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Alex Knight kämpfte gegen die Müdigkeit an, die auf seinen Lidern lastete, und fuhr sich mit unsicherer Hand durchs Haar – ein matter Versuch, Klarheit in seinen benebelten Kopf zu bringen. Er musste sich auf die Straße konzentrieren. Knapp zehn Meilen vor seinem Haus einem Unfall zum Opfer zu fallen, nachdem es ihm geglückt war, im Dschungel Brasiliens dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, wäre eine unüberbietbare Ironie des Schicksals gewesen. Er ließ das Fenster des Mietwagens herunter und atmete die kühle Novemberluft ein. Der Duft des Nadelwaldes würde ihn erfrischen. Keine drei Tage zuvor hatte er noch geglaubt, faulig-feuchter Dschungelmoder wäre das Letzte, was er je riechen, und das Gekreische der Affen das Letzte, was er je hören würde.

Jetzt aber war er zu Hause, dank einer Riesenportion Glück und seiner Entschlossenheit, nicht im stinkenden Dschungel durch die Hände wahnwitziger Rebellen den Tod zu finden. Nun, Glück allein war es nicht gewesen, dem er seine Heimkehr verdankte, sondern vor allem auch der Gedanke an seinen Vater und an seine Brüder, die ihn brauchten, sowie an seine beiden Kinder, die ihn noch nötiger hatten und die schließlich nicht zu Waisen werden sollten.

Als Alex in die private Forststraße der Knights einbog, war er mit einem Mal hellwach. Freudige Erwartung beschleunigte seinen Puls und ließ seinen Fuß schwer auf dem Gaspedal ruhen, als er das Schild passierte, das ihm anzeigte, dass er sich nun auf dem Grundstück von North Woods Timber befand. Noch acht Meilen Schotterstraße, die er wie seine Westentasche kannte, und der Schoß der Familie hatte ihn wieder.

Alex wich gefrorenen Pfützen aus, als er beschleunigte und den Wagen um eine Kurve steuerte, ehe er über die massive Holzbrücke rumpelte, die den Oak Creek überspannte. Vorletzten Sommer hatte er mit Ethan und Paul diese Brücke neu erbaut und konnte sich noch gut an die Debatten mit seinen Brüdern erinnern, als es um die Bauweise gegangen war. Ethan hatte für Stahlträger plädiert, Paul wollte nur eine Fahrspur, und Grady, dem Vater und Patriarchen des kleinen Clans, war es einerlei, wie die Brücke gebaut wurde, solange sie nur fertig wurde, bevor womöglich ein beladener Holztransporter im Bach landete.

Alex runzelte die Stirn, als er den Wagen beschleunigte. Verdammt, wo steckte seine Familie überhaupt? Er hatte vor drei Tagen von der US-Botschaft in Brasilien aus unzählige Male zu Hause angerufen; am Tag zuvor hatte er es von Mexiko aus abermals versucht, und heute Morgen nach der Landung in Maine wieder. Niemand hatte sich gemeldet. Nur eine mechanische Stimme hatte ihm mitgeteilt, dass der Anrufbeantworter voll sei.

Eine schöne Heimkehr. Verdammt, immerhin war er dem Tod von der Schippe gesprungen – und keiner hatte eine Ahnung! Von der Firma, für die er in Brasilien gearbeitet hatte, wusste er, dass man vor elf Tagen zwei Mann nach Oak Grove geschickt hatte. Sie sollten seiner Familie schonend beibringen, dass er getötet worden war und dass der Fluss seinen Leichnam vermutlich mitgerissen hatte, als eine Bande von Aufständischen die Baustelle überfallen hatte, auf der er als Ingenieur tätig war: ein Staudamm. Dies bedeutete, dass eigentlich alle zu Hause sein und ihren Verlust betrauern müssten, anstatt sich irgendwo herumzutreiben. Doch nun sah es ganz danach aus, als würden die fünf Menschen, die er so innig liebte, seine wundersame Auferstehung verpassen.

Alex bremste scharf, als der dichte Wald sich plötzlich lichtete und einen spektakulären Blick auf den See freigab. Er wartete, bis der eisige Dunst sich legte, während er aus dem offenen Fenster starrte. Sein langer und schmerzlicher Seufzer drückte das Gefühl aus, das er empfand, als er die nördlichste Bucht des Frost Lake erblickte, die tief in die dicht bewaldeten Berge hineinreichte. Es war ein Anblick, der nie verfehlte, ihn anzurühren, und heute Morgen empfand er ihn als besonders bewegend.

