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SPINNENBERICHT

Kutschen und Rennpferde. Charles, König von Lothringen, sammelte sie ebenso wie die Porträts von Schauspielerinnen. Die Kutsche, in der Nerron saß, war mit den Landesfarben Lothringens lackiert und hatte diamantenbesetzte Türen. Der Krumme hatte einen deutlich besseren Geschmack bei der Wahl seiner Anzüge. Nerron hatte lange nach einem Ort gesucht, der weder von Spionen des Königs noch von denen der Onyx beobachtet wurde, denn was er herausfinden wollte, ging keinen von beiden etwas an.

Wo steckte Jacob Reckless? Der kleine Streich mit der Tür hatte ihn bestimmt nicht lange in der Gruft festgehalten. Erste goldene Regel der Schatzjagd (und des Lebens im Allgemeinen): Unterschätz niemals die Fähigkeiten deines Gegners.

Also – wo war er?

Das Medaillon, das Nerron unter dem Echsenhemd hervorzog, war eines seiner kostbarsten Besitztümer. Die Spinne, die herauskroch, hatte er an seinem fünften Geburtstag gestohlen – und sich damit das Leben gerettet. Die Onyx luden all ihre Bastarde zwischen ihrem fünften und siebten Geburtstag in einen Palast am Ufer eines unterirdischen Sees ein, der so tief war, dass die Muränen, die darin hausten, angeblich hundert Meter lang wurden. Nerron hatte nicht verstanden, warum seine Mutter so gar nicht erfreut über diese Ehre zu sein schien. Sie hatte kaum ein Wort gesprochen, während er mit offenem Mund die Wunder des unterirdischen Palastes bestaunt hatte. Ein Haus war für ihn bis dahin ein Loch in der Wand gewesen, mit einer Felsnische zum Schlafen und einem Tisch, an dem seine Mutter den Malachit schleifte, dem ihre Haut glich. Nerron war weder hochgewachsen noch schön – beides Eigenschaften, auf die die Onyx sehr viel Wert legten –, und seine Mutter hatte gewusst, was das bedeutete. Die Onyxlords waren geizig mit ihrem Blut. Bastarde, die bei der Musterung durchfielen, wurden in dem See ertränkt, an dessen Ufer der Palast lag. Aber ein Fünfjähriger, dem es gelang, ein kostbares Spionagewerkzeug zu stehlen, während er in ihrer Bibliothek auf seinen Urteilsspruch wartete, versprach irgendwann nützlich zu werden.

Die Spinne war schläfrig, aber sie begann ihren Tanz, sobald Nerron ihr die Klaue gegen den blassen Bauch stieß.

Zwillingsspinnen.

Selten und wertvoll.

Er hatte Monate gebraucht, um zu verstehen, was die acht Beine ihm auf die Handfläche schrieben. Der stumme Tanz glich dem Tanz, den Bienen aufführten, um ihren Artgenossen den Weg zu vielversprechenden Blüten zu weisen. Aber die Spinne berichtete nicht, was sie selbst, sondern was ihre Zwillingsschwester sah, und die war Jacob Reckless in Guismunds Gruft in die Kleider gekrochen.

Der Kopf. Die Hand. Das Herz. Wonach würde er zuerst suchen?

Was die Spinne schrieb, klang wie Bruchstücke eines Gesprächs: … ein alter Freund … weiß nicht … lange her … zwei, drei Stunden von der Fähre …

Die Fähre … Das konnte nur Albion und damit Westen bedeuten. Bestens. Schon der Gedanke an den Großen Kanal verursachte Nerron Übelkeit. Die feuchte Furcht der Goyl … Falls der Kopf in Albion war, tat Reckless ihm einen Gefallen, wenn er ihn fand und aufs Festland brachte.

Die Spinne tanzte weiter, aber ihre Zwillingsschwester war furchtbar geschwätzig und brabbelte nach, was immer sie aufschnappte. Wen zum Teufel interessierte, welche Farbe der Himmel hatte, den Reckless sah, wonach es roch und ob er draußen schlief oder in einem Hotel abstieg? Na, komm schon! Wohin genau war Reckless unterwegs? Wusste er schon, wo er nach der Hand und dem Herzen suchen wollte? Aber alles, was die Spinne tanzte, war die Speisekarte eines flandrischen Gasthauses. Verflucht, wenn die Biester bloß klüger wären.

»Bist du der Goyl, der den Prinzen begleitet?«

Die Stimme war nicht mehr als ein feuchtes Flüstern.

Ein Wassermann stand vor dem Kutschfenster, schuppig wie die Echsen, aus deren Haut Nerrons Kleider gemacht waren. Seine sechs Augen waren so farblos wie das Wasser, das die Knechte den Pferden des Krummen hinstellten.

Der Goyl, der den Prinzen begleitet. Na bestens …

»Der Prinz wartet.« Bei Wassermännern klang jedes Wort wie eine Drohung.

