25
Sarah verrenkte sich, bis sie Alex ins Gesicht sehen und nach seiner Jacke fassen konnte. »Es sind die Schmuggler!«, stieß sie hervor. »Sie haben unser Haus in Brand gesteckt und sind jetzt unterwegs zu den Höhlen, wo ein gewisser Spencer sie erwartet. Wir müssen hier weg!«, rief sie eindringlich und zerrte fester an seiner Jacke, als Alex nicht reagierte. »Komm schon!«
Er aber rührte sich nicht und sagte nichts; er senkte nur stumm den Blick auf sie, aschfahl und mit gequälter Miene.
Sarah hieb auf seine Brust ein. »Sie sind zu dritt, Alex. Wir müssen hier fort!«
Endlich rührte er sich, aber nur, um ihre Schultern zu umfassen und sie heftig zu schütteln, ehe er sie an sich drückte und seine Arme sie wie ein Schraubstock umschlossen.
»Alex«, japste sie in seine Jacke und versuchte sich loszumachen. »So hör mir doch endlich zu! Ihre Schneemobile habe ich unten am Bach plattgemacht. Sie sind hinter uns her – und sie sind bewaffnet!«
Seine Arme umfassten sie noch fester, und Sarah war gezwungen, sich nun ruhig zu verhalten, da sie keine Luft mehr bekam. Aber hören konnte sie, und Alex’ Herz pochte so heftig, dass es ihren Ohren wehtat.
Dann zerrte er sie plötzlich zu der großen Fichte, an die sie den Skidder gesetzt hatte, um ihn zu stoppen. Sarah leistete erbittert Widerstand, indem sie die Fersen in den Boden stemmte und beharrlich forderte, sie müssten zum Pfad zurück; doch schloss sie jäh den Mund, als sein drohender Blick sie traf. Er ließ sie los, um das Gewehr von der Schulter zu nehmen, offenbar bereit, auf sie loszugehen, wenn sie auch nur mit der Wimper zuckte. Dann entledigte er sich seiner Jacke, zog sie ihr stumm über und zog den Reißverschluss hinauf bis zum Kinn. Noch immer schweigend nahm er wieder ihre Hand und führte sie um den Baum herum. An der Hinterseite des Stammes zwang er sie zu Boden.
Sarah stockte der Atem, als er in die Hocke ging und sie in seine drohenden Augen blickte. »Ich muss mich darauf verlassen können, dass du hier wartest«, sagte er leise und eindringlich. »Hast du verstanden, Sarah?«
Sarah sagte nichts und drückte sich an den Baum, als sein Gesicht immer näher herankam.
»Bis ich zurückkomme, bleibst du hier, zusammengekauert wie ein Hase, der sich vor einem Rudel Wölfe versteckt – egal was passiert, egal was du hörst.«
»Aber …«
»Du musst hier abwarten, bis ich dich hole, Sarah!«
Sie nickte.
»Gut.« Er richtete sich auf und schaute am Baum vorbei zum Pfad hinüber. Als er sich zu ihr umdrehte, sah sie, dass seine Miene noch unerbittlicher geworden war und sein Blick noch härter. »Sollten sie so weit vordringen, werden sie nur die Zerstörungen sehen, die der Skidder angerichtet hat. Auch wenn sie an die Felsklippe treten und hinunterschauen, werden sie dich hier nicht entdecken.«
Er hob seine Flinte auf und hängte sie sich über die Schulter. »Wenn sie den Skidder unten in der Schlucht sehen, werden sie nicht mehr nach dir suchen. Verhalte dich mucksmäuschenstill, dann werden sie glauben, du wärest im Abgrund gelandet.« Wieder hockte er sich vor sie hin, und diesmal umfasste er ihr Gesicht etwas sanfter. »Sarah, du verstehst doch, um was es hier geht? Egal was du in den nächsten zwei Stunden hörst, egal was die Männer reden, falls sie es so weit schaffen: Sie dürfen nicht merken, dass du am Leben bist.«
»Und was machst du?«
Er stand nur auf und ließ seinen Blick über den Pfad schweifen. Sarah richtete sich auf, aber Alex drehte sich warnend um, und sie hielt sofort inne. Ach Gott, was war er wütend!