Mit einem Mal überfiel Alex die Erinnerung an eine andere, bereits zehn Jahre zurückliegende Heimkehr, als er seine Braut nach Hause geführt hatte. Er hatte an ebendieser Stelle angehalten, und sie hatten von ihrer gemeinsamen Zukunft gesprochen – Charlotte von ihren Plänen, die Küche des Blockhauses auf den neuesten Stand zu bringen, und Alex von seiner Hoffnung, seinen Landbesitz in den nächsten zwei Jahren um noch einmal hunderttausend Morgen zu vergrößern.

Er schüttelte den Kopf. Wie naiv er mit zweiundzwanzig Jahren doch gewesen war oder vielmehr: wie geblendet von Charlottes Schönheit – so sehr, dass er die Dollarzeichen in ihren Augen übersehen hatte. Sie hatte ihn und ihre beiden Kinder fünf Jahre darauf verlassen, nachdem sie begriffen hatte, dass Gewinne in den Kauf von Land und Ausrüstungsgegenständen investiert wurden und dass eine neue Einrichtung sich auf die Anschaffung eines Herdes beschränkte. Vier Monate später war Charlotte bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Alex war als Witwer und alleinerziehender Vater von Delaney und Tucker hinterblieben. Seine Tochter Delaney war jetzt zehn, und Tucker war vor drei Monaten sieben geworden.

Ja, seine Ehe war ein Fehler gewesen, den er so rasch nicht zu wiederholen gedachte. Er hatte seine Kinder, seinen Vater und seine Brüder sowie ihren gemeinsamen Holzhandel. Er hatte alles, was ein Mann sich vom Leben erhoffen konnte. Von einem Leben, in dem er eine zweite Chance bekommen hatte und das er nie wieder als Selbstverständlichkeit betrachten würde, wie Alex sich schwor, als er zum Domizil der Knights hinüberblickte, das sich drei Meilen weiter am steinigen Ufer unter eine Gruppe ehrwürdige alte Fichten schmiegte.

Er konnte eben noch den Bootssteg ausmachen, der sich von der Südseite der Halbinsel hinaus ins Wasser erstreckte, und erkannte, dass das Wasserflugzeug nicht da war. Aus dem Schornstein des siebzig Jahre alten Holzhauses stieg jedoch Rauch auf und zeigte ihm an, dass jemand daheim war. Warum hatte dann aber niemand auf seine Anrufe reagiert?

Einen Augenblick, bevor er ihn sah, hörte Alex den Elf-Achser in seine Richtung kommen. Er trat aufs Gas und steuerte seinen Wagen an den Straßenrand. Rasch kurbelte er das Fenster hoch, um der Staubwolke zu entgehen, die ihn zeitgleich mit dem ohrenbetäubenden Geheul des Signalhorns traf, als der mit Baumstämmen beladene Transporter vorbeiratterte.

Es ist Mittwoch, fiel Alex ein, und seine Leute transportierten das gefällte Holz ab. Und morgen war Thanksgiving, was bedeutete, dass Delaney und Tucker diese Woche schulfrei hatten und sein Vater die beiden vermutlich wie jedes Jahr im Wasserflugzeug nach Portland mitgenommen hatte. Grady versuchte wohl, seinen trauernden Enkeln ein Stück Normalität wiederzugeben, in der Hoffnung, sie für eine Weile von ihrem Verlust abzulenken. Ethan würde an Stelle von Alex als Pilot fungieren, und Paul nutzte wahrscheinlich die Gelegenheit, das Haus für sich allein zu haben und seinen Kummer vor einem knisternden Feuer mit einer Freundin zu bekämpfen.

Alex fuhr feixend das letzte Stück Weg nach Hause, in Gedanken bei dem Stelldichein, das er nun stören würde. Er bog von der Forststraße auf einen schmäleren Weg ab und legte die letzte Meile seiner phantastischen Fahrt zurück, die vor dreizehn Tagen im gebirgigen Dschungel Brasiliens unter Gewehrfeuer ihren Anfang genommen hatte. Die folgenden elf Tage hatte er in der Hölle des Regenwaldes versucht, wieder die Zivilisation zu erreichen, ständig auf der Flucht vor den mordlustigen Halunken, die Jagd auf Ausländer machten, um mit ihnen als Geiseln ihren Privatkrieg zu finanzieren. Es folgten zwei Tage Bürokratie in der Botschaft, unbeantwortete Anrufe in der Heimat und auf dem Rückflug nach Maine ein ganzer Tag und eine Nacht auf verschiedenen Flughäfen.

