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DAS HERZ IM OSTEN

Am Ende waren sie trotz Troisclerqs Silber fünfzehn Tage unterwegs – und Jacob war mit jedem Tag sicherer, dass der Bastard das Herz längst gefunden hatte.

Nach seinem Zusammenbruch waren die anderen Reisenden nur widerstrebend zu ihm in die Kutsche gestiegen (in Bavaria und Austrien gingen die Pocken um), aber Troisclerq hatte sich demonstrativ neben ihn gesetzt. Ja, Jacob begann, ihn zu mögen. Troisclerq wusste ebenso viel über Pferde wie über die neuesten Waffen der Goyl und fand nichts dabei, stundenlang darüber zu diskutieren, ob Klingen aus Albion oder Katalonien besser waren. Sie teilten die Leidenschaft fürs Fechten, aber Troisclerq zog, im Gegensatz zu Jacob, den Degen dem Säbel vor. Die anderen Passagiere verfluchten sie sicher für die endlosen Diskussionen, in denen sie Stunden darüber stritten, ob die schmutzigste Fechtfinte ein inquarto oder eine sparita de vita war.

Draußen zogen dunkle Täler vorbei und Seen, in denen sich Schlösser auf verschneiten Gipfeln spiegelten. In einem von ihnen hatte Jacob den Gläsernen Schuh gefunden, der ihm einen Orden der Kaiserin eingebracht hatte, und irgendwann sahen sie in der Ferne den Wald, in dem er einer Bande von Wegelagerern ein Paar Siebenmeilenstiefel für einen der Wolfsfürsten im Osten gestohlen hatte. Es konnte nicht alles vorbei sein, noch nicht. Aber die Kaiserin verbrachte dank ihm ihre Tage in einer unterirdischen Festung, der Wald war nur noch halb so groß, seit in dem Tal dahinter mit seinem Holz Stahl geschmolzen wurde, und in Vena regierten die Goyl. Alles ging vorbei, selbst hinter dem Spiegel.

Die zwei Gouvernanten erröteten über einen Scherz von Troisclerq, und Jacob blickte aus dem Fenster, um sich davon abzulenken, dass auch Fuchs seinen Retter mit wachsendem Wohlgefallen musterte. Zu ihrer Linken floss die Duna träge durch überschwemmte Wiesen und am Horizont tauchten die Türme von Vena auf.

»Jacob?« Troisclerq legte ihm die Hand aufs Knie. »Celeste hat mich gefragt, ob ich weiß, wo Louis von Lothringen gewöhnlich absteigt, wenn er nach Vena kommt.«

Celeste. Es klang seltsam, ihren wirklichen Namen aus dem Mund eines anderen zu hören. Jacob selbst hatte ihn erst vor ein paar Monaten von Fuchs erfahren.

»Ich nehme an, dass Louis bei seinem Vetter wohnen wird«, fuhr Troisclerq fort. »Ich kenne ihn recht gut. Wenn du willst, sorge ich dafür, dass er euch empfängt.«

»Sicher. Danke.«

Celeste …

Der Kutscher zügelte die Pferde. Die Straße war überschwemmt. Das Schmelzwasser aus den Bergen ließ die Flüsse über die Ufer treten. In der Spiegelwelt suchten sie sich noch ihr eigenes Bett. Jedes Jahr versanken ganze Dörfer in den Fluten, aber Jacob liebte den Anblick der schilfgesäumten Ufer, der zahllosen Flussarme und bewaldeten Inseln, die sich im träge dahinfließenden Wasser spiegelten. Die Flüsse hinter dem Spiegel beherbergten nicht nur Nixen und Schlammgnome, sondern auch Schätze, die schon so manchen zerlumpten Fischer reich gemacht hatten.

Celeste …

Der Kutscher nahm dieselbe Brücke über den Fluss, auf der die Goyl die Stadt nach der Blutigen Hochzeit verlassen hatten. Vena hatte sich ihnen fast kampflos ergeben, nachdem die Tochter der Kaiserin öffentlich verkündet hatte, dass ihre Mutter alle Schuld am Blutbad in der Kirche traf. Die Goyl waren nicht grausamer als andere Besatzer, aber für Jacob war es ein alles andere als gutes Gefühl, an Häusern mit zugemauerten Fenstern und grauen Uniformen vorbeizufahren und sich zu fragen, ob es all das ohne ihn je gegeben hätte.

