12
Als Alex in den neuen Forstweg einbog, nahm er sich vor, an Sarahs Weihnachtsgeschenk ein paar Veränderungen vorzunehmen. In Fortsetzung der Fahrstunde erklärte er ihr, dass er wegen der zwei Handbreit Neuschnee, die noch nicht geräumt worden waren, nun den Allradantrieb einschalten müsse. Obwohl sie sich recht wacker gehalten hatte, war sie noch weit davon entfernt, das Gaspedal zu beherrschen. Das Anfahren war problemlos, weil sie den Drehzahlmesser exakt auf eintausendfünfhundert Umdrehungen hielt, kaum schaute sie jedoch auf die Straße, da gab sie auch schon immer mehr Gas, als ob sie etwas oder jemanden einholen müsste.
Vielleicht das Leben? Hatte Sarah das Gefühl, sie müsse dem Leben nachsetzen, bevor sie auf der Strecke blieb? Nach allem, was sie ihm von ihrer Kindheit und Jugend auf Crag Island erzählt hatte, konnte er Sarahs Fernsehsucht gut verstehen. Nahezu alles, was sie von der wirklichen Welt wusste, hatte Sarah vom Fernsehen oder aus ihrer Lektüre bezogen. Alex fand es beunruhigend, dass Sarahs Wahrnehmung vom Leben von Ratgeber-Sendungen und idealisierten Romanhelden geprägt wurde. Das Schlimmste jedoch war, dass sie tatsächlich zu wissen glaubte, wie es auf der Welt zuging.
Da war ja Delaney noch weniger naiv als Sarah, besonders im Hinblick auf Männer. Seine in einem absoluten Männerhaushalt aufwachsende Tochter kannte die guten, schlechten und hässlichen Seiten wirklicher Männer. Sarahs Erfahrung beschränkte sich hingegen auf eine Parade von Sexprotzen, einen Tyrannen von Ehemann sowie einen Vater, der nach dem Tod seiner Frau jeden Lebenswillen verloren hatte.
Aus diesem arg engen Blickwinkel hatte Sarah offenbar geschlossen, wahre Helden existierten nur in Büchern und im Fernsehen, und die Suche nach einem solchen Exemplar sei reine Zeitverschwendung.
Alex hielt den Wagen an und schaltete den Motor aus, als die Straße zu einem murmelnden Bach gelangte. »Hat aus der Schar deiner Anbeter jemals einer etwas von Liebe verlauten lassen, Sarah?«, fragte er in dem Moment, als sie die Tür öffnen wollte.
Sie hielt mit der Hand am Türgriff inne. »Was?« Sie sah ihn verwirrt und mit kraus gezogener Stirn an. »Liebe? Was meinst du damit?«
»Genau das eben. Hat einer von ihnen jemals gesagt, dass er dich liebt?«
»Aber sicher«, antwortete sie geringschätzig. »Einige schon. Gibt es eine bessere Methode, ein Mädchen ins Bett zu kriegen, als eine Liebeserklärung?«
»Im Lauf der Jahre haben dir also einige Männer erklärt, dass sie dich lieben, und du hast ihnen nicht geglaubt.«
Sie öffnete ihre Tür und schlüpfte hinaus. »Sie haben bloß meinen Körper geliebt. Was bringt dich darauf?«
Alex zuckte die Schultern und öffnete die Tür auf seiner Seite. »Eigentlich nichts.« Er stieg aus. »Mir ist etwas eingefallen, das Delaney neulich zu mir gesagt hat.«
»Und was war das?«
»In der Schule sei ein Junge, der sage, dass er sie liebe.«
»Kurz bevor er sie zu küssen versuchte, möchte ich wetten«, murmelte Sarah. »Ich werde mit ihr reden.«
»Schon erledigt«, erklärte Alex und hob die Hand, um ihrer wachsenden Besorgnis Einhalt zu gebieten. »Es würde sie in Verlegenheit bringen, wenn sie erführe, dass du von dem Jungen weißt.«
»Aber warum? Das ist Mädchenkram.«
»Nein, das ist Vater-Tochter-Kram«, gab Alex lachend zurück, langte in den Laderaum und holte seine Vermessungsinstrumente hervor. »Sie hat mich gefragt, weil ich ein Junge bin, falls dir das entgangen sein sollte. Delaney wollte wissen, ob ein tüchtiger Schubs sein Werben beenden oder ihn eher ermutigen würde.«
»Und was hast du geantwortet?«
Alex blinzelte ihr zu. »Ich habe die Wahrheit gesagt: dass Männer die Herausforderung lieben.«
Sarah starrte ihn verblüfft an, griff dann plötzlich in den Laderaum und holte die Messlatte hervor, die mindestens einen halben Meter größer war als sie. Alex fürchtete einen Moment, sie würde ihm damit einen Schlag versetzen, doch sie drehte sich um und marschierte auf den Bach zu.
