SAMSTAG, 18. OKTOBER
Ich stehe am Rand einer Klippe und sehe nach unten. Ich weiß nicht, ob ich schon mal hier gewesen bin. Um Billings herum gibt es steil aufragende Felsen; das ist die typische geografische Formation in dieser Gegend. Ich kenne sie gut. Ich sehe sie jeden Tag. Ich weiß nicht, ob ich darauf stehe, da ich weder den gesamten Felsen noch eine Stadt darunter sehen kann. Ich sehe meine Füße und den braunen, staubigen, wettergegerbten Sandstein darunter, und dahinter ist nur dunstige Finsternis.
Dann spüre ich, wie ich falle. Nur dass das nicht ich bin.
Er ist es. Kyle. Ich kann sein Gesicht sehen, während er fällt, und ich weiß, dass sein kleiner Körper auf die Felsen aufschlagen wird, von denen ich vermute, dass sie unterhalb liegen, auch wenn ich keine Vermutungen mag. Schwarze Angst erfasst mich.
Und plötzlich greift eine Hand vor und packt Kyle am Handgelenk. Es ist meine Hand, und ich spüre den Ruck in meiner Schulter, als sein Fall gestoppt wird.
»Hilf mir, Edward!«, ruft er.
»Ich hab dich«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und strenge mich an, sein Handgelenk festzuhalten. Ich liege flach auf dem Bauch, mein Kinn ragt über den Klippenrand, und meine Füße scheuern über den Felsen hinter mir, während ich Halt suche.
»Ich rutsche!«
»Ich hab dich!«
Und dann habe ich ihn nicht mehr. Die Gravitationskraft zieht ihn aus meinem Griff und reißt ihn in den sicheren Tod und …
Ich bin auf.
Und ich bin draußen.
Ich weiß nicht, wie spät es ist.
Meine Daten sind nicht vollständig.
Als ich am Steuer meines 1997er Toyota Camry sitze, bemerke ich drei Dinge. Erstens, es ist 7:40 Uhr. Zweitens, das Behr Mokkabraun an der Garage vor mir sieht grässlich aus. Drittens, ich trage mein 1999er R.E.M.-T-Shirt ihrer Up-Tour und meine blau-rot gestreifte Schlafanzughose. In diesen Sachen schlafe ich. Ich trage keine Schuhe.
Es ist mir egal.
Von dem Haus aus, das mein Vater gekauft hat, ist der Weg bis zur Billings Clinic ganz einfach: rechts auf die Clark Avenue und bis zur 6th Avenue West, links auf die 6th bis zur Lewis Avenue, rechts auf die Lewis bis zum Broadway, links auf den Broadway bis zum Krankenhaus. Ich kann in fünf Minuten da sein. Mein Magen rumort, und das kommt nicht vom Linksabbiegen.
Am Krankenhaus finde ich eine Parklücke auf dem Parkplatz hinter der Notaufnahme. Bevor ich aussteige, werfe ich im Rückspiegel einen Blick auf mein Gesicht. Ich lecke meine rechte Handfläche an und streiche mir über den Kopf. Mein Haar ist vom Schlaf zerzaust und steht in alle Richtungen ab. Ich sehe aus wie verrückt. Ich fühle mich verrückt. Ich denke, ich bin verrückt.
Ich renne zur Tür.
»Ich muss Donna Middleton sprechen.«
»Und Sie sind?« Der Sicherheitsmann an der Anmeldetheke der Notaufnahme sieht mich misstrauisch an, und ich kann es ihm nicht verübeln, aber ich kann auch keine Rücksicht darauf nehmen.
»Edward Stanton. Sie müssen sie holen.«
»Weiß sie, dass Sie kommen?«
»Nein. Holen Sie sie.«
»Sir, Sie müssen sich beruhigen.«
»Bitte, holen Sie sie.«
»Sir.«
»Bitte.«
»Sir, warum sind Sie hier?«
»Bitte. Sagen Sie ihr einfach, hier ist Edward Stanton. Bitte.«
Er mustert mich langsam von oben bis unten. Ich versuche, ein wenig gerader zu stehen – als ob ich dadurch weniger lächerlich aussehen würde!
Nach zwei Minuten, die eine Ewigkeit zu dauern scheinen – es ist komisch, wie Zeit sowohl Tatsache als auch Illusion sein kann –, kommt Donna Middleton durch die Doppeltüren, die den Vorraum von der Notaufnahme trennen.