Sarah streckte die Hand aus und berührte seine Brust. »Ich weiß, dass ich dir große Angst eingejagt habe«, sagte sie leise. »Und dass du ungehalten bist, weil ich mich in Gefahr gebracht habe und heraufgekommen bin, um dich zu warnen. Aber niemand sonst hätte es rechtzeitig geschafft. Ich konnte nicht anders. Und jetzt haben sie kein Fahrzeug und müssen zu Fuß gehen – dank meines Manövers.«
Er kniff die Augen zusammen, seine Miene verfinsterte sich, dann aber fasste er nach ihrer Hand auf seiner Brust und atmete stoßweise aus. »Du willst meine Bitte nicht erfüllen und hier abwarten und dich verstecken?«
»Ich werde mich sehr bemühen, denn ich verstehe, dass du mich in Sicherheit wissen willst, damit du dich auf diese Schurken konzentrieren kannst.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber nein, ich kann nicht einfach hier sitzen, während du allein auf diese Bande Jagd machst.«
»Du musst mir vertrauen, Sarah.«
»Das tue ich ja.«
»Also noch einmal, Sonnenschein: Tu, was ich sage, und dann bin ich binnen einer Stunde wieder da, das verspreche ich dir.«
Sarah fiel plötzlich dieser Mann namens Spencer in den Höhlen ein. Sie nickte und wollte sich zu der hohen Fichte umdrehen, doch Alex hinderte sie daran und drückte ihre Hand. »Versprich es mir.«
»Ich verspreche es.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn aufs Kinn. Dann gab sie ihm einen Schubs. »Also los, jetzt geh schon!«
Er sah zu, wie sie sich zwischen zwei dicke Wurzelstränge des Baumes drückte und ein paar gebrochene Zweige als Sichtschutz um sich aufhäufte, dann ging er in die Hocke und umfasste ihre Wange. »Ich verspreche dir, dass ich komme, Sarah«, sagte er leise. »Wir sind mit dem Roman noch nicht zu Ende. Ich weiß noch immer nicht, ob Willow ihren Duncan heiraten wird.«
»Aber natürlich«, flüsterte Sarah und schmiegte sich in seine Hand. »Es ist ja ein Liebesroman, da sind alle glücklich – für immer und ewig.«
Alex schüttelte den Kopf und sah sie eindringlich an. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Es ist immerhin möglich, dass Willow nicht wagt, ihr Herz aufs Spiel zu setzen.«
»Das tut sie bestimmt. Sie liebt ihn.«
»Bist du dir da so sicher?«
Sarah fasste nach seiner Hand. »Ganz sicher.«
Alex strich ihr mit dem Daumen über die Lippen, küsste sie auf die Stirn, dann stand er auf und ging um den Baum herum. Sarah neigte sich vor und sah, wie er mit einem Zweig ihre Fußspuren verwischte, bis er bei seinen Schneeschuhen angelangt war. Dann blickte er zu ihr. »Ich baue darauf, dass dir nichts zustößt, Sarah.«
»Das gilt auch für dich«, sagte sie und winkte ihn fort.
Alex nahm seine Schneeschuhe und machte sich auf den Weg, den Schmugglern entgegen. Sarah sah ihm nach, bis er außer Sichtweite war, dann saß sie da, mit geschlossenen Augen an den Baum gelehnt, die Knie angezogen, damit sie aufhörte zu zittern. Ja, sie würde hier ausharren – aber nur, weil sie Alex Rückendeckung geben musste. Der Mann aus den Höhlen würde an ihr nicht vorbeikommen, keinesfalls!