Schmunzelnd stellte er sein Stativ auf und befestigte den Theodoliten daran. »Vorsicht im Wasser!«, rief er ihr zu. »Die Steine sind vereist.«
»Seit meinem dritten Lebensjahr klettere ich schon auf vereisten Steinen herum«, rief sie ihm scharf über die Schulter zu und stützte sich im Wasser auf die Messlatte. Alex sah zu, wie sie vorsichtig ans andere Ufer watete, wo sie stehen blieb und sich zu ihm umdrehte. »Was jetzt?«
»Halte Ausschau nach einem orangegelben Band an einem Baum ein Stück weiter die Straße hinauf.« Er packte sein Stativ und trug es zu einem flachen Stein am Ufer, den er als Bezugspunkt wählte. »Wenn du das Band gefunden hast, schaufle den Schnee darunter weg. Du findest dann einen Metallstab, der in der Erde steckt.«
Sie suchte beide Seiten des Straßengrabens ab, als sie langsam den sanft ansteigenden Weg entlangging. Sie war etwa dreißig Meter weit gekommen, als sie stehen blieb, auf die rechte Seite des Weges ging und anfing, den Schnee mit ihren Stiefeln wegzuscharren.
»Gefunden«, rief sie ihm zu. »Und was jetzt?«
Alex blickte durch die Linse des Theodoliten. »Platziere das untere Ende deiner Latte auf dem Boden neben dem Stab«, rief er ihr zu. Er richtete sich auf und winkte, indem er mit seinen Händen eine Kreisbewegung vollführte. »Das andere Ende, Sonnenschein. Die Ziffern stehen auf dem Kopf.«
Sie sah jäh auf, erstaunt über den Kosenamen, dann drehte sie die Latte um und hielt sie neben den Stock. »So. Jetzt steckt sie fest.«
Alex vermerkte die Ziffer im Visier seines Theodoliten, dann richtete er sich auf. »Geh den Weg zweihundert Meter weiter und such das nächste orangefarbene Band mit dem Stab darunter, dann wiederholst du den Vorgang.«
»Das ist alles? Ich soll nur die Latte halten? Das hätte auch Tucker nach der Schule für dich machen können«, sagte sie, als sie durch den lockeren Schnee weiterstapfte. »Was bedeutet ein grünes Band an einem Baum?«, rief sie, als sie sich umdrehte und zurückging.
»Grün?«
Sie blieb stehen und deutete darauf. »Dort ist ein grünes Band um einen Ast geschlungen. Steckt darunter ein Stab in der Erde?«
»Grüne Bänder verwenden wir nicht. Das ist ein Nadelwald; da würden wir grüne Markierungen niemals sehen.«
Sie zuckte die Schultern und ging weiter, blieb wieder stehen, ging zu einem Baum auf der anderen Seite und berührte einen Ast. Alex blickte durch die Linse und stellte den Fokus so ein, damit er deutlich erkennen konnte, was sie berührte. Nachdenklich richtete er sich auf. Kein Mensch verwendete grüne Markierungen in einem immergrünen Nadelwald.
»Du musst den Schnee unter dem Band wegscharren«, rief er. Wieder blickte er durch den Theodoliten und stellte die Linse so ein, dass er ihre Füße ausmachen konnte.
»Da ist nichts«, rief sie zurück. »Aber hier scheint ein Pfad in den Wald hineinzuführen.« Sie warf einen Blick auf die andere Markierung, dann wieder in Richtung Wald. »Er kreuzt den Weg gleich …«
Sarah ließ die Latte mit einem erschrockenen Aufschrei fallen und rannte auf Alex zu. »Dort ist etwas!«, rief sie, als sie mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen durch den Bach watete, ohne langsamer zu werden.
Auf den Aufprall gefasst, fing Alex Sarah auf, als sie aus dem Wasser hechtete. Sofort drückte er sie an sich und setzte sie am Wegesrand unter einen großen Baum. Ehe er sich neben ihr niederlassen konnte, kroch sie weiter hinter den Baum und zog ihn zu sich herunter. Mit einem erschrockenen »Uff« landete er auf dem Boden, und Sarah schlang ihre Arme so fest um ihn, dass er seine schmerzenden Rippen spürte.
Trotz seiner Malaisen grinste Alex, nicht gewillt, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, seine Frau in den Armen zu halten. Sein Lächeln wurde breiter, als er einen großen Elchbullen genau an der Stelle aus dem Wald treten sah, wo Sarah gestanden hatte.