Endlich war der Hof hinter dem Haus erreicht. Alex schaltete den Motor ab, stieg aus und richtete sich auf. Seine eins fünfundachtzig schmerzten in voller Länge. Zerstreut strich er über die Vorderseite seiner Jacke, die er auf dem Flughafen in Cincinnati erstanden hatte, und ließ seinen Blick mit gerunzelter Stirn über den Hof vor der Eingangstür schweifen. Alle vier Pick-ups parkten neben dem Maschinenschuppen. Das bedeutete, dass die Holzfäller, die weiter oben an der Straße arbeiteten, allein waren – nicht ungewöhnlich, denn die Leute waren dank ihrer Erfahrung sehr wohl in der Lage, ohne Aufsicht Schnitt- und Bauholz zu fällen und auf die Laster zu verladen.

Er musste mit seiner Annahme also recht haben: Grady und Ethan waren mit den Kindern im Wasserflugzeug unterwegs, und Paul hatte das Telefon ausgeschaltet, um sich mit seiner Freundin zu verlustieren. Alex machte einen Satz über die einzige Stufe zur Veranda, hielt dann aber mit der Hand auf dem Knauf der Drahtmaschentür inne. Sollte er die beiden einfach überrumpeln? Seinen kleinen Bruder würde wahrscheinlich vor Schreck der Schlag treffen.

Ach, Paul hatte einen tüchtigen Schreckschuss durchaus verdient, wenn er seinen Kummer in den Armen einer Frau ertränkte, während er seinen Bruder tot mit dem Gesicht nach unten in einem fernen Dschungelgewässer treibend wähnte. Alex öffnete die Fliegengittertür mit einem erwartungsvollen Grinsen und drehte den Türknauf, um so dramatisch einzutreten, wie es sich für ein ins Leben zurückgekehrtes Gespenst ziemte.

Sein schallendes »Hallo« ging in ein verblüfftes Gebrumme über, als er an der massiven Holztür zu stehen kam. Alex trat einen Schritt zurück und rieb sich die Stirn, als er erneut den Knauf drehen wollte – nur um festzustellen, dass die verdammte Tür abgesperrt war.

Hier sperrte niemand eine Tür ab! Es war ein ungeschriebenes Gesetz der Wälder, für den Fall einer Notsituation nie ein Haus mit Telefon abzuschließen. Alex pochte so heftig an die Tür, dass der Rahmen bebte. »Paul!«, rief er laut. »Raus aus dem Bett, Casanova! Es ist Mittag vorbei! Paul!«

Stille war die einzige Reaktion.

»Paul, aufmachen!«

Noch immer Stille.

»Verdammt, soll ich die Tür eintreten?«

»Paul ist nicht da«, meldete sich eine leise, kaum hörbare Stimme.

Alex benötigte gute fünf Sekunden, um sich klar zu werden, dass es sich um eine weibliche Stimme handelte, und einige weitere Sekunden, um das Gesicht zu entdecken, das da durch einen Spalt zwischen den beiden Gardinenschals am Fenster in der Nähe lugte.

Er trat näher heran und lächelte in die ihm nicht bekannten braunen Augen, die zu ihm hinaufstarrten. »Wo ist Paul?«, fragte er freundlich.

»In Augusta – er erhebt dort Einspruch gegen ein neues Forstgesetz.«

»Und wer sind Sie?«

»Mrs. Knight.«

»Mrs. …?«, wiederholte Alex und richtete sich überrascht auf. »Sie sind mit Paul verheiratet?«

Sie schüttelte unmerklich den Kopf.

»Mit Ethan?«, flüsterte er. »Ethan hat geheiratet?«

Wieder Kopfschütteln.

Er wich noch einen Schritt zurück. »Sie haben Grady geheiratet!«

Auf seinen lauten Ausruf hin riss sie die Augen auf und schüttelte heftig den Kopf, wobei sie ein »Nein!« ausstieß.

Alex trat ans Fenster und beugte sich weit nach unten, um mit ihr in Augenhöhe zu gelangen. Es bereitete ihm ein perverses Vergnügen, als er sah, dass sie zurückwich und den Vorhang zuzog. »Wen haben Sie denn dann geheiratet, Lady? Mehr Knights gibt es nicht.«

»Ich habe Gradys ältesten Sohn Alex geheiratet. Ich … ich bin seine Witwe.«

Alex fragte sich auf der Stelle, ob er noch im Dschungel war und im Delirium einen Albtraum erlebte. Entweder dies, oder er musste sich verhört haben.

Alex rieb sich das Gesicht und atmete zur Beruhigung tief durch. »Lady«, sagte er ganz ruhig, »Alex Knight ist als lediger Mann vor fünf Monaten nach Brasilien gegangen, um dort zu arbeiten.«

Wieder tat sich ein winziger Spalt zwischen den Vorhängen auf – gerade so breit, dass er ein großes braunes Auge sehen konnte. »Richter Elroy Rogers hat vergangenen Montag eine Ferntrauung vorgenommen.« Ihre gestelzten Worte hörten sich an, als wiederhole sie einen häufig geprobten Text. »Aber letzten Donnerstag hat sein Vater erfahren, dass Alex getötet wurde. Paul wird morgen zurück sein. Wenn Sie mit ihm sprechen möchten, müssen Sie noch einmal kommen.«

Wieder schloss sich der Vorhang, und Alex sah den Schatten einer kleinen Gestalt, die sich vom Fenster entfernte. Er stand fassungslos da. Er war vor neun Tagen per Ferntrauung zum Ehemann gemacht worden? Und drei Tage später für tot erklärt?

