SONNTAG, 19. OKTOBER
Ich bin nicht überrascht, den Mann vor mir zu sehen. Es ist Mike. Obwohl er fast zwanzig Zentimeter kleiner ist, nicht größer als eins fünfundsiebzig, wiegt er mindestens genauso viel wie ich, und im Gegensatz zu mir hat Mike Muskeln. Sein kantiges Gesicht ist gerötet. Er hält einen Baseballschläger und schwenkt ihn drohend hin und her. Dieser Schläger, da bin ich sicher, ist für mich gedacht.
Ich bin überrascht, dass Mike nicht im Gefängnis ist. Die Polizisten in dieser Stadt sind fürchterlich.
Ich bin nicht überrascht, dass er auf mich zukommt.
Ich bin überrascht, dass ich nicht weglaufe – tatsächlich stehe ich ganz still.
Ich bin nicht überrascht, dass Mike zum Schlag ausholt und direkt auf meinen Kopf zielt …
Ich bin überrascht, dass ich wach bin. Noch mehr überrascht bin ich, dass es 4:12 Uhr ist.
Wie es scheint, gibt es nicht mehr viel, auf das ich mich verlassen kann.
Nun, da ich weiß, dass ich in Sicherheit bin, versuche ich, die Augen wieder zu schließen.
Aber es nützt nichts. Ich nehme meinen Stift und das Notizbuch, kritzele die Zeit hinein, und meine Daten sind vollständig.
Auf dem Weg durchs Wohnzimmer, der frühesten Schüssel Cornflakes meines Lebens entgegen, bleibe ich am Fenster stehen und ziehe den Vorhang zurück. Draußen auf der Clark Avenue sieht alles noch fast genauso aus wie vor ein paar Stunden. Nur die Straßenlaternen zerschneiden die Dunkelheit. Niemand scheint unterwegs zu sein, nicht um diese Uhrzeit. Ich drehe den Kopf nach rechts und sehe Donna Middletons Haus. Ich frage mich, ob sie schlafen kann. Ich frage mich, ob sie Angst hat. Ich würde nicht sagen, dass sie vorhin Angst hatte, als ich mit ihr sprach – sie war aufgewühlt, ja, aber ihre Stimme klang fest, und in ihrem Blick lag etwas, das ich Entschlossenheit nennen würde. Es besteht natürlich keine Möglichkeit, diese Dinge empirisch zu überprüfen, aber das war meine persönliche Wahrnehmung. Ich bevorzuge Tatsachen, aber manchmal ist die persönliche Wahrnehmung alles, woran man sich halten kann.
Manchmal höre ich die Leute so was sagen wie »Ich weiß, wie er tickt« und frage mich, wie jemand so etwas wissen kann. Die Funktionsweise eines Menschen ist sehr mysteriös. Natürlich wissen Ärzte, wie der Körper funktioniert, und können ihn manchmal reparieren, wenn er nicht richtig arbeitet. Aber die Funktionsweise des Körpers ist es nicht, was die Leute meinen, wenn sie solche Sachen sagen. Sie meinen die Absichten eines Menschen oder seinen Charakter oder dass er gute Dinge tut – oder, bei jemandem wie Mike vielleicht, dass er das Gegenteil davon tut.
Ich verstehe nicht, wie man so etwas wissen kann, so wie man das Datum der Unabhängigkeitserklärung kennt (4. Juli 1776) oder weiß, dass der Gepard das schnellste Landsäugetier der Welt ist. Solche Dinge können gemessen und überprüft werden. Aber nicht, wie ein Mensch tickt. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass Donna ein guter und starker Mensch ist, egal, wie unüberprüfbar dies auch sein mag.
Ich habe Mitgefühl mit Donna Middleton. Es muss schwer für sie sein. Bestimmt ist es schwer, einen Jungen großzuziehen, selbst einen so guten Jungen wie Kyle. Sie ist damit ganz allein, wobei sie offenbar auch etwas richtig macht. Ich schätze, dass Kyle heute von seinen Großeltern aus Laurel zurückkehrt. Ich hoffe, er ist seiner Mutter noch lange Zeit ein guter Junge.