Eine Handvoll Schnee fiel von einem Ast herunter und landete in ihrem Kragen, der Wind wehte ihr den scharfen Geruch des Feuers zu, das Haus der Knights schien bis auf die Grundmauern abzubrennen. Sarah schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatte ihr Ziel erreicht, sie hatte Alex warnen können, aber wenn sie darauf bestanden hätte, ihn zu begleiten, wäre sie ihm womöglich tatsächlich im Weg gestanden. Sie verharrte also zusammengekauert unter dem Baum und betete um die sichere Rückkehr ihres Mannes, während sie den Pfad zu den Höhlen hinauf im Auge behielt.
Keine zehn Minuten später ließ ein Schuss sie zusammenzucken, ein scharfer Knall, der von den umliegenden Hängen widerhallte. Knapp fünf Minuten später ertönte wieder ein Schuss, dann vernahm sie zwei weitere in rascher Folge. Dem durchdringenden Echo folgte ominöse Stille. Der kalte Wind, der in den Baumwipfeln heulte, ließ Sarah angstvoll erschaudern. War Alex angeschossen worden? War er gezwungen gewesen, auf die Männer zu schießen?
Wenig später wurde sie gewahr, dass sie nicht nur den Wind, sondern von Weitem das Motorengeräusch eines Schneemobils hörte. Nur kam es nicht von unten, sondern von oben. Sarah duckte sich in das Wurzelgeflecht der Fichte, als das Gefährt sich näherte. Beklommen sah sie, dass das Schneemobil keinen Meter von ihrem Versteck entfernt anhielt.
Da der laufende Motor mit seinem Dröhnen alle Geräusche übertönte, die sie womöglich verursachte, wagte Sarah, sich umzudrehen; nun sah sie, dass der Mann absaß und an den Rand der Felsklippe trat.
So, jetzt oder nie, lautete ihre Losung. Sie konnte es schaffen. Ja, das konnte sie! Sarah wagte sich hinter dem Baum hervor, schlich sich hinterrücks an den Mann an und erreichte ihn, als er einen Schritt nach vorn machte, um über die Kante zu spähen. Sie stieß mit aller Kraft zu.
Mit einem erschrockenen Aufschrei drehte sich der Mann um. Er rang um sein Gleichgewicht, die Arme wie Windmühlenflügel schwenkend, dann stürzte er rücklings ins Leere. Sarah, die so entsetzt war wie er, blickte ihm nach, als er den Steilhang hinunterkullerte, von Gestrüpp und schneebedeckten steinigen Erhebungen abprallte, bis der zerschmetterte Skidder ihn schließlich aufhielt. Mit einem geradezu surrealen Gefühl der Teilnahmslosigkeit und beträchtlichem Schuldbewusstsein beobachtete sie, wie er sich langsam aufsetzte und aufzustehen versuchte, ehe er umfiel und nach seinem verrenkten Bein fasste.
Erleichtert, dass sie ihn nicht getötet hatte, warf Sarah einen Blick auf das mitten auf dem gespurten Pfad stehende Schneemobil, dessen Motor noch immer lief. Dann blickte sie den Weg hinunter und versuchte abzuschätzen, wie viel Zeit vergangen sein mochte, als ein vereinzelter, von unten kommender Schuss sie zusammenzucken ließ.
Sollte sie Alex folgen oder besser hier abwarten, wo sie ihm nicht im Weg war? Sie hatte nur versprochen, hierzubleiben, um ihm Rückendeckung zu geben – und das hatte sie ja nun tadellos hingekriegt, oder? Sarah ging zum Schneemobil, schwang ein Bein über den Sitz und fasste nach den Lenkergriffen.
Verdammt, alles sah anders aus. Sie hatte keine Ahnung, wo das Gas und wo die Bremse waren. Schließlich legte sie den rechten Daumen über den rechten Schalthebel und die Finger der Linken über den länglichen Hebel links und drückte mit beiden Händen fest zu. Das Vehikel machte einen Satz, und sie umklammerte die Griffe, um nicht rücklings herunterzufallen, als der Motor auch schon abstarb und das Gefährt schlitternd zum Stehen kam, so dass sie gegen den Lenker geschleudert wurde.