Schön. Sollte sein Prinz warten, bis er Moos unter den königlichen Achseln ansetzte. Nerron ließ die Spinne in das Medaillon zurückschlüpfen.

Die Uniform des Wassermanns schlug Wellen, während er ihm über den Schlosshof voranging, als protestierte sein Körper gegen die Kleider. In ihren Tümpeln bedeckten sie die schuppige Haut nur mit Algen und Schlamm. An Land waren sie auch nicht allzu sauber. Es gab wenige Kreaturen, die bei einem Goyl mehr Ekel auslösten.

Ein Prinz und ein Wassermann. Salamanderdreck … Nerron spuckte aus – und fing sich einen missbilligenden Blick aus den farblosen Augen ein. Wenigstens waren Wassermänner dafür bekannt, dass sie nicht sonderlich gesprächig waren, und als prinzliche Leibwächter verzichteten sie hoffentlich darauf, jedes halbwegs ansehnliche Menschenmädchen in einen Tümpel zu zerren.

Der Prinz wartet.

Nerron verfluchte den Krummen mit jedem Schritt, den er auf seinen Sprössling zutat. Louis von Lothringen erwartete sie vor dem Stall, in dem die Jagdpferde seines Vaters standen. Seine Reisekleider würden jeden Wegelagerer auf hundert Meilen herbeilocken. Man konnte nur hoffen, dass sie nach ein paar Tagen vor Schmutz starrten und die Däumlinge die diamantenen Knöpfe stehlen würden. Der Thronfolger Lothringens aß zu viel und zu gut, das war nicht zu übersehen, und die weißblonden Locken hingen ihm so ungekämmt um das aufgeschwemmte Milchgesicht, als hätten seine Diener ihn gerade erst aus dem Bett gezerrt. Einen hatte er sogar mitgebracht: Er reichte seinem Herrn kaum bis zu den Brustwarzen und sah aus wie ein Käfer in seinem steifen schwarzen Gehrock. Der Blick, mit dem er Nerron musterte, war so erstaunt, als hätte er noch nie einen Goyl gesehen. Nerron gab den Blick finster zurück. Es ist alles wahr, was du über sie gehört hast, Käfermann.

Ein Wassermann, ein Prinz und ein Käfer … Jacob Reckless würde sich die Hände reiben.

»Also, was genau suchen wir?« Louis’ Stimme klang so mürrisch, wie man es von einem verwöhnten Königsbalg erwartete. Er hatte gerade erst seinen siebzehnten Geburtstag gefeiert, aber das Unschuldsgesicht täuschte. Angeblich waren weder die Zofen seiner Mutter vor ihm sicher noch ihr Silber, das er regelmäßig versetzte, um Wettschulden oder seine Schneider zu bezahlen.

»Euer Vater hat mich unterrichtet, dass es um Guismund, den Hexenschlächter geht, Euer Hoheit.« Der Käfer klang, als klemmte ihm das metallene Brillengestell die Nase ab. »Ihr erinnert euch sicher an unsere Lektion zu Eurer Ahnengeschichte. Guismunds jüngster Sohn ist einer Eurer Vorfahren, nicht in direkter Linie«, – der direkten Linie hatte das Volk von Lothringen den Kopf abgeschlagen –, »aber über einen unehelichen Vetter.« Der Käfer schloss den Mund und strich sich über das schüttere Haar, als wollte er sich selbst für so viel Gelehrsamkeit beglückwünschen.

Ein Lehrer. Der Krumme gab seinem Sohn einen Lehrer auf die Schatzjagd mit. Nerron wünschte sich weit, weit fort. Selbst die Hölle klang erstrebenswert.

Louis zuckte gelangweilt die Schultern und starrte einem Küchenmädchen nach, das über den Hof ging. Hoffentlich war er so dumm, wie er aussah. Das würde es leicht machen, Geheimnisse vor ihm zu haben. »Können wir wenigstens die neue Kutsche nehmen?«, fragte er. »Die, die keine Pferde braucht. Mein Vater hat sie aus Albion importieren lassen.«

Ignorier ihn, Nerron. Oder du wirst ihn spätestens am zweiten Tag erschlagen.

»Wir brechen in einer Stunde auf«, sagte er zu dem Wassermann. »Zu Pferd«, setzte er mit einem Blick auf Louis hinzu. »Aber erst muss ich Euren Lehrer in Augenschein nehmen.« Er packte den Käfer am Kragen, was seinen prinzlichen Schüler, wie erwartet, nicht im Geringsten interessierte, und zog ihn mit sich.

»Arsene Lelou. Ich reise nicht nur in meiner Funktion als Louis’ Lehrer mit!«, stammelte der Käfer. »Sein Vater hat mich beauftragt, die Abenteuer seines Sohnes für die Nachwelt festzuhalten. Es sind sogar einige Zeitungen intere…«

Nerron brachte ihn mit einem Zungenschnalzen zum Schweigen. Die Onyx waren sehr gute Lehrer im Schikanieren von Untergebenen.

