Ich habe Sie in seiner Gegenwart nicht geschlagen, so wie Mike es getan hat. Ich habe Sie nicht angebrüllt. Ich habe ihn nicht angebrüllt.

Ich habe ihm ein wahnsinnstolles Tretfahrzeug gebaut. Mehr habe ich nicht gemacht. Ich weiß nicht, warum ich mich deswegen schlecht fühlen soll.

Ich hoffe, Sie werden Ihre Einstellung mir gegenüber ändern. Ich hoffe, Sie tun das bald.

Mit besten Grüßen verleibe ich – hoffentlich – Ihr Freund

Edward