Auf der Botschaft hatte man ihm gesagt, die Leute der Firma, für die er tätig gewesen war, seien vor elf Tagen hier gewesen, und sein Vater hätte am Samstag von seinem Tod erfahren. Wie also hatte Alex Knight am Montag darauf heiraten können? Noch dazu per Ferntrauung. Das war doch nicht rechtens, oder?

Den Teufel war er verheiratet! Diese kleine Betrügerin hatte gelogen. Alex trat wieder vor die Tür und klopfte laut. »Aufmachen!«, rief er, und diesmal erbebten sogar die Fenster. »Wenn Sie nicht öffnen, rufe ich den Sheriff, das schwöre ich!«

»Den habe ich schon gerufen«, erwiderte sie vom Fenster aus. »Am besten verschwinden Sie jetzt auf der Stelle.«

Alex ging wieder ans Fenster, doch anstatt einem erschrockenen Augenpaar sah er sich einem durch den Vorhang lugenden Gewehrlauf gegenüber. Er verschluckte sich an seinem eigenen Lachen. Er musste tatsächlich mit dem Gesicht nach unten von Fieber geschüttelt im verrottenden Dschungel liegen. Er stand nicht auf der Veranda seines eigenen verdammten Hauses, vor der Mündung seiner eigenen verdammten Jagdflinte, die eine Frau auf ihn richtete, die er per Ferntrauung zwei Tage nach seinem angeblichen Tod geheiratet hatte.

Der Gewehrlauf klirrte an der Scheibe. »Wenn Sie nicht von Sheriff Tate in Handschellen abgeführt werden wollen, dann verschwinden Sie jetzt«, warnte sie ihn, wobei ihre Worte eher verzweifelt als drohend klangen.

»Bis John hier eintrifft, vergeht eine Stunde«, fuhr Alex sie an, die Hände in die Hüften gestemmt, den Blick auf das Fenster gerichtet. Er erkannte seine alte Jagdflinte am fehlenden Visier am Ende des Laufes und wusste, dass das verdammte Ding keinen Schlagbolzen hatte. »Und sobald John da ist, werden Sie in Handschellen abgeführt!« Plötzlich fiel ihm etwas ein: »He – wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?«

»Sarah.«

»Sarah«, wiederholte er. »Sarah Banks. Die Haushälterin, die Grady im Sommer eingestellt hat? Sie sind nach den Ferien mit ihm vom Meer hierhergekommen.« Alex ließ die Hände sinken und machte seiner Entrüstung mit einem erleichterten Seufzer Luft. »Schon gut, Sarah. Ich bin Alex Knight, der Vater von Delaney und Tucker. In ihren Briefen und Telefonaten haben die Kinder mir alles über Sie erzählt. Dass Sie letzten August die Hotelpension auf Crag Island betrieben haben und mein Vater Sie überredet hat, mitzukommen und uns den Haushalt zu führen. Bloß keine Aufregung, Sarah. Ich weiß alles über Sie, weil ich nämlich Alex bin.«

Der Gewehrlauf senkte sich nur geringfügig. »Sie sind nicht Alex Knight!«, bestritt sie. »Alex ist vor sechs Tagen in Brasilien ums Leben gekommen.«

»Holen Sie doch mein Bild vom Kaminsims«, erwiderte er, trat beiseite und zog den Reißverschluss seiner Jacke auf. »Los, holen Sie es, damit Sie sich überzeugen können.«

Der Vorhang schloss sich, und Alex sah ihren Schatten in Richtung Küche verschwinden. Er zog seine Jacke aus, strich sein zerdrücktes Oberhemd glatt, fuhr sich mit den Fingern durch das überlange braune Haar, dann straffte er die Schultern und wartete. Schließlich öffnete sich der Vorhang wieder, und diesmal erschien ein kleiner Bilderrahmen an der Scheibe, und Alex sah, dass Sarah ihn mit diesem Foto verglich.