»Edward, was ist los?«
»Ich muss mit Ihnen reden.«
»Okay. Edward, ich bin bei der Arbeit.«
»Ich weiß. Ich muss mit Ihnen reden.«
»Okay.«
»Sie müssen Kyle anrufen.«
»Warum?«
»Sie müssen sich vergewissern, dass es ihm gut geht.«
Ihr Gesicht, das bis dahin nur verwundert ausgesehen hat, verändert sich augenblicklich. Es wird rot, und ihr Blick scheint mich zu durchbohren. Ihre Stimme überschlägt sich fast.
»Was ist passiert? Ist meinem Sohn etwas passiert? Warum sind Sie hier?«
»Bitte, rufen Sie ihn einfach an.«
»Was wissen Sie von meinem Sohn?« Sie schreit mich an.
Der Sicherheitsmann, der uns von der Anmeldung aus träge beobachtet hat, kommt näher. Donna Middleton hat ihre Hände zu Fäusten geballt.
»Ich … ich …«
»Was ist mit meinem Sohn?« Sie zittert.
Ich rede sehr schnell. »Ich weiß es nicht. Ich hatte einen Traum. Die letzten zwei Nächte habe ich geträumt. Ich habe geträumt, dass etwas passiert. Ich konnte ihn nicht retten. Ich habe es versucht, wirklich versucht. Sie müssen ihn anrufen. Nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Bitte. Rufen Sie ihn an.«
Donna Middleton wendet sich ab und rennt durch die Doppeltüren zurück. Der Sicherheitsmann, ein sehr starker junger Mann, packt einen meiner Arme und dreht ihn mir auf den Rücken. Ich sinke zu Boden.
Ich bin nicht überrascht, als mein Vater durch die automatischen Türen in den Vorraum der Notaufnahme kommt. Der Sicherheitsmann hat die Polizei gerufen und die Polizei meinen Vater. So was ist früher auch schon passiert, aber noch nie hier in der Billings Clinic.
Mein Vater trägt ein hellbraunes Golfshirt unter einer Wind-jacke. In Anbetracht des für die Jahreszeit außergewöhnlich warmen Wetters – ich habe meine Daten noch nicht vervollständigt, aber ich vermute, dass es heute um die achtzehn Grad werden wird, auch wenn ich nicht gern Vermutungen anstelle – kann man davon ausgehen, dass ich das Golfspiel meines Vaters unterbrochen habe. Er sieht mich an und schüttelt fast unmerklich den Kopf. Dann geht er zur Anmeldung und spricht mit dem Sicherheitsmann, aber leise. Ich sitze auf einem Stuhl an der Wand, meine Hände sind hinter der Rückenlehne mit Handschellen gefesselt. Ich höre, dass mein Vater seinen Namen nennt, und sehe, wie der Wachmann nickt, aber ich habe Schwierigkeiten, mehr zu hören.
Nachdem er ein paar Minuten mit meinem Vater diskutiert hat, nickt der Sicherheitsmann, und nun kommen beide zu mir herüber. Der Mann greift hinter den Stuhl, schließt die Handschellen auf, steckt sie zurück in seinen Gürtel und geht wieder zur Theke.
Mein Vater setzt sich neben mich.
»Was ist passiert, Edward?«
»Ich hatte einen schlimmen Traum. Ich habe Angst gehabt.«
»Ein Traum mit dem Sohn dieser Frau?«
»Ja.«
»Edward, in welchem Verhältnis stehst du zu diesem Jungen?«
»Verhältnis?«
»Ja. Warum interessierst du dich so für den Sohn dieser Frau?«
»Ich interessiere mich nicht für ihn, Vater.«
»Wenn man die Umstände bedenkt, unter denen du hier bist, ist das schwer zu glauben, Edward.«
»Er hat mir geholfen, die Garage zu streichen. Er ist eines Tages zu mir gekommen. Das ist alles.«
»Das ist alles?«
»Ja. Er hat mir beim Streichen geholfen. Seine Mutter weiß davon. Sie hat sich nicht beschwert.«
»Das tut sie aber jetzt.«
»Ja.«
Mein Vater seufzt. Er lehnt sich vor und reibt sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen. »Verstehst du, wie das nach außen wirkt? Du bist im Schlafanzug, hast keine Schuhe an, stehst in der Notaufnahme und redest davon, dass der Sohn dieser Frau in Gefahr ist. Begreifst du, dass das als inakzeptabel angesehen werden könnte?«
»Ja. Ich hatte Angst.«
»Okay, Edward. Aber jetzt hast du jemand anderem Angst gemacht.«
Nachdem er mit mir gesprochen hat, spricht mein Vater mit Donna Middleton, die extra dazu rausgekommen ist. Sie stehen ein paar Meter von mir entfernt und reden, und es ist, als wäre ich nicht dabei.