»Ganz ruhig, du bist hier sicher«, flüsterte er in ihr Haar, als er den Elch erkannte. »Ich lasse nicht zu, dass dir etwas zustößt.«
Sie drehte sich um und versuchte, einen Blick auf den Weg zu werfen, doch er verstärkte seine Umarmung, als er sah, dass dieses wahrhaftig majestätische Tier über den Bach zu ihrem Wagen blickte. Alex stieß einen kaum hörbaren kehligen Laut aus.
Der Elch, dessen Geweih eine Spannweite von ein Meter fünfzig hatte, spitzte die Ohren und richtete seine großen braunen Augen auf den Baum, hinter dem sie sich versteckten. »Pst«, flüsterte Alex in Sarahs Haar. »Kein Geräusch.«
Nun stieß der Bulle ein leises Grunzen aus und schritt auf den Bach zu. Seine großen runden Nüstern blähten sich, als er versuchte, ihre Witterung aufzunehmen. Alex wartete, bis das Tier ins Wasser ging, dann drehte er Sarah langsam um, ohne sie loszulassen, und flüsterte: »Die Brunftzeit ist eigentlich schon vorbei, dieser Prachtkerl aber macht sich noch Hoffnungen. Hast du je so ein Prachtexemplar wie ihn gesehen, Sarah?«
Sie atmete tief durch und versuchte, sich an ihn gedrückt noch kleiner zu machen. »Warum kommt er auf uns zu?«, hauchte sie.
»Weil er glaubt, er hätte eben eine Elchdame gehört.«
»Du … du hast ihn gerufen?«, quiekste sie. »Das war dein Grunzen? Aber warum?«, flüsterte sie drängend und versuchte, zu Alex aufzublicken, ohne den Elch aus den Augen zu lassen.
Der Elch blieb vor ihrem Wagen stehen und machte sich daran, das Streusalz von den Stoßdämpfern zu lecken. Alex ließ wieder ein leises Grunzen hören, worauf das Tier den mächtigen Schädel hob, ihren Standpunkt ins Visier nahm und ein paar Schritte auf sie zuging.
Wieder quiekste Sarah erschrocken. Alex richtete sich mit ihr in den Armen auf und zog sich zurück, so dass der Baum zwischen ihnen und dem nicht einmal zehn Meter entfernten, sie neugierig beäugenden Elch stand. Das große Tier war nun so nahe, dass sie seinen Atem hörten. Alex konnte daneben auch Sarahs Herzklopfen vernehmen.
»Sarah, darf ich dir Thumper vorstellen«, raunte er ihr ins Ohr. »Tucker hat ihn so getauft. Vor etwa drei Jahren hat uns Thumper als Halbwüchsiger von zweieinhalb Jahren zu Hause einen Besuch abgestattet. Er blieb fast eine Woche und schlug sich den Schädel an einem der Skidder im Hof an, deshalb nannte Tucker ihn dann Thumper.«
»Wie kommt es, dass er nicht flüchtet, wenn er dich hört?«
»Obwohl er jetzt schon fünf ist, scheint er nicht klüger geworden zu sein, höchstens frecher.«
»Wird er uns angreifen?«
»Kann sein«, neckte Alex sie. »Aus Enttäuschung, wenn er merkt, dass wir nicht die Elchdame sind, die er zu hören glaubte.«
Wieder atmete Sarah tief durch.
»Aber andererseits«, fuhr Alex fort, bemüht, seine Erheiterung nicht durchklingen zu lassen, »könnte er auch feststellen, dass eine hübsche kleine Blondine mit großen braunen Augen noch attraktiver ist.«
Sarah neigte sich nach rechts, um mehr vom Baum zwischen sich und den Elch zu bringen. Er spürte, wie sie erleichtert aufatmete. »Er ist nicht mein Typ«, flüsterte sie und ließ das Tier keinen Moment aus den Augen.
»Nein? Er ist ein stattlicher Bursche im besten Mannesalter und gilt in diesem Revier unter den Elchdamen als gute Partie. Sieh ihn dir an«, sagte Alex und neigte sie beide wieder nach links. »Wenn er wieder grunzt, dann heißt das, dass er dich liebt.« Alex beugte sich nur so weit über Sarahs Schulter, dass sie ihn lächeln sehen konnte. »Wirst du ihm Glauben schenken?«
»So sehr, wie ich all den anderen Männern glaube«, flüsterte sie angespannt und sah ihn kurz an, ehe sie wieder zum Elch hinüberschaute. »Er ist auch nicht anders. Er will sich nur amüsieren, bis er sich dann sein nächstes Opfer sucht.«
Das Gift in Sarahs Ton traf Alex in seinem Innersten.