»Ich habe gut zwanzig Pfund abgenommen und mich seit drei Tagen nicht rasiert«, gab er zu bedenken. »Die Kratzer und Abschürfungen in meinem Gesicht müssen Sie sich wegdenken. Meine Augen, Sarah: Die sind dieselben. Und meine Nase und das Kinn«, sagte er und strich sich über sein Stoppelkinn. »Ich bin es, Alexander James Knight. Und tot bin ich bestimmt nicht.«

Der Vorhang schloss sich, der Schatten verschwand wieder, und Alex musste einige Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, abwarten, bis er das leise Klicken des Riegels vernahm. Er ging wieder zur Tür, öffnete die Fliegengittertür und drehte den Türknauf, um nun endlich einzutreten.

Sarah stand am anderen Ende der Küche nahe der Schwingtür in den geräumigen Salon. Ihre großen Rehaugen starrten ihn aus einem Porzellangesicht an, so weiß wie frisch gefallener Schnee. Noch immer hielt sie die Flinte in der Hand, nur war der Lauf nun nicht mehr auf ihn gerichtet, sondern auf den Boden. Und Alex wusste, dass er sich wirklich im Dschungel befand, im Fieber phantasierte und einen Traum hatte, der seine kühnsten Phantasien übertraf. Wenn das der Todesengel war, würde er ihm sogar in die Hölle folgen.

Sie war schön. Bildschön und von schier umwerfender Perfektion. Von ihrem langen, glänzenden, sonnenfarbenen Haar, das ihr Puppengesicht mit dem Porzellanteint umrahmte, bis zu ihrer zierlichen, aber wohlproportionierten Figur war die Frau der Inbegriff weiblicher Vollkommenheit.

Vermutlich hätte er etwas sagen sollen, anstatt sie nur wie ein schüchterner Halbwüchsiger anzustarren, doch Alex konnte um nichts in der Welt zu seiner Stimme finden. Einen wahnwitzigen, aber überaus phantasievollen Augenblick wünschte er sich, wirklich mit ihr verheiratet zu sein. Was hatte sein Vater sich eigentlich gedacht, als er diese geballte Ladung weiblicher Perfektion in das Haus dreier Junggesellen verpflanzte?

»Sie können die Flinte ruhig aus der Hand legen«, sagte er leise. »Sie hat keinen Schlagbolzen.« Er runzelte die Stirn. »Wissen Sie nicht, dass es der beste Weg ist, selbst erschossen zu werden, wenn man mit einer nutzlosen Flinte auf jemanden anlegt? Wäre ich wirklich ein Eindringling, hätte ich schließlich bewaffnet sein können.«

Er hätte es nicht für möglich gehalten, doch Sarah erbleichte noch mehr. Alex legte seine Jacke auf die Bank neben der Tür, strich sich mit einem Seufzer durchs Haar und trat in die Küche ein.

»Sarah«, sagte er, als sie zur Schwingtür zurückwich und diese öffnete. »Ich bin wirklich Alex Knight, Sie haben also nichts zu befürchten. Ich möchte nur eine ausgiebige heiße Dusche, eine Riesenportion von dem Gericht, das da auf dem Herd so köstlich duftet, und so lange schlafen, bis meine Kinder nach Hause kommen.«

»Die wissen nicht, dass Sie am Leben sind«, hauchte sie. Ohne den Blick von ihm zu wenden, lehnte sie das Gewehr an die Wand. Sie errötete, als sie die Hände an die Wangen hob. »Delaney und Tucker wissen nicht, dass Sie am Leben sind! Und Grady! O Gott, Sie müssen anrufen!« Sie stürzte zum Küchentisch und griff nach einem Blatt Papier, das sie ihm hinhielt. »Das ist das Hotel, in dem sie in Portland wohnen. Sie müssen sich melden und ihnen sagen, dass Sie nicht tot sind!«

Endlich hatte er etwas erreicht. Ihre Sorge um Delaney und Tucker hatte die Oberhand über ihren Schock gewonnen. Sie schob ihm das Mobiltelefon über den Tisch zu und warf den Zettel daneben auf die Tischplatte, als die Uhr am Herd zu surren begann.

»Rufen Sie an.« Sie stürzte plötzlich an den Herd und packte ein Paar Küchenhandschuhe. Dann stand sie gebeugt da, um etwas aus dem Backrohr zu holen – und Alex bewunderte den Anblick, der sich ihm bot, als plötzlich das Heulen einer Sirene die Luft durchschnitt. »Ach je!«, rief sie mit dem Apfelauflauf in den Händen aus und sah Alex erschrocken an.

Auch Alex drehte sich um, als der Dienstwagen des Sheriffs knapp vor der Veranda in einer Wolke von aufstiebendem Kies zum Stehen kam. John Tate war wie der Blitz aus dem Wagen, eine Hand auf dem Holster, den Blick auf die Fliegengittertür gerichtet.

»Heraus mit Ihnen, Mister!«, befahl John und zog seine Knarre. »Jetzt!«

Alex stieß mit der Zehe die Drahtgittertür auf, trat mit erhobenen Händen auf die Veranda heraus und lächelte seinem Freund zu.