»Mr Stanton, ich habe noch niemals solche Angst gehabt.«
»Ich weiß.«
»Ich habe Kyle angerufen. Es geht ihm gut.«
»Das ist schön. Edward sagt, er habe einen Albtraum gehabt. Ich bin sicher, Ihr Sohn ist niemals in Gefahr gewesen.«
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Sicher.«
»Was stimmt nicht mit ihm?«
Mein Vater lächelt, wie um sie zu beruhigen. »Edward hat eine schwere Zwangsneurose. Schon lange. Was er heute getan hat, ist noch nie vorgekommen, das gebe ich zu, aber im Allgemeinen tut er alles, um seinen Zustand zu kontrollieren. Er nimmt Medikamente und geht zur Therapie.«
Das offenbart, was mein Vater weiß. Die ganze Wahrheit lautet, dass ich obsessiv-kompulsiv bin und unter dem Asperger-Syndrom leide. Manche Leute nennen es auch »hochfunktionalen Autismus«. Dr. Buckley sagt, ich kann nichts dafür.
»Ist er gefährlich?«
»Nein. Zumindest war er das bisher nicht. Edwards Zwänge betreffen normalerweise … Dinge – Fernsehserien, die er sich ansieht, Projekte, die er verfolgt … die seinen Geist stimulieren.«
»Ich verstehe. Aber Sie sagen, so was wie eben hat er noch nie gemacht.«
»Nein.«
»Können Sie mir versprechen, dass es nie wieder passiert?«
»Es tut mir leid. Ich glaube nicht, dass es wieder passiert, aber versprechen kann ich es nicht.«
»Okay. Würden Sie ihm dann bitte sagen, er soll uns in Ruhe lassen? Wird er das tun?«
»Ich werde mich darum kümmern.«
»Ich bin froh, dass es Ihrem Sohn gut geht.«
»Danke.«
Donna Middleton verschwindet.
Mein Vater erklärt mir die Situation, die ich bereits kenne. Ich soll mich von Donna Middleton und Kyle fernhalten. Ich habe ihnen Angst eingejagt und soll sie nie wieder belästigen.
»Fahr nach Hause, Edward«, sagt mein Vater.
Zurück im Haus gibt es viel zu tun. Noch keine meiner Daten sind notiert. Ich beginne mit meiner Aufwachzeit. Tatsache ist, dass ich sie schlicht nicht weiß. Um 7:40 Uhr saß ich in meinem Toyota Camry, daher schätze ich, dass ich um 7:39 Uhr aufgewacht bin und eine Minute gebraucht habe, um vom Bett ins Auto zu kommen. Aber ich weiß es nicht mit Sicherheit. Ich schreibe 7:39 Uhr – das vierundzwanzigste Mal in 292 Tagen in diesem Jahr (weil es ein Schaltjahr ist), aber das erste Mal, dass ich einen Stern neben die Uhrzeit male. Das bedeutet, dass sie eine Schätzung ist. Ich mag keine Schätzungen, ich bevorzuge Tatsachen.
Außerdem nehme ich den Billings Herald-Gleaner und notiere die Höchst- und die Tiefsttemperatur von gestern – zwölf und minus zwei Grad. Die Vorhersage für heute lautet, wie erwartet, dass es warm wird, voraussichtlich bis zu siebzehn Grad. Morgen werde ich es mit Sicherheit wissen.
Meine Daten sind vollständig.
Unter der Dusche denke ich darüber nach, was heute bereits für ein Durcheinander passiert ist. Ich bin erleichtert, dass es Kyle gut geht. Diese Träume neuerdings machen mir Angst. Ich frage mich, woher sie kommen und warum. Das wird eine lange Wartezeit werden bis Dienstag, wo ich mit Dr. Buckley darüber reden kann. Sie ist ein sehr logischer Mensch. Ich hoffe, sie kann mir erklären, was da los ist.
Ich denke daran, dass es jetzt zu spät ist für meine Schüssel mit Cornflakes, was mein System der Nahrungsaufnahme vollkommen durcheinanderbringen wird. Ich denke daran, wie hässlich die Garage aussieht und dass ich bald etwas dagegen tun muss.