»Jetzt habe ich das verdammte Ding abgewürgt«, murmelte sie und suchte nach dem Anlasser, den sie auch fand. Als sie den Zündschlüssel drehte, tat sich nichts. Das Schneemobil rührte sich nicht von der Stelle. Nun, somit war entschieden, ob sie bleiben oder Alex folgen sollte.
Da hörte sie Sirenengeheul. Es kam von der Straße, die aus dem Ort in den Wald führte, und sie schöpfte Hoffnung.
Sie hatte die Telefonvermittlung gebeten, John und Daniel zu melden, dass die Schmuggler auf dem Whistler’s Mountain waren. Und als sie vernahm, dass eine einzelne Sirene sich von den anderen trennte und auf den Weg zum neuen Einschlaggelände abbog, lächelte sie breit. Hilfe war unterwegs – sie konnte nur hoffen, dass John Tate noch rechtzeitig eintreffen würde.
Alex wischte sich das Blut weg, das ihm in die Augen lief, und trat aus dem Dickicht der Bäume auf den Weg, als der Wagen des Sheriffs vor dem Durcheinander von Schneemobilen rutschend zum Stehen kam. John stieg aus, und Alex ging ihm vom gefrorenen Bach aus entgegen, wobei er jener Stelle auswich, wo Sarahs Skidder das Eis aufgebrochen hatte.
»Was ist denn hier passiert?«, fragte John mit einem Blick auf die Schneemobile, bevor er Alex ansah. »Hoffentlich ist das nicht dein Blut, das ich da sehe.«
»Zum Teil schon«, erwiderte Alex atemlos. Er wies mit dem Daumen auf den Wald. »Das meiste stammt von den zwei Halunken, die ich eine halbe Meile weiter oben umgelegt habe.«
»Sind sie tot?«
Alex zuckte die Schultern. »Bei dem einen konnte ich die Blutung stoppen, aber ohne ärztliche Hilfe wird er vermutlich binnen einer Stunde trotzdem sterben.«
»Und der andere?«, fragte John.
Wieder ein Schulterzucken. »Es gibt noch einen Dritten. Soviel ich gesehen habe, war der allerdings langsamer als der Erdrutsch, den ich verursacht habe.« Alex ging zu seinem völlig intakten Schneemobil, das auf der Schneewehe stand. »Sarah ist noch oben«, sagte er und schwang ein Bein über den Sattel. »Sie sagte etwas von einem Vierten, der oben bei den Höhlen warten soll.« Er nahm den Zündschlüssel aus seiner Tasche.
Als er ihn in die Zündung stecken wollte, bemerkte er die seitlich aus der Motorhaube hängenden Drähte. »Mist«, zischte er, hob die Abdeckung hoch und sah, dass jemand die Zündkabel durchtrennt hatte.
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. »Reed ist schon unterwegs«, sagte John. »Er hat hinten auf seinem Pick-up ein Schneemobil dabei. Wo ist Sarah? Ist sie verletzt?«
»Ich habe sie hinter einer Fichte etwa zwei Meilen weiter oben versteckt.« Alex stieg vom Schneemobil und ging zum Bach. »Auf Daniel können wir nicht warten. Der Kerl oben in den Höhlen muss den Schuss auch gehört haben.«
John hielt ihn auf. »Hör mal, da kommt jemand gefahren.« Er sah an seinem Wagen vorbei. »Das könnte Daniel sein.« Vorsichtshalber zog er seine Waffe.
Daniel Reed kam in seinem Pick-up dahergebraust, trat hinter den Wagen des Sheriffs auf die Bremse und sprang heraus. »Was geht hier vor?«
»Wir müssen zu Sarah«, erwiderte Alex, der zu Daniels Fahrzeug lief und die Halterungen des Schneemobils auf der Ladefläche löste. »Sie hält sich zwei Meilen von hier versteckt, und ein vierter Mann soll oben an den Höhlen sein. Setz zur Schneewehe zurück«, sagte er und sprang auf die Ladefläche.