»Sarah!«, rief John laut. »Sarah, wo sind Sie?«

»Sie holt gerade einen Auflauf aus dem Backrohr, John«, erklärte Alex. »Das ist nicht der Empfang, den ich erwartet hatte, lieber Freund.«

John richtete sich aus seiner drohenden Haltung auf und kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen, in dem sich der Staub reflektierte, der sich nur langsam legte. »Alex?«, flüsterte er ungläubig.

Alex nickte, hielt aber noch immer die Hände hoch. »Wie viele unserer Laster hast du von der Straße gedrängt?«, fragte er. »Du musst einen neuen Streckenrekord aufgestellt haben  – es sei denn, du warst wieder mal auf einem unserer alten Holzeinschläge auf der Jagd.«

»Alex?«, wiederholte John, ein wenig lauter diesmal, und senkte seine Schusswaffe. »Aber Grady hat gesagt, du bist tot.«

Alex ließ die Hände sinken und schüttelte den Kopf. »Beinahe. Aber es braucht mehr als ein paar hirnverbrannte Halsabschneider, um mich in die Ewigkeit zu befördern.« Er berührte die Schramme an seiner Stirn. »Der Dschungel hätte mich allerdings fast geschafft.«

John steckte seine Waffe in das Holster, machte einen Satz auf die Veranda und begrüßte Alex mit einer Umarmung, die einen Bären erstickt hätte. »Menschenskind, schön, dich wiederzusehen«, sagte er mit vor Rührung heiserer Stimme und verpasste Alex einen Klaps auf den Rücken. Plötzlich trat er einen Schritt zurück und schaute zur Küche hinüber. »Sarah?«, rief er und ließ den Blick wieder zu Alex wandern.

»Es geht ihr gut, wenngleich ich sie zu Tode erschreckt habe.« Alex grinste. »Na, hast du dich schon getraut, unsere Haushälterin auszuführen, Tate?« Alex legte John den Arm um die Schulter und führte ihn ins Haus. »Warte nicht zu lange, mein Freund, sonst komme ich dir noch zuvor«, setzte er leise hinzu, als sie die Küche betraten. »Sarah, war das ein Apfelauflauf, den Sie da vorhin aus dem Backrohr gezogen haben?«

Doch bevor Sarah noch antworten konnte, stellte sich John zwischen die beiden und sah Alex mit ratloser Miene an. »Alles in Ordnung, Sarah?«, fragte er, ohne sie anzusehen. »Die Einsatzleitung sagte, Sie hätten ziemlich erschrocken geklungen, weil jemand versucht hat einzubrechen.«

»Alles in Ordnung, Officer Tate«, erwiderte sie, ging an den Schrank und holte zwei Teller heraus. »Ich hatte Mr. … ehm … Mr. Alex zunächst nicht erkannt.« Sie holte zwei Gabeln aus einer Lade, legte sie auf die Theke und machte sich dran, den Auflauf in Stücke zu schneiden. »Er ist noch heiß und zerfällt beinahe«, warnte sie mit dem Rücken zu ihnen, wobei ihr langes blondes Haar ihr Gesicht verbarg.

Zum Teufel, was war hier los? Officer Tate? Versuchte Sarah so zu tun, als liefe zwischen ihr und John nichts? »Setz dich, John«, sagte Alex, zog einen Stuhl heran und nahm Platz, um dann mit dem Fuß einen zweiten Stuhl für seinen Freund zurechtzurücken. »Und erzähl mir, wie viele Leute zu meiner Beerdigung gekommen sind.« Er lächelte arglos. »Es wurde doch wohl ein Gottesdienst abgehalten?«

Sein alter Schulfreund erbleichte und schüttelte langsam den Kopf. »Grady hat ihn für nächsten Mittwoch anberaumt.«

Alex schob den Stuhl ein Stück weiter vor und bedeutete John, er möge sich setzen. »Gut«, sagte er. »Dann werde ich ihn ja nicht verpassen. Meinst du, Clay Porter kommt?«

Endlich setzte John sich mit einem erleichterten Lächeln. »Porter wird der Erste sein, der kommt – und er wird erst gehen, nachdem er auf dein Grab gespuckt hat.«

Sarah brachte zwei gehäufte Teller mit Auflauf, stellte sie vor die Männer und lief dann zurück zum Herd, als ein zweiter Summer auf der Theke ertönte. Sie schaltete ihn aus, öffnete das Backrohr mit den Handschuhen und zog von der untersten Schiene eine große Pfanne mit Deckel – und diesmal erfreuten sich beide Männer an dem Anblick, was Alex natürlich nicht entging.