Vor allem denke ich an Donna Middleton und wie erschrocken sie heute Morgen war. Ich habe Angst gehabt, aber meine Angst ist nichts gegen ihre gewesen. Ich denke daran, dass es ihr ohne mich richtig gut gegangen wäre und sie ihre Arbeit als Krankenschwester in der Billings Clinic ganz normal hätte verrichten können. Ich denke an meinen Vater und wie enttäuscht er gewirkt hat. Ich denke daran, wie viele Male er schon irgendwo hinkommen und mir aus der Patsche helfen musste. Das hier war vielleicht schlimmer als das »Garth-Brooks-Debakel«.
Ich hocke mich in die Wanne, ziehe die Knie bis zum Kinn und stütze den Kopf darauf ab.
Bei Montana Personal Connect sehe ich es erneut:
Posteingang (1)
Ich klicke auf den Link.
Hallo Edward!
Du bist SO witzig. Deine Nachricht hat mir sehr gut gefallen. Ich würd gern weiter mit dir reden. Du hast auch ein nettes Gesicht. Ich mag deine Augen.
Pass auf, wir machen jetz was, ok? Ich stelle dir fünf Fragen über dich und du schreibst die Antworten zurück und dann fünf Fragen über mich.
- Wo bist du gebohren?
- Hast du irgendwelche Spitznamen?
- Was würdest du bei einer Verabredung gerne tun?
- Hast du Geschwisster?
- Würdest du dem Road Runner helfen, Wile E. Coyote zu entkommen, oder dem Kojoten, Road Runner zu fangen?
Schreib
zurück!
Joy
Diese Frau bringt mich ganz durcheinander. Ihre Grammatik ist nicht besser geworden, und ich muss mich wohl mit der Möglichkeit anfreunden, dass dies nie geschehen wird. Allerdings stellt sie wirklich gute, wenn auch völlig aus der Luft gegriffene Fragen.
Ich werde eine Weile darüber nachdenken müssen.
Nach dem Abendessen – Rinderbraten mit Kartoffeln als Tiefkühl-Fertiggericht – antworte ich ihr.
Verehrte Joy,
Sie stellen wirklich gute Fragen.
- Ich wurde am 9. Januar 1969 hier in Billings geboren.
- Als ich klein war, hat meine Mutter mich Teddy genannt, aber ich bevorzuge Edward.
- Ich denke, ich würde bei einer Verabredung gern ins Kino gehen. Ich mag Filme. Und wenn man nach dem Film noch essen gehen will, hat man etwas, worüber man reden kann.
- Ich bin das einzige Kind meiner Eltern.
- Ich bin nicht sicher, warum das wichtig ist, aber mir scheint, dass Road Runner keine Hilfe braucht, um dem Kojoten zu entkommen – das ist ja der Witz in diesem Cartoon, dass der Kojote nie gewinnt. Ich nehme an, ich würde dem Kojoten helfen, aber was ich am liebsten machen würde, ist, Sachen für diese fiktive Firma zu erfinden, die vom Road Runner betrieben wird.
Hier sind fünf Fragen für Sie:
- Wie viele Onlinedates hatten Sie schon?
- Was ist Ihre liebste Jahreszeit?
- Gucken Sie Polizeibericht? Wenn ja, was ist Ihre Lieblingsfolge?
- Was für Musik mögen Sie?
- Wohin fahren Sie in den Urlaub?
Mir freundlichen
Grüßen,
Edward
Um Punkt 22:00 Uhr setze ich mich vor meine allabendliche Polizeibericht-Folge. Heute sehe ich die vierundzwanzigste Folge der vierten und letzten Staffel, »Die Rache einer Frau«. Sie wurde das erste Mal am 2. April 1970 ausgestrahlt und ist eine meiner Lieblingsfolgen.
Darin wird ein ehemaliger Sträfling namens John Sawyer – gespielt von Herbert Ellis, der noch in drei weiteren Folgen in Farbe auftritt – wiederholt von seiner verbitterten, getrennt lebenden Ehefrau beschuldigt, Raubüberfälle begangen zu haben. Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon, die Anschuldigungen gegen einen Ex-Sträfling ernst nehmen müssen, ermitteln und verhören John Sawyer mehrfach und kommen zu dem Schluss, dass er die Verbrechen, derer er beschuldigt wird, nicht begangen hat.
Schließlich begeht John Sawyer doch einen Raubüberfall, da er denkt, dass Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon ihn für unschuldig halten werden, wo seine Frau doch mit ihren Anschuldigungen keinen Erfolg hatte. Aber da irrt er sich gewaltig, denn Sergeant Joe Friday findet den Schuldigen immer.