Ich denke nicht, dass Donna Middleton so allein sein will, wie sie es ist. Sonst wäre sie wohl nicht mit all den Mikes und Troys und Donalds zusammen gewesen, oder? Ich denke, es muss sehr schwer und traurig sein, etwas zu wollen und es nicht zu bekommen, egal, wie sehr man es versucht. Sie hat mit Mike zusammengelebt, und er hat versucht, sie zu erwürgen.
Ich habe Mitgefühl mit Donna Middleton. Aber ich habe kein Mitleid. Das ist ein feiner Unterschied, denke ich, aber es fühlt sich richtig an. Ich denke nicht, dass Donna Middleton es gut fände, wenn ich Mitleid mit ihr hätte. Ich weiß nicht, wie sie tickt, aber ich bin zuversichtlich. Diese Zuversicht muss ausreichen, bis Tatsachen vorliegen.
Um 4:38 Uhr am 293. Tag des Jahres (weil es ein Schaltjahr ist) sitze ich, Cornflakes kauend, vor dem Computer und logge mich bei Montana Personal Connect ein.
Posteingang (1).
Ich klicke auf den Link.
Hallo Edward!
Viiiieeeelen, vielen Dank das du meine Fragen beantwortet hast. Deine Fragen sind auch toll. Hier sind meine Antworten:
- Die Anzahl weiß ich nicht so genau. Ein paar. Onlinedating ist schwierig. Aber was soll mann machen? In Broadview werd ich wohl kaum jemand kennenlern. Ha ha.
- Ich mag den Sommer. Ab an den See, Boot fahren, braun werden. LOL. Magst du den See?
- Was ist Polizeibericht?
- Eigentlich alles. Ich mag klassischen Rock und Countrymusik. Ich LIEBE Garth Brooks.
- Ich fahre nicht oft im Urlaub. Das letzte Mal bin ich nach
Colorado gefahrn, zum Mountain-Biking. Was ist mit dir? Was meinst du Edward, hast du vielleicht Lust dass wir uns treffen? Sag Bescheid.
Bye,
Joy
Da ist so vieles falsch an dieser Nachricht, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Aber dann ist da diese Frage. Willst du mich treffen? Ich bin schockiert, weil ich erkenne, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt, 4:44 Uhr am 19. Oktober, dem 293. Tag des Jahres (weil es ein Schaltjahr ist), nie daran gedacht habe, dass die Teilnahme an einer Onlinepartnervermittlung dazu führen könnte, dass man eine richtige Verabredung hat.
Außerdem habe ich eine Idee.
Ich bin im Keller und mache eine Bestandsaufnahme.
Das Vorderrad und die Pedale meines Achtzehn-Gang-Rennrads werden funktionieren. Es ist nicht so, als würde dieses Fahrrad oft von mir benutzt. Meine Eltern haben es mir 2002 zu Weihnachten geschenkt. Ich bin einmal damit gefahren und auf der Lewis Avenue fast von einem Lastwagen überrollt worden. Seitdem steht es im Keller.
Ich weiß, dass die großen schwarzen Hinterräder meines Mulchmähers funktionieren werden. Wenn ich sie abnehme, mache ich den Mulchmäher zwar unbenutzbar, aber vor dem nächsten Frühjahr muss ich mir darüber keine Gedanken machen.
Ich werde Holz brauchen und ein paar Eisenwaren – Bolzen, Schrauben, Muttern und so etwas – und etwas Farbe und Lack und andere Dinge. Ich muss eine Inventarliste erstellen und Messungen vornehmen. Der Baumarkt öffnet in zwei Stunden und dreiundvierzig Minuten.
Meine Idee – vorläufig werde ich sie das »Große Projekt« nennen – ist eine der besten, die ich seit Langem hatte. Früher hatte ich viele große Ideen, und ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich neue Projekte liebe, aber viele davon sind nie realisiert worden. (Ich liebe das Wort »realisieren«.) Es ist nicht so, dass ich sie nicht umsetzen konnte; es ist eher so, dass sie häufig mit meinen anderen, etablierteren Projekten kollidieren, etwa, dass ich jeden Tag Polizeibericht sehe.