Doch der Geruch, der seine Nase kitzelte, überwältigte ihn schließlich, und Alex griff nach seiner Gabel und senkte den Blick auf seinen Teller. Gott war sein Zeuge: Er hatte nicht gewusst, dass so viele Äpfel in einen Auflauf passten. Ohne Rücksicht auf Manieren stieß Alex seine Gabel mitten hinein, beugte sich vor, um seiner Hand auf halbem Weg entgegenzukommen, und schaufelte sich den triefenden, mit einer Kruste überzogenen Apfel in den Mund. Er hatte noch nicht fertig gekaut, als er den Vorgang wiederholte. Erst nach der dritten Ladung bemerkte er, dass John ihn anstarrte.

»Seit fünf Monaten habe ich keinen Apfelauflauf mehr bekommen«, verteidigte sich Alex, mit vollen Backen kauend. Er klopfte mit der freien Hand auf seinen Bauch. »Und ich muss mir zwanzig Pfund anfuttern.«

»Wo hast du die letzten sechs Tage gesteckt?«, fragte John. »Grady sagte, deine Baustelle sei letzten Donnerstag von Rebellen überfallen worden und du wärst getötet worden.«

»Vor dreizehn Tagen«, berichtigte Alex ihn, nachdem er geschluckt hatte. »Sie haben vor dreizehn Tagen angegriffen, und die nächsten elf Tage habe ich damit zugebracht, wieder in die Zivilisation zu gelangen, ohne gefangen genommen oder von wilden Tieren im Dschungel aufgefressen zu werden.«

»Dreizehn Tage?«, wiederholte John und warf über die Schulter einen Blick auf Sarah, deren Rücken sich ganz offensichtlich anspannte.

Was ging hier vor? John benahm sich verwirrter als ein Teenager im Bordell.

Plötzlich durchzuckte Alex ein Anflug von Angst, so dass der Auflauf ihm plötzlich wie Blei im Magen lag. »Sarah?«, sagte er und wartete, dass sie ihn anschaute. »Wieso haben Sie gesagt, dass Sie Mrs. Knight heißen, als ich gekommen bin? Hat Grady Ihnen geraten, sich vor Fremden so zu nennen, um mehr Sicherheit zu haben, wenn Sie alleine sind?«

Ihre großen braunen Augen starrten ihn nur an.

»Sie ist Mrs. Knight«, warf John ein und lenkte damit Alex’ Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Ihr seid vorige Woche am Montag getraut worden.«

»Vor einer Woche am Montag bin ich um mein Leben gerannt.«

»Per Ferntrauung«, erläuterte John. »Grady ließ im Städtchen verlauten, dass Richter Rogers dich und Sarah in seinen Amtsräumen getraut hätte – an dem Tag, als Sarah Delaney und Tucker adoptiert hat.«

»Sie hat was?« Alex schnellte hoch, so dass sein Stuhl über den Boden schlitterte, als er sich zu Sarah umdrehte.

Auch John stand auf und befand sich nun wieder zwischen den beiden. Sein Ausdruck war nun noch verwirrter. Plötzlich kniff er die Augen zusammen. »Du wusstest nichts davon«, flüsterte er und sah über die Schulter hinweg Sarah an, die nun an die Theke gedrückt dastand, die Hände in der Schürze verkrampft, die Augen so groß wie Silberdollars. Dann blickte John wieder Alex an. »Dieser gerissene alte Bastard«, sagte er mit einem Kopfschütteln. »Grady hat überall herumerzählt, dass du Sarah vergangenes Frühjahr kennengelernt hättest, als du auf Crag Island eine Bleibe für die Sommerferien gesucht hast. Und dass du nicht bis nach deiner Rückkehr aus Brasilien warten wolltest und sie letzten Montag per Ferntrauung geheiratet hättest.«

»Ich habe letztes Frühjahr zwei Wochen in Brasilien verbracht und habe diese verdammte Baustelle besichtigt«, erklärte Alex ruhig und warf Sarah einen finsteren Blick zu, ehe er sich wieder John zuwandte. »Ich hatte von Crag Island nie etwas gehört, bis ich irgendwann von Dad erfuhr, dass die Familie dort den Sommer verbringen sollte.«

John rieb sich den Nacken und zog die Stirn kraus. »Er muss versucht haben, Delaney und Tucker zu schützen«, dachte er laut nach. »Du sagtest, er hätte von deinem Tod am Samstag erfahren?«, fragte John, und Alex nickte. »Er hat also nichts verlauten lassen, bis Sarah dann schließlich mit dir verheiratet war, damit sie die Kinder adoptieren konnte. Dann hat er noch drei Tage abgewartet, bis er deinen Tod bekanntgab.«