»Lauf los und such dir dein Mädchen, Thump!«, rief sie laut und schwenkte einen Arm. »Los jetzt!«
Der Elch hob mit erschrockenem Schnauben den Kopf, wich ein paar Schritte zurück, dann wendete er auf den Hinterläufen und trabte zum Bach, dass der Schnee hinter ihm aufstob.
Alex drehte Sarah zu sich. »Wer aus deiner berüchtigten Schar von Anbetern hat dir das Herz gebrochen?«, fragte er. Er drückte sie sanft, als sie nur stumm zu ihm aufblickte. »Was hat er dir angetan? Hat er gesagt, dass er dich liebt, ist er mit dir ins Bett gegangen, hat er von Heirat geredet? Nein«, sagte Alex, ehe sie etwas erwidern konnte. »Ins Bett hat er dich nicht gekriegt. Wie ging es also weiter? Was hat dich in letzter Minute abgehalten?«
Sarah seufzte tief. »Ich hatte schon die Koffer gepackt«, sagte sie leise. Die schmerzliche Erinnerung ließ sie erbleichen, als sie zu ihm aufschaute. »Ich war mit Roland nur zwei Jahre verheiratet, und James wohnte eine Woche in unserer Pension, als er mich mit seinem Angebot, mich nach Boston mitzunehmen, einfach überrumpelt hat.«
»Aber?«
»Aber ich hörte ihn am Tag unserer geplanten Abreise am Telefon im Wohnzimmer. Die letzte Fähre fuhr um sechs, deshalb hatte er mit dem Ehemann einer Freundin verabredet, er solle uns um Mitternacht aufs Festland bringen.«
»Aber?«, wiederholte Alex und zwang sich, seinen Griff zu lockern.
»Aber James sprach mit einem Freund in Boston und prahlte damit, dass er seinem Kumpel eine heiße kleine Überraschung aus Maine mitbringen würde.« Sarah blickte zu ihm auf. »James riet ihm, das Bettzeug zu wechseln und seinen Terminkalender für die nächsten zwei Wochen freizuhalten, denn Ablenkung würde er bestimmt keine brauchen. Und er solle sich nie wieder beklagen, dass James ihm nie Souvenirs mitbringe.«
Alex wich überrascht zurück, ohne Sarah loszulassen. »Dieser Mistkerl wollte dich seinem Freund mitbringen? Während er dich in dem Glauben ließ, du würdest mit ihm durchbrennen?«
Ihr Blick sagte alles. Alex zog sie an sich und schlang seine Arme so fest um sie, dass ihr Kopf an seine Brust gedrückt wurde. Du lieber Himmel, kein Wunder, dass sie Männern misstraute. Sie musste damals – wie alt? – vielleicht neunzehn gewesen sein. »Und seither hast du alle Männer im gleichen Licht gesehen?«
»So wie du der Meinung bist, dass alle Frauen wie Charlotte sind«, antwortete sie an seiner Brust. Ihr Körper war starr wie ein Stein. Sie packte ihn hinten an der Jacke und zog so fest daran, dass er sie ein wenig freigab, so dass sie zu ihm aufschauen konnte. »Oder willst du allen Ernstes behaupten, du hättest nicht sofort geglaubt, ich wäre so wie sie?«
»Nicht mehr, als du James in mir siehst.«
Sarah entspannte sich in seinen Armen und lächelte. »Heißt das, dass du nicht sagen wirst, dass du mich liebst?«, fragte sie mit einem gekonnten Augenaufschlag.
Alex ließ sie los und wich wie unter einem Hieb zurück. »Nicht um alles in der Welt, Lady«, erwiderte er schließlich. »Eher fällt ein Meter Schnee in der Hölle, als dass du diese Worte je von mir zu hören kriegst.«
Ihr Lächeln wurde selbstgefällig. »Dann grunze mal weiterhin Elche an«, riet sie ihm, ging um ihn herum und in Richtung Auto. »Weil du wie Thumper schließlich einem weiblichen Wesen begegnen wirst, das du mit deinem Charme bezaubern kannst.«
Alex stand da und starrte sie eine Weile an. Dann ging er an den Bach und durchwatete ihn ungeachtet des eisigen Wassers, das ihm in die Stiefel drang. Erbost stapfte er auf dem Waldweg weiter.
Zum Teufel, sie hatte es ihm wieder gezeigt. Diese raffinierte kleine Hexe hatte ihm einen kurzen Blick in ihr hübsches Köpfchen gewährt, nur um plötzlich ihr aufreizendes Lächeln mit voller Strahlkraft einzusetzen und ihn völlig zu entwaffnen.