Daniel stieg ein, setzte zur Schneewehe zurück, schaltete den Motor aus und warf Alex die Schlüssel des Schneemobils zu. »Wir kommen mit.« Rasch nahm er seine Flinte vom Waffenhalter am Rückfenster. »Wir setzen dich bei Sarah ab, anschließend fahren John und ich hinauf zu den Höhlen.«
Alex startete das Schneemobil und steuerte es rücklings die Ladefläche herunter, dann rutschte er auf dem Sitz nach hinten, um John Platz zu machen, so dass Daniel sich vor sie beide quetschen und lenken konnte. Alex überließ den vierten Schurken nur allzu gern den beiden Gesetzeshütern. Er wollte nur eines: zu Sarah. Und er hoffte inständig, sie noch immer hinter dem Baum versteckt vorzufinden. Nie im Leben würde er vergessen, wie Sarah mit Vollgas über diese Kuppe geprescht war und wie dann der Skidder über die Felsklippe kippte, Sekunden nachdem er sie herausgeholt hatte. Alex schnaubte leise, als das Schneemobil über den Bach schoss. Wem wollte er hier eigentlich etwas vormachen? Die Chance, Sarah noch immer versteckt hinter dem Baum anzutreffen, war gleich null. Deshalb war Alex keineswegs überrascht, als sie eine Viertelmeile vom Baum entfernt eine kleine Anhöhe hinter sich brachten und er sah, dass seine Frau ihnen entgegenlief.
»Alex!«, rief sie atemlos. »O Gott, du bist unversehrt!« Sie kam rutschend zum Stehen, als er abstieg und sich zu ihr umdrehte. »Du bist ja blutig!«, rief sie erschrocken. »Sie haben auf dich geschossen!«
»Das Blut ist nicht von mir«, knurrte er, ging zu ihr und umfasste ihre Schultern. »Verdammt, Sarah, du hättest in deinem Versteck bleiben sollen«, fuhr er sie an und musste sich sehr zurückhalten, damit er sie nicht kräftig schüttelte.
»Ich habe die Sirenen gehört«, entgegnete sie ähnlich scharf. »Und ich dachte …« Sie unterbrach sich mit einem erstickten Aufschrei und warf sich ihm an die Brust.
Daniel und John kamen näher, und Alex, der Sarah an sich drückte, sagte über ihren Kopf hinweg: »Wir kommen hier gut allein zurecht. Fahrt ruhig weiter.«
Sarah blickte jäh auf. »Die Sache ist noch nicht ausgestanden?« , fragte sie und sah Daniel und John an.
»Alex sprach von einem vierten Mann oben bei den Höhlen«, erklärte John. »Den übernehmen wir.«
»Er ist nicht da«, informierte Sarah die zwei Gesetzeshüter, die verblüfft innehielten.
Alex schloss mit einem resignierten Seufzer die Augen. Wie kam es, dass er so gar nicht überrascht war? »Weißt du denn zufällig, wo er ist?«, fragte er.
»Am Fuß der Felsklippe«, antwortete sie leise. »Ich glaube, er hat sich ein Bein gebrochen, als er … als er stolperte und abstürzte.«
Alex zählte bis zehn, doch als dies nichts nützte, zog er Sarah einfach an sich, als Daniel eine Rolle Seil vom Schneemobil nahm und mit John zur Schlucht stapfte. »Sonnenschein, du bringst mich noch ins Grab«, brummte er in ihr Haar.