Die Postkutschen hielten immer noch hinter dem Bahnhof, obwohl die Pferde beim Lärm der einfahrenden Züge leicht scheuten. Vielleicht wollten ihre Betreiber die Zukunft nicht kampflos den Eisenkutschen überlassen, aber sie hatten längst verloren. Gleich neben dem Bahnhof hatten die Goyl einen Zugang zu den Katakomben der Stadt gebaut, die sie als Wohnquartiere nutzten. Die anderen Passagiere musterten die Soldaten, die den Einstieg bewachten, mit der kaum verborgenen Abscheu, die die steinernen Gesichter immer noch bei den meisten Menschen auslöste. Kami’ens Ehe hatte daran nichts geändert.

An den Bahnhofsmauern klebten Dutzende von Steckbriefen. Es gab Anarchistengruppen in Vena, die zum Widerstand gegen die neue Kaiserin aufriefen, zu Anschlägen auf ihre Minister, auf Militär- und Polizeistationen und auf Wohnquartiere der Goyl. Fuchs warf einen besorgten Blick auf die Plakate, aber Jacob konnte weder sein eigenes noch Wills Gesicht entdecken. Was immer die Dunkle Fee ihrem Geliebten erzählt hatte, Kami’en ließ nicht nach dem Jadegoyl suchen. Und wenn du erst tot bist, Jacob, wird niemand je erfahren, wohin er verschwunden ist. Vielleicht war das genau das Ende, das die Dunkle Fee sich wünschte …

Unter den Bäumen, die auf der anderen Seite des Bahnhofsplatzes wuchsen, warteten ein paar Droschken.

»Such du das Herz!«, flüsterte Fuchs, als Jacob einem der Kutscher winkte. »Ich lass mir von Troisclerq zeigen, wo Louis’ Vetter wohnt, und finde heraus, ob der Bastard dort ist.«

Der Plan gefiel ihm ganz und gar nicht. Der Goyl war gefährlich. Aber Fuchs legte ihm die Hand auf den Mund, als er protestieren wollte. »Lass uns nicht noch mehr Zeit verlieren«, raunte sie ihm zu. »Bitte. Ich pass auf, dass er mich nicht sieht.«

Hinter ihnen verabschiedete Troisclerq sich von den anderen Passagieren. Fuchs blickte zu ihm hinüber. Jacob versuchte, den Stich, den ihm das gab, zu ignorieren.

»Gut. Nimm du die Droschke. Ich geh zu Fuß«, sagte er. Fünfzehn Tage auf einer Kutschbank waren mehr als genug. »Wir treffen uns im Hotel.«

Es klang kühler als beabsichtigt. Was soll das, Jacob? Fuchs’ Blick fragte dasselbe.

Troisclerq kaufte einer der Blumenverkäuferinnen, die vor dem Bahnhof standen, einen Strauß Narzissen ab. Er brach eine der Blüten ab und steckte sie Fuchs ans Kleid.

»Bist du in Ordnung?« Er legte Jacob den Arm um die Schulter. »Ich kenne einen guten Arzt in Vena. Vielleicht solltest du dich untersuchen lassen?«

»Nein, es geht mir gut.« Jacob winkte den Droschkenkutscher näher.

»Du wirst das Herz finden!«, flüsterte Fuchs ihm zu. »Ich weiß es.«

Troisclerq öffnete ihr die Droschkentür.

Fuchs raffte das Kleid. »Telegrafierst du Chanute wegen des Geldes?«

»Sicher.«

Sie lächelte Jacob noch einmal zu und stieg in die Droschke.

Troisclerq blickte zwei Frauen nach, die vorbeigingen. Sie erwiderten seinen Blick. Die eine errötete.

»Es gibt viele schöne Frauen«, raunte Troisclerq Jacob zu, »aber einige sind mehr als das. So viel mehr.« Er trat zu der Droschke und warf dem Kutscher seine Tasche zu. »Ich reise heute noch weiter«, sagte er zu Jacob, »aber ich bin sicher, wir sehen uns wieder.«

Dann stieg er zu Fuchs in die Droschke.

Celeste … Jacob nannte sie lieber Fuchs.

Er sah der Droschke nach, bis sie hinter einer Straßenbahn verschwunden war. Du wirst das Herz finden. Er blickte sich um. Wohin zuerst, Jacob? In das Staatsarchiv, das ein Verzeichnis aller Schätze Austriens hatte? Zum Mausoleum, in dem Guismunds Tochter zwischen ihren kaiserlichen Nachfahren lag? Er versuchte, sich an die Wut zu erinnern, die er im Wald gehabt hatte, die Lust, es dem Bastard heimzuzahlen … Aber er fühlte nichts. Als fräße die Motte tatsächlich sein Herz.