61
AM ZIEL
Jacob war schon in vielen verwunschenen Schlössern gewesen. Jede Tür konnte Gefahr bedeuten, jeder Flur in einer Falle enden. Treppen verschwanden. Wände öffneten sich. Aber nicht hier. Offene Türen, Säle, Höfe. Guismunds Schloss atmete ihn ein wie der Schlund eines Tieres, in dessen steinernen Eingeweiden die Vergangenheit wie ein unverdauliches Gift gärte.
Pferde scharrten in leeren Stallungen. Waffen klirrten auf verlassenen Höfen, über denen immer noch dunkle Wolken die Sterne verbargen. Kinderstimmen schallten ihm aus verlassenen Kammern entgegen. Unsichtbare Hunde knurrten ihn an. Und immer wieder hallten Schreie durch die finsteren Gänge und Säle. Angstschreie. Schmerzensschreie … Jacob glaubte, Guismunds Wahnsinn wie Schmutz auf der Haut zu spüren.
Er fand Räume, die bis zur Decke mit Schätzen gefüllt waren und Waffenkammern mit Rüstungen und so kostbaren Schwertern, dass jedes einzelne genug eingebracht hätte, um Valiants Burg zu renovieren, aber Jacob würdigte sie kaum eines Blicks. Wo war die Armbrust?
Er fragte sich, ob er besser einen der anderen Korridore genommen hätte, und blickte immer wieder auf die Kerze in seiner Hand, aber ihre Flamme brannte unbeirrt. Fuchs hatte ebenso wenig Glück wie er.
Du musst Dich beeilen, mein Freund.
Du hättest den Goyl erschießen sollen.
Er fuhr ein Dutzend Mal herum, weil er glaubte, Schritte hinter sich zu hören, aber alles, was ihm folgte, waren die Geister, die er geweckt hatte. Vielleicht war das Guismunds Zauber: dass sie endlos durch sein Schloss irren würden, bis sie sich in seiner Vergangenheit verloren hatten und selbst zu einem der Gespenster wurden, deren Stimmen sie verfolgten.
Eine weitere Tür.
Offen wie die anderen.
Der Saal dahinter schien einmal der Audienzsaal gewesen zu sein. Die Fliesen waren abgetreten von unzähligen Stiefeln und der Ruß längst verloschener Fackeln klebte auf dem verwitterten Putz. Jacob spürte Zorn wie beißenden Rauch, Verzweiflung, Hass. Die Stimmen flüsterten und raunten, gedämpft von Furcht.
Weiter, Jacob.
Die Tür am Ende des Saals trug Guismunds Wappen.
Er trat hindurch – und holte tief Atem.
Er war am Ziel.
Guismunds Thronsaal beschwor die Vergangenheit nicht durch Stimmen. Jacob hörte nur das Echo der eigenen Schritte in der Stille widerhallen, aber wie in der Gruft erweckten die Bilder auch hier Guismunds verlorene Welt an Wänden und Decke zum Leben. Schwärme von Irrlichtern lösten die Farben aus der Dunkelheit. Schlachtfelder, Schlösser, Riesen, Drachen, eine Armee von Zwergen, eine untergehende Flotte, die Stadt, die draußen zerfiel, mit Menschen gefüllt. Die Fresken waren mit solcher Meisterschaft gemalt, dass Jacob für ein paar Atemzüge vergaß, weshalb er gekommen war. Vor allem das Bild an der linken Wand ließ ihn innehalten. Eine Schar von Rittern preschte mit gezogenen Schwertern durch einen silbernen Torbogen. Die Waffenröcke, die sie trugen, waren weiß wie die von Guismunds Rittern, und das Emblem darauf war ebenfalls ein rotes Schwert, aber darüber prangte ein rotes Kreuz … Wo hatte er das schon gesehen? Die Schwertbrüder, Jacob. Ein Ritterorden seiner Welt, aufgelöst vor mehr als achthundert Jahren, nachdem er weite Teile Nordeuropas unsicher gemacht hatte … Jacob blickte auf den Torbogen. Er war mit silbernen Blüten bedeckt.
Jacob hatte sich immer gefragt, ob es nur einen Spiegel gab.
Offenbar war die Antwort Nein.
Er sah sich suchend um. In der Mitte des Saals stand ein Thron. Zu dem steinernen Sessel führte eine schmale Treppe hinauf. Goldpolster bedeckten Armstützen und Lehne und ein Abbild Guismunds starrte mit leeren Augen zu Jacob herüber. Aber sein Blick suchte nach einem Spiegel. Und da war er, am hintersten Ende des Saals. Er war riesig, fast doppelt so groß wie der im Zimmer seines Vaters. Das Glas war ebenso dunkel, aber die Blüten auf dem Rahmen waren keine Rosen, sondern Lilien, wie auf dem Torbogen an der Wand.
Ein Skelett stand daneben, mit einer goldenen Uhr in den knöchernen Händen. Zu Guismunds Zeiten hatte es in dieser Welt noch keine mechanischen Uhren gegeben. Aber in der anderen schon.
Jacob! Nur der Schmerz in seiner Brust erinnerte ihn daran, warum er hier war. Er kehrte dem Spiegel den Rücken und ging auf den Thron zu.
Die Statue, die darauf saß, trug den Hexermantel aus Katzenfellen, aber sie zeigte Guismund auch als Kriegerkönig. Der Helm, der das Gesicht umschloss, war wie der geöffnete Rachen eines Wolfes geformt. Unter dem Mantel sah man ein knielanges Kettenhemd und die weiße Tunika mit dem roten Schwert. Wie oft hatte Jacob den Silberreif gesehen, der es umgab, und sich nichts dabei gedacht. Jetzt konnte er nichts anderes als den Rahmen eines Spiegels darin sehen. Guismund saß breitbeinig da, wie ein Mann, der sich eine eigene Welt erobert hatte. Nachdem er aus einer anderen gekommen war.
Am Fuß der Treppe stand ein Schemel. Auf dem goldenen Polster lag eine Armbrust.
Jacob blies die Kerze aus.
Die Fliesen, über die er schritt, formten ein kreisrundes Mosaik, das Guismunds Wappen zeigte. Der Schemel mit der Armbrust stand gleich über dem Kopf des gekrönten Wolfs.
Jacob war nur noch ein paar Schritte von dem Schemel entfernt, als die Motte zubiss.
Er fiel auf die Knie. Sah, hörte, fühlte nichts außer dem Schmerz. Er ätzte ihm den letzten Buchstaben wie Säure aus der Erinnerung und die Dunkle Fee hatte ihren Namen zurück. Dann löste sich die Motte aus seiner Haut. Sie schälte den haarigen Leib aus seinem Fleisch wie aus einem blutigen Kokon und schlug mit den Flügeln. Jacob hörte den eigenen Schmerzensschrei durch den Thronsaal hallen und krümmte sich auf Guismunds Wappen, während die Motte davonflatterte, zurück zu ihrer Herrin, ihren Namen und sein Leben mit sich nehmend. Alles, was sie zurückließ, war ihr Abdruck aus rohem Fleisch, und er lag da und wartete darauf, dass ihm das Herz stehen blieb. Es stolperte und raste, als klammerte es sich an das letzte bisschen Leben, das sich noch in seinem Körper fand.
Steh auf, Jacob. Aber er wusste nicht, wie. Er wollte nur, dass der Schmerz endete, dass diese Jagd vorbei war. Dass Fuchs bei ihm war.
Steh auf, Jacob. Für sie.
Er spürte die kalten Fliesen durch die Kleider, auf der Haut, die taub vom Schmerz war.
Steh auf.