Sobald John Sawyer in Polizeigewahrsam ist, wird die Frau böse auf Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon, dass sie ihn festgenommen haben. Sie hatte ihren Mann nur deswegen zu Unrecht all dieser Verbrechen beschuldigt, weil sie wollte, dass er zu ihr zurückkommt.
Manche Frauen habe eine seltsame Art auszudrücken, was sie wollen.
Ich schalte den Fernseher und den Videorekorder aus, dann gehe ich zum vorderen Fenster und schließe die Vorhänge. Ein weiterer Tag ist fast vorbei. Es ist einer der anstrengendsten Tage gewesen, an die ich mich erinnern kann, wobei ich nicht jeden Tag den Grad meiner Erschöpfung notiere. Jedenfalls bin ich froh, dass er vorbei ist.
Gegenüber, unter der Straßenlaterne, sehe ich Donna Middleton hinter ihrem Wagen stehen. Sie spricht mit einem Mann. Ihre Arme fuchteln durch die Luft. Er beugt sich zu ihr. Es sieht aus, als würde er sie anschreien.
Ich gehe zur Haustür, die ich einen Spaltbreit öffne. Jetzt kann ich sie hören.
»Du sollst dich von mir fernhalten, Mike.«
Mike. Heilige Scheiße!
»Ich will doch nur reden«, brüllt er sie an.
»Nein!«
»Doch, verdammt!«
Das ist schlimm. Links und rechts in der Straße gehen die Lichter an.
»Ich will nie wieder mit dir reden.«
»Warum nicht?«
»Du weißt genau, warum nicht.«
»Weil du eine verdammte Schlampe bist, darum.«
Das ist richtig schlimm. Ich gehe zum Telefon und wähle.
»Notrufzentrale. Was kann ich für Sie tun?«
»Ein Mann und eine Frau in meiner Straße streiten sich. Ich glaube, sie hat eine einstweilige Verfügung gegen ihn beantragt.«
»Sechs achtundzwanzig Clark Avenue.«
»Kennen Sie den Namen der Frau?«
»Donna Middleton.«
»Und den des Mannes?«
»Mike. Mehr weiß ich nicht.«
»Können Sie sehen, was jetzt passiert?«
Ich gehe wieder zum Fenster. »Sie schreien.«
»Wie lautet Ihr Name, Sir?«
»Edward Stanton.«
»Und wo wohnen Sie?«
»Sechs neununddreißig Clark Avenue.«
»Können Sie sie noch sehen, Sir?«
»Ja.«
»Was tun sie gerade?«
»Sie schreien immer noch.«
Es passiert so schnell, dass ich schockiert aufstöhne. Mike holt aus und zieht Donna Middleton mit dem rechten Handrücken übers Gesicht. Ihr Körper wird durch die Wucht des Schlags zurückgeworfen und prallt gegen ihr Auto. Dann fällt sie zu Boden.
»Jetzt hat er sie geschlagen!«
»Okay, Sir. Bleiben Sie ruhig. Die Polizei ist unterwegs.«
Donna Middleton ist auf allen vieren und versucht wegzukrabbeln. Mike packt sie und wirft sie auf den Betonboden ihrer Auffahrt, wo sie auf dem Rücken landet. Dann beugt er sich über sie und legt ihr die Hände um den Hals.
»Jetzt würgt er sie!«
»Sir, die Beamten sind fast da. Bleiben Sie dran.«
»Ich muss ihr helfen.«
»Sir, bleiben Sie am Telefon.«
Wie aus dem Nichts tauchen drei Streifenwagen vor Donna Middletons Haus auf. Die Polizisten springen mit gezückten Waffen aus den Autos. Ich kann hören, wie sie Mike anbrüllen.
»Loslassen! Aufstehen! Hände hinter den Kopf!«
Nachdem Mike losgelassen und sich hingestellt hat, stoßen zwei Polizisten ihn hart zu Boden und legen ihm Handschellen an, während der andere sich um Donna Middleton kümmert. Ein Krankenwagen fährt vor. Meine Nachbarschaft wird von den roten und blauen Warnblinklichtern erleuchtet. Ich kann sehen, dass meine Nachbarn auf ihren Veranden stehen, tuscheln und gaffen.