»Ich nehme an, du weißt einiges über den jüngsten Sohn des Hexenschlächters?«

Auf den bartlosen Mund des Käfers stahl sich der Ansatz eines herablassenden Lächelns. »Ich weiß alles über ihn. Aber selbstverständlich teile ich mein Wissen über die königliche Familie nicht mit jedem …«

»Jedem was? Hör zu, Arsene Lelou!«, raunte Nerron ihm zu. »Es ist für mich leichter, dich zu töten, als einem Däumling den Hals zu brechen, und wir beide wissen, dass dein Schüler keinen Finger für dich krumm machen würde. Vielleicht solltest du also doch erwägen, dein Wissen mit mir zu teilen.« Nerron schenkte ihm ein Lächeln, das jedem Wolf gut zu Gesicht gestanden hätte.

Arsene Lelou lief so rot an, als verwandelte er sich in Karneol.

»Was wollt Ihr wissen?«, näselte er. Er gab sich Mühe, ein tapferer Käfer zu sein. »Ich kann Euch Daten und Orte seiner wichtigsten Siege nennen. Ich kenne einen beträchtlichen Teil des Briefwechsels auswendig, den er mit seiner Schwester Orgeluse über Fragen der Erbfolge in Austrien geführt hat, die Waffenstillstandsverträge mit seinem Bruder, die Feirefis mehrmals gebrochen hat, seine …«

Nerron winkte ungeduldig ab. »Weißt du irgendetwas über eine abgetrennte Hand, die der Hexenschlächter Gahrumet hinterlassen hat?«

Mach mich glücklich, Käfer. Sag Ja.

Aber Lelou spitzte nur angeekelt den Mund. »Bedaure. Von einer so grotesken Hinterlassenschaft habe ich nie gehört. Wäre das alles?«

Sein fliehendes Kinn zitterte, ob aus Furcht oder Demütigung, war nicht auszumachen. Er verbeugte sich steif und schickte sich an, zurück zu den anderen zu hasten, aber nach zwei Schritten blieb er stehen.

»Allerdings gibt es da ein Vorkommnis«, Lelou rückte sich mit so besserwisserischer Miene die Brille zurecht, dass Nerron sie ihm fast von der Nase geschlagen hätte, »das den Lieblingsdiener von Gahrumets Enkelsohn betraf. Er wurde von einer abgetrennten Hand erwürgt.«

Treffer.

»Was ist mit der Hand passiert?«

Lelou strich sich die Weste glatt. Sie war über und über mit dem Königswappen Lothringens bestickt. »Gahrumets Enkel ließ sie zum Tode verurteilen. In einem regulären Gerichtsverfahren.«

»Was heißt?«

»Sie wurde dem Henker übergeben, gevierteilt und zu Füßen ihres Opfers begraben.«

»Wo?«

»Auf dem Friedhof der Abtei von Fontevaud.«

Fontevaud. Das war ein Ritt von sechs Tagen – falls das Prinzlein nicht allzu oft Rast machen musste. Reckless würde sicher so lange in Albion unterwegs sein.

Der Kopf im Westen. Die Hand im Süden.

Nerron lächelte. Er war sicher, er würde die Hand haben, bevor Reckless überhaupt herausfand, wo der Kopf war. Das war leichter als erwartet. Vielleicht war es gar nicht schlecht, einen gebildeten Käfer mit auf die Jagd zu nehmen. Nerron selbst war kein Freund von Büchern, im Gegensatz zu Reckless, von dem man hörte, dass er jede Bibliothek zwischen dem Weißen Meer und Eisland kannte und Wochen über alten Handschriften zubrachte, wenn er die Spur eines Schatzes aufnahm. Nein, das war nicht nach Nerrons Geschmack. Er fand seine Spuren lieber in Gefängnissen, Wirtshäusern oder am Straßenrand. Aber so ein gebildeter Käfer … Nerron klopfte Lelou auf die schmächtigen Schultern.

»Nicht schlecht, Arsene«, sagte er. »Du hast deine Chancen, diese Unternehmung zu überleben, soeben deutlich verbessert.«

Lelou blickte drein, als wäre er nicht sicher, ob diese Aussage ihn beruhigen sollte. Vor dem Stall diskutierte Louis mit dem Wassermann darüber, wie viele Pferde sie brauchen würden, um seine Reiseausstattung zu transportieren.

»Kein Wort über unsere Unterhaltung!«, flüsterte Nerron Lelou zu, während sie zu ihnen zurückgingen. »Und vergiss die Zeitungen, auch wenn Louis sein Gesicht gern auf der Titelseite sieht. Ich will jede Silbe sehen, die du über seine Abenteuer schreibst, und natürlich erwarte ich, dass meine Rolle dabei aufs Schmeichelhafteste geschildert wird.«