Bei Gott, am liebsten … am liebsten … ach, zum Teufel! »Verdammt, Sarah, hör auf zu weinen!«, befahl er ihr und rieb mit den Daumen über ihre tränennassen Wangen. »Sag mir, wo man dich verletzt hat.«
»Da drinnen«, weinte sie und schlug sich auf die Brust. »In meinem Herzen.«
»In deinem Herzen?«, wiederholte er besorgt. »Hattest du einen Herzanfall?«
»Ja.« Sie blickte mit großen Augen zu ihm auf. »Und du hast ihn bewirkt. Du hast mir eine Heidenangst eingejagt, du Scheusal!«, rief sie laut. »Und wenn du nicht sofort aufhörst, mich anzufauchen, und mir nicht auf der Stelle sagst, dass du mich liebst, dann bringst du mich ins Grab.«
Erleichterung machte sich breit. »Wenn ich mich recht erinnere, habe ich gesagt, dass eher ein Meter Schnee in der Hölle liegt, als dass ich diese Worte zu dir sage.«
Sarah schenkte ihm plötzlich ein Lächeln, dass ihm die Knie weich wurden. »Ich habe die letzte Stunde in der Hölle verbracht – und der Schnee liegt mindestens einen Meter hoch.«
Schon war er im Begriff, die Worte zu sagen, die sie hören wollte, doch dann schnaubte er: »Nein, Sarah, diesmal wirkt dein Lächeln nicht. Du wirst mich nicht von der Tatsache ablenken, dass du vermutlich diesen Burschen in den Abgrund befördert hast. Ganz zu schweigen von deinem Husarenstück mit dem Skidder – du hättest nicht hier heraufkommen dürfen.«
»Auch wenn ich gekommen bin, um dir zu sagen, wie meine Entscheidung lautet?«
Alex stöhnte. Seinem Skidder über die Klippe in den Abgrund zu folgen wäre vielleicht sicherer, als sich für die nächsten fünfzig Jahre an diese Frau zu ketten, die ihn in den Wahnsinn trieb. Seine Finger glitten über ihren Nacken in ihr Haar. »Wie hast du dich entschieden?«
»Ich möchte Flitterwochen machen.«
»Was?«
»In England. Und dann möchte ich mit einer Hovercraft-Fähre nach Europa und die Grand Tour unternehmen.«
Alex machte den Mund auf, doch kam kein Laut heraus.
»Wir werden im Sommer fahren müssen, wenn die Kinder Ferien haben«, fuhr sie fort, »weil sie natürlich mitkommen müssen. Sie sollen sehen, dass es eine große schöne Welt außerhalb dieser Wälder gibt.« Sie runzelte die Stirn. »Leider geht es erst im nächsten Jahr, weil ich diesen Sommer ja hochschwanger sein werde.«
Alex sah zum Abgrund hinüber, dann blickte er wieder die lächelnde Sarah an. »Sag es«, forderte er sie auf, als er sie an sich zog.
»Ich liebe dich, Alex Knight.«
»Ich liebe dich, Sarah Knight«, sagte er gleichzeitig, ehe er ihren Mund in Besitz nahm.
Und verdammt wollte sie sein, wenn sie seinen Kuss nicht mit der Leidenschaft einer starken, reifen Frau erwidert hätte. Alex drückte sie an sich und vertiefte den Kuss; so gab er ihr zu verstehen, wie glücklich ihn ihre Entscheidung machte – bis sie etwas murmelte.