Es war ein Abwehrmanöver, wie er plötzlich erkannte. Angriffslustiger Humor, der einen total überrumpelte, verstärkt durch ein entwaffnendes Lächeln war Sarahs Waffe der Wahl, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte. Hatte sie nicht an jenem ersten Morgen in ihrem Schlafzimmer versucht, die Situation zu retten, und vorgeschlagen, alles einfach zu vergessen? Und hatte sie nicht unvermittelt gelächelt und ruhig erklärt, dass die meisten Männer sie begehrten, als er sie unten am Steg geküsst hatte? Und am Whirlpool hatte sie ihn überrumpelt, indem sie sich plötzlich von einem in die Enge getriebenen Opfer in eine lächelnde Furie verwandelte.
Wurde die Situation irgendwie brenzlig, dann gab sich Sarah ihm gegenüber ganz weich und weiblich. Ja, sie wusste genau, welche Wirkung das unerwartete Lächeln einer umwerfend schönen Frau auf einen Mann hatte. Und sie wandte ihren nicht unbeträchtlichen Charme bedenkenlos und sehr geschickt an, um einen Mann zu entwaffnen. Hätte sie ihr Lächeln bei Thumper spielen lassen, würden sie jetzt wahrscheinlich auf der Flucht vor einem liebestollen Elch auf einem Baum hocken.
In Zukunft musste er vorsichtiger sein. Es galt, gewappnet zu sein, wenn die kleine Miss Strahlelächeln versuchte, den Spieß umzudrehen.
Alex hob die Messlatte auf, die sie hatte fallen lassen, und versuchte sich vorzustellen, wie Sarah sich gefühlt haben mochte, als sie merkte, dass sie nur als Urlaubsandenken für einen Freund gedacht war. Es musste verdammt schmerzlich gewesen sein und sie tief in der Seele getroffen haben; ähnlich wie er selbst sich nach Charlottes Eröffnung gefühlt hatte, ihre zwei Schwangerschaften seien reine Berechnung gewesen, ein Spieleinsatz, der sich dann doch nicht gelohnt hatte.
Ja. Ein lange anhaltender Schmerz.
Alex’ Blick wanderte den Pfad entlang bis zu der Stelle, wo der Elch aus dem Wald getreten war. Er stutzte. Anstelle der geknickten Äste eines stark frequentierten Wildwechsels bemerkte er an einigen Bäumen die Spuren einer Axt, wo die Äste abgehauen worden waren. Er folgte dem Pfad ein Stück und sah hinter einer Biegung, dass es bis zum Bergkamm so weiterging. Axtspuren kennzeichneten den Pfad, so weit das Auge reichte.
In dem Moment, als der Elch auf dem Weg erschienen war, waren die grünen Markierungen für ihn erledigt – gewiss hatte ein Jäger damit einen Wildwechsel markiert. Es war in Maine nicht ungewöhnlich, dass die Jagdführer sich über den Wild- und Elchbestand eines Gebietes einen Überblick verschafften. Solange seine Leute nicht in einem bestimmten Areal Holz einschlugen, stand das Knight-Land allen Jägern offen.
Aber kein Jäger ruinierte einen Wildwechsel, indem er ihn verbreiterte. Tatsächlich war man unter Jägern eher darauf bedacht, nicht in die Natur einzugreifen. Wer also hatte diesen Pfad markiert und verbreitert? Grady hätte dem hiesigen Schneemobil-Club nie die Erlaubnis erteilt, einen Pfad durch ein Gebiet zu ziehen, in dem sie später im Winter Bäume fällen wollten.
Just als die Sonne hinter einer Wolke verschwand, fuhr ein Windstoß durch die Baumwipfel und ließ Schnee in Alex’ Kragen rieseln. Ein ahnungsvoller Schauer lief ihm über den Rücken. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und lief zurück zur Straße. Dann watete er durch den Bach, holte sein Stativ und trug es auf der Schulter zum Geländewagen. Danach schraubte er den Theodoliten ab, legte diesen in sein schützendes Etui und verstaute alles im Laderaum.
Er stand da und starrte hinauf zum Whistler’s Mountain, der hoch über den Bäumen aufragte. Dann setzte er sich hinter das Lenkrad. Er wusste nicht, was ihm mehr Sorge bereitete: die Tatsache, dass Sarah ihn vielleicht immer als brünstigen Elchbullen betrachten würde, oder das beunruhigende Gefühl, dass etwas Gefährliches in seinen Wald eingedrungen war.