Ich bin jedoch zuversichtlich, dass das Große Projekt beendet werden kann. Ich werde dabei nicht nur auf die Voraussetzungen des Projekts achten müssen, sondern auch auf die Zeit.
Meine Idee ist mir an dem Tag gekommen, als die Dallas Cowboys Football spielten.
Mein heutiger Besuch beim Baumarkt in Billings-West End verläuft so viel besser als an jenem Dienstag, dass ich es kaum glauben kann. Aber es ist eine Tatsache, und Tatsachen vertraue ich.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens weiß ich genau, was ich brauche und wo ich es bekomme, sodass ich auf keinen potenziell nicht behilflichen Angestellten angewiesen bin. Zweitens muss ich keine Auswahl treffen – nicht einmal bei den Farbsprühdosen. Ich habe die Farbe meines Großen Projekts haargenau vor meinem geistigen Auge, nehme einfach die entsprechenden Sprühdosen und lege sie in den Einkaufswagen.
Als ich mit dem voll beladenen Wagen zum Ausgang komme, sehe ich, dass jetzt auch der Baumarkt Selbstbedienungskassen hat. Wenn ich derlei Daten notiert hätte, wäre dies wahrscheinlich der beste Tag überhaupt. Bis heute ist mir jedenfalls noch nicht in den Sinn gekommen, dass es sich lohnen könnte, ganze Tage zu bewerten.
Die Gesamtrechnung beim Baumarkt beläuft sich auf 221,95 $. Das hört sich wie die Art von Preis an, wie man ihn vielleicht in einem spätnächtlichen Werbespot im Fernsehen hört, aber in Montana ist das ganz normal. Montana hat keine Mehrwertsteuer, was die meisten Einwohner sicher sehr zu schätzen wissen. Als Landrat von Yellowstone County ist mein Vater nicht überschwänglich begeistert davon. (Ich liebe das Wort »überschwänglich«.) Mein Vater beklagt oft, dass der Landkreis den Touristen nicht mehr Geld abnimmt, indem er ihnen Mehrwertsteuer aufbrummt. Er hat sogar mal eine – erfolglose – Klage gegen den Staat angestrengt, um die einzelnen Landkreise selbst bestimmen zu lassen, ob sie Mehrwertsteuer erheben oder nicht. In einem Leitartikel im Billings Herald-Gleaner wurde mein Vater dafür kritisiert; dort stand: »In seinem Bestreben, Besucher von Montana zu besteuern, scheint Landrat Ted Stanton nicht zu erkennen, dass er dabei auch die vielen Tausend Bürger schröpfen würde, die hier leben und sein Gehalt bezahlen.« Danach hat mein Vater mehrere Monate mit niemandem vom Billings Herald-Gleaner mehr gesprochen.
Und jetzt kommt wieder etwas, worüber mein Vater nicht glücklich sein wird: eine Rechnung über 221,95 $. Nächsten Monat wird er sie sehen. Danach werde ich sicher von ihm hören – oder von seinem Anwalt.
Um 9:23 Uhr kehre ich nach Hause zurück. In einer Stunde und siebenunddreißig Minuten werden die Dallas Cowboys gegen die St. Louis Rams spielen. Ich bin wegen dieses Spiels schon ganz aufgeregt. Der beste Spieler der Cowboys, Quarterback Tony Romo, wird nicht mitspielen, weil er sich einen Finger gebrochen hat. Die Cowboys sollten es auch ohne Tony Romo schaffen zu gewinnen, weil die St. Louis Rams fürchterlich spielen, aber ich bin trotzdem aufgeregt.
Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich Fan der Dallas Cowboys bin. Ich werde es Ihnen verraten. Zunächst einmal sind die Dallas Cowboys »America’s Team«. Alle sagen das, ständig. Ich denke nicht, dass Amerika das per Wahl entschieden hat, und wahrscheinlich gibt es in Amerika einen Haufen Leute, die professionellen Football nicht einmal mögen, obwohl ich das nicht sicher weiß, ohne eine wissenschaftliche Umfrage durchzuführen, und ich habe ja schon das Große Projekt vor mir.