Er rückte ab. »Was ist?«
»Du schmeckst nach Blut«, sagte sie und schaffte es wieder, ihn mit diesem verdammten Lächeln zu überrumpeln, als sie die Hand ausstreckte und die verkrustete Platzwunde auf seiner Stirn berührte. »Es wird Zeit, dass wir nach Hause fahren, meinst du nicht auch?« Sie wurde wieder ernst. »Aber leider haben wir kein Zuhause mehr. Es ist abgebrannt.«
Er schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln. »Ihre Sport-Lodge bekommt die ersten Gäste, Mrs. Knight. Wir ziehen alle um.«
»Delaney und Tucker werden am Boden zerstört sein. Bis auf die paar Sachen, die sie am Leib tragen, haben sie alles verloren.«
»Wir sorgen einfach dafür, dass für sie alles ein großes Abenteuer wird.«
»Und die schönen Sachen deiner Mutter – Grady wird meinen, dass er Rose noch einmal verloren hat.«
»Grady ist zäher als wir alle zusammen«, beruhigte Alex sie und legte ihr den Arm um die Schultern, um sie über den Pfad zu geleiten. »Vor siebzig Jahren ist sein Großvater aus Norwegen mit nichts als einer Doppelaxt und hundert Dollar in Gold gekommen.« Er sah zu ihr hin und zog die Brauen hoch. »Du wusstest wohl nicht, dass du dich in einen Wikinger verliebt hast?«
Sie lächelte verführerisch. »Ich habe einige Liebesromane mit Wikingern gelesen.«
»Wirklich? Ich hätte nichts dagegen, einen Roman mit einem Helden zu lesen, der Wikinger ist. Laut, natürlich«, setzte er mit einem Augenzwinkern hinzu, nur um innezuhalten, als sein Blick auf das Schneemobil des vierten Mannes fiel. Halb von der Spur abgekommen, steckte es mit der Nase bis zum Sichtschutz im Dickicht. Alex sah auf Sarah hinunter und unterdrückte einen Seufzer. »Du wirst mir jetzt wohl weismachen wollen, dass der Bursche sein Schneemobil an den Baum gefahren hat, ehe er über die Felsklippe stürzte?«
Sie lächelte unschuldig. »Zu unserem Glück war er ein wenig unbeholfen.«
»Nimm doch das Schneemobil dieses Halunken und fahre mit Sarah los«, schlug John vor, der zu ihnen stieß und sich den Schnee von der Hose klopfte, nachdem er den Steilhang heraufgestapft war. »Dann kannst du mit meinem Dienstwagen ins Krankenhaus fahren und euch beide durchchecken lassen. Wir bergen unterdessen diesen Kerl und transportieren ihn auf Daniels Schneemobil ins Tal. Ich habe über Funk Verstärkung angefordert. Sobald sie eintrifft, werden wir uns die anderen drei vorknöpfen.«
Alex führte Sarah zum Schneemobil, hievte es aus dem Gebüsch und drehte den Zündschlüssel.
»Ich habe das Ding … Ich meine, das Ding ist kaputtgegangen, als es an den Baum gekracht ist«, sagte sie, als der Motor nicht ansprang.
Alex packte die Lenkstange, hob die hängengebliebene Notstopptaste an und drehte den Zündschlüssel, worauf der Motor sofort in Gang kam. Sarah starrte die Taste auf der Lenkstange an. »Was hast du da gemacht?«
»Der Kerl muss zufällig den Motor abgewürgt haben, als er gegen das Hindernis prallte«, erklärte Alex. Er half Sarah auf den Sitz und setzte sich hinter sie. »Das ist das Gas«, sagte er und legte ihren Daumen auf den Drehgriff am rechten Lenker. »Und das ist die Bremse.« Er platzierte ihre linken Finger auf dem Drehgriff links. »Und das«, er deutete auf eine Anzeige am Cockpit, »ist der Drehzahlmesser. Versuche unter zweitausendfünfhundert zu bleiben.«
Sie drehte sich um und sah ihn über die Schulter hinweg an. »Du lässt mich fahren?«
Er stellte die Füße auf die Fußraste und nahm die ihren zum Schutz dazwischen. »Wenn du einen wild gewordenen Skidder gemeistert hast, wirst du dieses kleine Schneemobil auch lenken können.«
Mit einem glückseligen Lächeln, das schier die Sonne überstrahlte, drehte sie sich wieder um und betätigte mit aller Kraft den Drehgriff.
Alex zuckte vor Schmerz zusammen, als sein rechter, unter den Gashebel geschobener Daumen zusammengequetscht wurde, während seine Linke dicht auf der Notbremse ruhte und seine heldenhafte Frau ihre Rettungsaktion zu Ende brachte.