»Er wollte die Kinder schützen? Ja wovor denn? Ich habe vor meiner Abreise ein Testament gemacht und Ethan zum Vormund meiner Kinder bestimmt, falls mir etwas zustoßen sollte.«

John legte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Vielleicht um sie vor deinen Schwiegereltern zu schützen?«, verlieh er seiner Vermutung Ausdruck. »Wir alle wissen, dass Charlottes Eltern dein Testament angefochten hätten, um sich die Kinder zu sichern. Sie haben ja bereits nach Charlottes Tod versucht, die Vormundschaft zu erkämpfen. Grady muss Rogers überredet haben, die Papiere zu frisieren, um dich mit Sarah verheiraten zu können, bevor die Nachricht von deinem Ableben bekannt wurde. Auf diese Weise verringerte er die Chancen deiner Schwiegereltern bei einem Streit um die Vormundschaft.«

Beide Männer sahen Sarah an, die ihre Hände auf den Magen drückte und vor Angst leichenblass geworden war.

»Mr. Tate, das dürfen Sie niemandem sagen«, gab sie gepresst von sich, während ihr Blick zwischen Alex und John hin und her wanderte. »Wenn die Wahrheit herauskommt, wird Grady große Schwierigkeiten bekommen, weil er die Papiere manipuliert hat. Und Richter Rogers müsste von seinem Amt zurücktreten.« Sie kam näher heran und schaute Alex in die Augen. »Wir dachten, Sie wären tot, und Sheriff Tate hat ganz recht. Grady befürchtete, die Eltern Ihrer verstorbenen Frau würden Ansprüche auf die Kinder erheben. Er wollte Delaney und Tucker weitere Aufregungen ersparen.«

»Und deshalb hat er Sie gedrängt, mich zu heiraten und dann die Kinder zu adoptieren?«, flüsterte Alex, der seinen Ohren nicht trauen wollte. Die Schrecken des Dschungels waren nichts gemessen an dem Schlamassel, in das er nun geraten war.

Sein Vater sowie ihr guter Freund, Richter Elroy Rogers, ganz zu schweigen von ihrer mitschuldigen Haushälterin, würden vor Gericht landen, wenn er bei dieser wahnwitzigen, wenn auch erstaunlich gut ausgeklügelten Verschwörung nicht mitmachte. Und seine Kinder würden ein noch größeres Trauma durchstehen müssen.

»Grady war verzweifelt«, erklärte Sarah, wobei sie noch einen Schritt näher herantrat. »Er dachte dabei nur an die Kinder.«

»Und Sie?«, fragte Alex ganz leise, da seine aus Verzweiflung geborene Wut ihm die Brust einschnürte. »Haben Sie an meine Kinder gedacht, Sarah? Oder schwebte Ihnen eher eine angenehme Zukunft als meine Witwe vor?«

»Das ist unnötig, Alex«, schaltete sich John ein. »Sie ist ja nicht Charlotte.«

Alex drehte sich zu John um. »Nein? Aber wer ist sie denn eigentlich?«

»Deine Frau«, stieß John hervor. Er steckte die Daumen in seinen Gürtel und erwiderte den finsteren Blick seines Freundes. »Zumindest bis Grady wieder da ist und entscheiden kann, was man in dieser … dieser …« Johns Kampfgeist brach zusammen. Er warf Alex einen letzten ratlosen Blick zu, ehe er sich an Sarah wendete. »Ich werde niemandem gegenüber ein Wort verlauten lassen, das verspreche ich. In meinen Augen ist das eine persönliche Angelegenheit, die außerhalb der Familie keinen etwas angeht.«

»Danke«, sagte sie mit einem Nicken und drehte sich wieder zur Küchentheke um. »Ich gehe joggen«, erklärte sie plötzlich und nahm schon im Gehen die Schürze ab. Den Kopf hielt sie gesenkt, so dass ihr das Haar ins Gesicht fiel und es verdeckte, als sie an John und Alex vorüber hinaus auf die Veranda und weiter in den Hof stürmte.

Beide Männer blieben stumm zurück und starrten durch die Fliegengittertür, als diese zuknallte.

John pfiff leise durch die Zähne und sah Alex mit einem Achselzucken an. »Tja, mein Freund«, sagte er mit einem dümmlichen Grinsen. »Es freut mich, dass du wohlbehalten wieder zu Hause bist, wenn ich auch nicht weiß, ob ich dich beneiden oder bemitleiden soll.«

Alex ging an die Tür, um Sarah nachzublicken, die auf einem schmalen Pfad in den Wald lief. »Ich weiß es auch nicht, Tate. Verdammt, was für ein Schlamassel hat Dad mir da eingebrockt?«, fragte er und starrte zu der Stelle hinüber, wo seine Frau gerade verschwunden war.