Außerdem ist mein Vater in Dallas aufgewachsen, und seine Eltern – Grandpa Sid und Grandma Mabel, die jetzt beide tot sind – waren gut mit Tom Landry befreundet, der früher Trainer der Dallas Cowboys war. Tom Landry ist ebenfalls tot. Das einzige Mal, das ich meinen Vater weinen gesehen habe, war an dem Tag, als Tom Landry starb. Als Grandma Mabel und Grandpa Sid starben, hat er nicht geweint, jedenfalls nicht, soweit ich es sehen konnte.
Tom Landry muss ein sehr guter Mann gewesen sein.
1978, als ich neun Jahre alt war, nahm mein Vater mich auf eine Geschäftsreise mit nach Dallas. Die meiste Zeit blieb ich bei Grandpa Sid und Grandma Mabel, während Vater seinen Geschäften nachging. Damals arbeitete er für eine Ölgesellschaft und war für deren Unternehmungen in Montana und North Dakota verantwortlich, was der Grund dafür ist, dass wir in Billings leben. Politiker wurde er erst ein paar Jahre später, nachdem das Ölgeschäft »in die Scheiße geritten wurde«, wie mein Vater gerne sagt. Bis dahin hatte er aber schon viel Geld verdient und musste nicht mehr im Ölgeschäft arbeiten. Zuerst war er eine Weile im Stadtrat von Billings, dann wurde er Bürgermeister von Billings und dann Landrat von Yellowstone County.
Aber damals, 1978, als er mich nach Dallas mitnahm, war er noch im Ölgeschäft tätig. Eines Tages, als er keine Termine hatte, fuhren wir nach Irving, wo die Dallas Cowboys trainieren. Ich lernte Tom Landry und Dan Reeves kennen, der damals Co-Trainer der Cowboys war und später erster Trainer in Denver und New York und Atlanta wurde. Ich lernte auch Roger Staubach kennen, Quarterback der Cowboys und mein Lieblingsspieler, der zehn Jahre später, nach Tom Landry, Trainer der Cowboys wurde, und viele andere Spieler, die alle in mein Autogrammbuch schrieben, das ich heute noch habe.
Es war ein toller Tag. Damals fühlte ich mich meinem Vater sehr nahe.
Bevor das Spiel der Cowboys beginnt, schaffe ich das Zeug aus dem Baumarkt in den Keller und sortiere es in der Reihenfolge, in der ich es später brauchen werde. Ich kann aber noch nicht mit dem Großen Projekt anfangen. Vor dem Spiel bleibt nicht genug Zeit, und ich muss mich auch darauf vorbereiten. Vor allem muss ich erst einmal die Zeitung aufnehmen und meine Wetterdaten notieren, damit sie vollständig sind.
Um 14:16 Uhr sitze ich auf meiner Couch vor dem Fernseher. Mir fällt die Kinnlade herunter. (Ich würde ja sagen, dass ich das Wort »Kinnlade« mag, aber im Moment mag ich gar nichts.) Mein weißes original Tony-Romo-Trikot – ich habe auch ein blaues, falls die Cowboys in dieser Farbe spielen – trage ich nicht mehr am Körper, es liegt zusammengeknüllt auf dem Fußboden.
Es war grauenvoll.
Erstens ist es schwerer, als ich dachte, ohne Tony Romo zu spielen. Sein Ersatzmann, Brad Johnson, war heute nicht gut. Er hat drei Interceptions geworfen, also Pässe, die von der gegnerischen Defense abgefangen werden. Tony Romo wirft auch viele Interceptions, aber er wirft zusätzlich viele Touchdown-Pässe. Brad Johnson hat nur einen Pass geworfen, der zum Touchdown führte. Das ist zu wenig.
Zweitens war die Defense der Cowboys schrecklich, und da Tony Romo keine Defense spielt, kann seine Abwesenheit nicht als Entschuldigung gelten.
Der Running Back der St. Louis Rams, Steven Jackson, ist 160 Yards gelaufen und hat drei Touchdowns erzielt. Das war nicht Tony Romos Fehler.
Drittens denke ich, dass die Cowboys nicht so gut sind, wie sie denken. Sie haben drei der letzten vier Spiele verloren und damit jetzt eine Statistik von 4-3. Selbst als Tony Romo noch nicht verletzt war, haben sie nicht so gut gespielt.