Nachdem Mike in einen Polizeiwagen verfrachtet und weggebracht wurde, kommt einer der Polizisten, die ihn verhaftet haben, über die Straße und geht zu meinem Haus. Ich treffe ihn an der Tür. Ich habe diesen Polizisten schon mal gesehen.
»Geht es ihr gut?«, frage ich.
»Es hat sie sehr mitgenommen. Sie wird ein paar blaue Flecken bekommen. Aber sonst geht es ihr gut.«
»Sie hatte eine einstweilige Verfügung gegen diesen Mann erwirkt, oder?«
»Ja.«
»Warum war er dann hier?«
»Tja, das ist eine gerichtliche Anordnung, keine Gefängniszelle. Aber dort wird er nun landen.«
»Das ist schrecklich.«
»Ja. Und es hätte noch schlimmer kommen können, Mr Stanton. Danke, dass Sie uns verständigt haben.«
»Sie werden nicht meinen Vater anrufen, oder?«
Der Beamte schmunzelt. »Nein, Sie haben das Richtige getan.«
Mike,
Sie sind Abschaum. Sie sind untermenschlich. Sie sind ein grauenvoller, grauenvoller Mann.
Sie haben kein Recht, dort hinzugehen, wo Sie nicht erwünscht sind, und einer einstweiligen Verfügung gegen Sie zuwiderzuhandeln. Sie haben kein Recht, vor Donna Middletons Haus zu sein. Sie haben kein Recht, sie anzuschreien, zu schlagen oder zu würgen.
Ich kann nur hoffen, dass Sie aufgrund der Gesetzesmacht irgendwohin gebracht werden, wo Sie sie nicht wieder verletzen können.
Edward Stanton
Ich stecke den Brief in einen neuen grünen Aktenordner mit der Aufschrift »Mike« und ordne ihn ein. Ich möchte mich übergeben.
Nach Zeitplan gehe ich um Punkt Mitternacht ins Bett. Ich kann nicht einschlafen und denke, dass ich mich auf eine ungewöhnliche Aufwachzeit am Morgen einstellen muss, falls ich überhaupt schlafen werde. Meine Daten werden vollständig sein, aber sehr unregelmäßig.
Um 1:47 Uhr – das weiß ich, weil ich nicht schlafe und auf den Wecker sehe – höre ich ein Klopfen an der Haustür. Ich krabble aus dem Bett und gehe zur Tür, wo ich durch den Spion sehe.
Hinter der Fischaugenlinse steht Donna Middleton. Sie hat eine lilafarbene Schwellung unter dem rechten Auge. Ihr Gesicht ist verheult und das Make-up verschmiert. Sie hat geweint.
Ich öffne die Tür.
»Hallo, Mr Stanton.«
»Hallo, Ms Middleton. Geht es Ihnen gut?«
»Meine Verletzungen werden in ein paar Tagen verheilt sein, wie sie sagen. Aber es geht mir nicht gut.«
»Das verstehe ich.«
Sie blickt zu Boden. »Ich möchte Ihnen danken, dass Sie die Polizei gerufen haben.«
»Ja.«
»Und ich wollte mich für meine Reaktion heute Morgen entschuldigen – o Gott, heute Morgen! Das scheint eine Ewigkeit her zu sein.« Sie schluchzt.
»Ja.«
»Ich werde aus Ihnen nicht schlau, Mr Stanton.«
»Edward«, wiederholt sie.
»Ich weiß.« Ich weiß nicht genau, was ich sagen soll.
»Sind Sie unser Freund, Edward?«
»Ja.«
»Also gut. Dann nochmals vielen Dank. Ich war …« Sie schluchzt wieder. »Ich war sicher, ich würde sterben.«
»Das wäre bestimmt nicht passiert.«
Sie versucht zu lächeln, weint aber noch mehr. Sie reibt sich über das Gesicht und schnieft. »Also gut. Es ist spät. Wahrscheinlich habe ich Sie geweckt. Gute Nacht, Edward.«
»Gute Nacht.«
Ich beobachte, wie sie sich umdreht und schräg über die Straße geht, von meinem Vorgarten zu ihrem. Sie steigt die Stufen ihrer Veranda hinauf, öffnet ihre Tür und verschwindet im Haus.
Es ist 2:00 Uhr. Ich gehe immer um Punkt Mitternacht ins Bett, aber heute war ein außergewöhnlicher Tag, und hier stehe ich und bin noch wach. Um diese Uhrzeit habe ich meine Nachbarschaft noch nie gesehen. Sie ist ruhig und schön. Ich höre nichts außer dem Klopfen meines Herzens.