Viertens haben die Cowboys 34-14 verloren.
Würde ich Daten über die Qualität des Tages notieren, und ich bin gerade sehr froh, dass ich es nicht tue, wäre dies nun nicht mehr der beste Tag überhaupt.
Normalerweise schreibe ich meinen Beschwerdebrief immer erst, bevor ich ins Bett gehe, aber ich denke, dass ich es heute eher tun muss, damit ich den Kopf wieder frei bekomme und mich auf das Große Projekt konzentrieren kann.
Ich habe schon einen dicken grünen Aktenordner mit Briefen an Jerry Jones, den Besitzer der Dallas Cowboys.
Mr Jones,
ich bin sicher, Sie wissen, warum ich Ihnen heute schreibe. Ihre Dallas Cowboys haben gegen die St. Louis Rams ganz erbärmlich gespielt, und ich beginne zu fürchten, dass sie es nicht in die Play-offs schaffen. Immerhin wird Tony Romo noch weitere zwei Wochen ausfallen.
Ich kann Ihnen Tony Romos Verletzung nicht zur Last legen. Verletzungen sind ein Teil des Spiels, und niemand kann voraussehen, wann sie passieren. Das könnte ich an Ihrer Stelle nur schwer hinnehmen, da ich Tatsachen bevorzuge und Dinge, auf die ich mich verlassen kann. Sie scheint die Unvorhersehbarkeit von Verletzungen jedoch nicht weiter zu stören.
Ich kann Ihnen jedoch zur Last legen, dass Brad Johnson als Quarterback kaum geeignet scheint. Dies ist etwas, das Sie bei der Teamzusammenstellung hätten merken und berücksichtigen müssen, da es immerhin halbwegs wahrscheinlich ist, dass ein Ersatz-Quarterback gelegentlich spielen muss. Und da Tony Romo verletzt ist, geht es nicht mehr nur um Wahrscheinlichkeit, sondern um Realität.
Zum Schluss muss ich auch Ihrer Defense einen Teil der Schuld zuweisen. Ich habe Großmütter gesehen, die härter werfen als einige Ihrer Spieler. (Das stimmt so natürlich nicht. Ich habe noch nie eine Großmutter werfen gesehen, und ohne eine bestimmte Anzahl körperlicher Experimente kann ich nicht sicher sagen, ob irgendeine Großmutter tatsächlich härter wirft als Ihre Spieler. Dies ist nur ein literarisches Stilmittel, Hyperbel genannt.)
Vielen Dank im Voraus für Ihre Aufmerksamkeit hinsichtlich dieser dringenden Thematik.
Mit freundlichen Grüßen,
Edward Stanton
Nachdem ich den Brief an Jerry Jones abgeheftet habe – den achtunddreißigsten, den ich an ihn geschrieben habe –, fällt mir ein, dass ich noch nicht fertig bin mit Schreiben. Ich schreibe mehr Menschen als je zuvor, und es ermüdet mich.
Ich logge mich bei Montana Personal Connect ein und verfasse eine Nachricht an Joy.
Hallo, Joy,
ja, ich stimme zu, dass wir ein Treffen ins Auge fassen sollten. Allerdings muss ich erwähnen, dass ich Garth Brooks nicht mag. Ich hoffe, dass dies kein Hindernis darstellt, mich zu treffen.
Mit freundlichen Grüßen,
Edward Stanton
Den Kopf frei von der unangenehmen Geschichte mit den Dallas Cowboys und der Angst wegen einer Antwort an Joy, kann ich meine ganze Aufmerksamkeit nun auf das Große Projekt richten. Ich bohre und säge und verbinde und schraubendrehe (was eigentlich kein Wort ist) und denke nur wenig darüber nach, dass die Angst wegen einer Antwort an Joy zwar verschwunden, die Angst vor einem möglichen tatsächlichen Treffen aber noch da ist.
Die Arbeit geht schnell voran; es war gut, dass ich vorher ein paar Skizzen angefertigt habe. Es ist von Vorteil, dass ich gut mit Werkzeugen umgehen kann. Ich sage das nicht, um anzugeben. Es ist eine Tatsache, und ich bevorzuge Tatsachen. Als ich vor einundzwanzig Jahren zur Billings West High School ging, war Werken das einzige Fach, das ich mochte. Dort spielten soziale Unterschiede keine Rolle. Die einzige Frage war, ob man die Arbeit tun konnte, und ich konnte. In meinem letzten Jahr ernannte Mr Withers mich sogar zum Assistenten. Bei meinem Abschluss sagte er meinen Eltern, ich sei der beste Schüler gewesen, den er je gehabt habe. Mein Vater strahlte vor Stolz. Manchmal bekomme ich jetzt noch Nachrichten von Mr Withers. Ich denke, er war vielleicht der Einzige, der mich an der Billings West High School überhaupt bemerkt hat, wobei ich eigentlich eine Umfrage bei allen Leuten von damals machen müsste, um es sicher zu wissen, und dafür habe ich gerade keine Zeit.
Vielleicht wäre ich gern Werklehrer geworden, aber ich denke nicht, dass ich mit den ungezogenen Kindern und den Eltern und dem ganzen Papierkram und den Anforderungen des Schulleiters zurechtgekommen wäre. Ich bin sogar sehr sicher. Ich denke, auf der ganzen Welt gibt es nicht genug Fluoxetin oder von Dr. Buckley nicht genug Weisheit, um mir dabei zu helfen.
Als die Arbeit erledigt ist, rolle ich das Große Projekt die Keller-treppe hoch, zur Hintertür hinaus und in die Garage. Es ist Zeit zu streichen – das Große Projekt, nicht die Garage. Die Garage ist morgen an der Reihe.
Die heutige Polizeibericht-Folge, die fünfundzwanzigste und vorletzte (ich liebe das Wort »vorletzte«) der vierten und letzten Staffel, heißt »Der Safeknacker« und ist eine meiner Lieblingsfolgen.
G. D. Spradlin, ein Schauspieler, der in drei Folgen von Polizeibericht auftritt, spielt einen Mann namens Arthur Leo Tyson, dessen Hobby es ist, Safes zu knacken. Er ist ein ehemaliger Häftling auf Bewährung, und wie sich herausstellt, vermisst er es, eingesperrt zu sein. Dieses Phänomen nennt man »Institutionalisierung«, und für mich klingt es schrecklich. Trotzdem gibt es einiges, auf das Arthur Leo Tyson sich freuen kann, wenn er wieder in »den Bau« geht. Das Baseballteam der Häftlinge von San Quentin erwartet eine gute Saison, und er will dabei sein. Das finden Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon witzig, die Arthur Leo Tyson mittlerweile ins Herz geschlossen haben, obwohl er ein reueloser Verbrecher ist. Es ist schön zu denken, dass Polizisten auch mal ein bisschen menschlich sein können.
G. D. Spradlin ist ein Schauspieler mit hohem Wiedererkennungswert und hat über die Jahre in vielen Serien und Filmen mitgespielt. Er hat ein sehr markantes Gesicht, das eher rund ist, mit Falten um die Augen und ständig geschürzten Lippen – die Art von Mund, die aussieht »wie ein Hühnerarschloch«, wie mein Grandpa Sid immer sagte. Er spricht mit heiserem Südstaatenakzent, so wie mein Grandpa Sid auch. Wenn Sie mal den Film Der Tank mit James Garner als altem Sergeant Major gesehen haben, dann wissen Sie, wer G. D. Spradlin ist. Er spielt dort den korrupten Sheriff Buelton, und die meiste Zeit des Filmes sieht sein Mund aus wie ein Hühnerarschloch.
Ich hätte G. D. Spradlin gern geschrieben und ihn nach seinen Erlebnissen bei Polizeibericht gefragt, aber er ist zu bekannt, als dass ich seine Adresse herausbekommen würde. Vor ein paar Jahren habe ich ihn im Internet gesucht, und er scheint immer noch am Leben zu sein, obwohl er schon lange in keinem Film mehr mitgespielt hat. Er wäre schon sehr alt – laut Internet achtundachtzig.
So alt wäre Grandpa Sid jetzt auch, wenn er noch leben würde.
Zeit irritiert mich.