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Vor dem Hintergrund aufragender Eisberge, die von Wind und Wellen zu fantastischen Gebilden geformt worden waren, und einem Himmel, der von Horizont zu Horizont rötlich schimmerte, schaffte es die Oregon immer noch, wie ein Schrottkahn auszusehen. Nicht einmal diese unverdorbene antarktische Umgebung konnte die trostlose Erscheinung des heruntergekommenen Trampfrachters mildern. Selbst ein noch so schöner Rahmen kann ein hässliches Gemälde nicht aufwerten.
Linda Ross hatte während der Fahrt nach Süden hervorragende Arbeit geleistet. Glücklicherweise hatte das Wetter mitgespielt, und sie waren auf nur wenig Treibeis getroffen, bis sie leewärts die Antarktische Halbinsel erblickten. Dort angekommen hatte Gomez Adams mit ihrem MD-520 einen Weg durch die Eisberge gesucht. Die heftige Sturmfront, die den größten Teil des Kontinents in ihrem eisigen Griff gehabt hatte, war schließlich abgeflaut, aber er berichtete, dass es trotzdem einer der haarigsten Flüge seines Lebens gewesen sei – und das kam von einem Mann, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Special-Forces-Trupps hinter feindlichen Linien abzusetzen.
Linda betrachtete sich in dem antiken Spiegel, der in ihrer Kabine hing, und entschied, dass sie die perfekte Ehefrau für den Michelinmann sei. Zwar wusste sie, dass unter all den Schichten arktischer Kleidung eine Frau von hundertsechzehn Pfund steckte, aber der Spiegel zeigte nichts davon. Und sie musste außerdem noch einen Mantel anziehen, sobald sie in die Bootsgarage hinunterging.
Sie sah auf den Bildschirm ihres Computers, der mit dem Sensorsystem des Schiffes verbunden war. Die Lufttemperatur draußen betrug minus achtunddreißig Grad Celsius, dazu wehte ein Wind, bei dem es sich noch um zehn Grad kälter anfühlte. Der Ozean war knapp über dem Gefrierpunkt. Der Luftdruck schien konstant, aber sie wusste, dass sich das ohne Vorankündigung sofort ändern konnte.
Das gehörte alles zu den Gründen, weshalb sie Minnesota hinter sich gelassen hatte.
Linda war in einer militärischen Familie aufgewachsen, und es hatte nie ein Zweifel daran bestanden, dass sie ebenfalls Militärdienst leisten würde. Sie absolvierte die Navy ROTC in Auburn und verbrachte danach fünf Jahre im Dienst. Sie liebte ihren Job, vor allem die Arbeit auf See, aber sie wusste, dass ihrer Karriere Grenzen gesetzt waren. Die Navy belohnte erworbene Verdienste zwar besser als jede andere Waffengattung. Sie wusste jedoch auch, dass sie mit ihrem elfenhaften Aussehen und ihrer beinahe heliumhellen Stimme niemals eine Kommandoposition einnehmen würde. Und ein eigenes Schiff war das, was sie sich am meisten wünschte.
Nachdem sie achtzehn Monate lang im Stab der Joint Chiefs tätig gewesen war, bot man ihr eine Beförderung und eine weitere Stabsstelle an. Egal welche Fäden sie zog, sie brächten sie nicht einmal in die Nähe eines Schiffes, geschweige denn zu einem Kommando. Linda sah, was die Stunde geschlagen hatte, und packte ihre Sachen. Innerhalb eines Monats war sie Erster Offizier auf einem Ölbohr-Serviceschiff im Golf von Mexiko, mit der klaren Zusage, dass es innerhalb eines Jahres ihr Schiff wäre.
Aber dann nahm ihr Leben eine jener seltsamen Wendungen, die einen Menschen auf einen Kurs bringen, mit dem er nie gerechnet hätte. Ein Admiral, den sie nie zuvor kennengelernt hatte, rief sie an und erzählte ihr von einer offenen Stelle in einer wirklich geheimen Truppe. Auf die Frage, weshalb ausgerechnet sie ihm eingefallen sei, hatte der Admiral erwidert, dass die Navy einen Fehler gemacht habe, ihr nicht das zu geben, was sie verdiente, und dass dies eine Möglichkeit sei, die Dinge wieder ins Lot zu rücken.
Was Linda niemals erfahren würde, war, dass Langston Overholt von der CIA seine Fühler bei den Lamettaträgern aller Waffengattungen ausgestreckt hatte. Er suchte nach Leuten, von denen man meinte, sie würden der Corporation gute Dienste leisten. Auf diese Art und Weise hatte Cabrillo die meisten Angehörigen seiner Mannschaft rekrutiert.
Sie schaltete den Computer aus, wobei der Gedanke an eine solche Kälte sie mit Besorgnis erfüllte, und verließ ihre Kabine. Ihre kälteisolierten Stiefel verliehen ihr dabei den Gang eines Frankenstein-Monsters.
Die Bootsgarage befand sich mittschiffs an Steuerbord. Linda ließ sich Zeit. Eine der wichtigsten Regeln für das Überleben in arktischen Regionen besagte: Schwitze niemals. Auch wenn alle Reißverschlüsse geöffnet waren, konnte sie spüren, wie ihre Körpertemperatur anstieg. Einige Mannschaftsmitglieder, denen sie begegnete, machten zwar Bemerkungen über ihre Größe in der aufgeblähten weißen Kleidung, aber alles war durchaus freundlich gemeint.
Die Tür zur Garage war aufwendig isoliert, doch als sie mit den Fingern dagegendrückte, um sie zu öffnen, zuckte sie vor der betäubenden Kälte, die hindurchdrang, erst einmal zurück. Sie zog die Reißverschlüsse ihrer vielen Kleidungsschichten zu, bevor sie den Griff drehte.
Die mit Teflon beschichtete Startrampe war heruntergefahren worden, und das Außentor stand offen, so dass sie das antarktische Klima mit voller Wucht traf. Es ließ sie unwillkürlich nach Luft schnappen und trieb ihr die Tränen in die Augen. Außerhalb des Schiffes war das Wasser schwarz und vom Wind aufgewühlt. Kleine Eisberge trieben vorbei. Der Rest ihres Dreipersonenteams wartete bereits. Franklin Lincoln, der größte Mannschaftsangehörige, sah wirklich gigantisch aus. Alles, was sie von ihm erkennen konnte, war sein schwarzes Gesicht, das sie aus einem Berg weißer Kleidung anlachte. Mark Murphy hingegen wirkte in seiner Kluft ein wenig verloren, wie ein kleiner Junge, der anlässlich irgendeines Familienfestes den Anzug seines Vaters anprobiert.
Ein Angehöriger der Mannschaft reichte ihr einen Übermantel für den Aufenthalt draußen und eine Vollgesichtsmaske mit integriertem Kommunikationssystem. Er überprüfte sie auf irgendwelche losen Verbindungsstellen, benutzte weißes Klebeband, um ihre Handschuhe zu fixieren, und dann half er ihr, den Rucksack auf den Rücken zu schwingen, und reichte ihr eine Waffe. Sie würden L85A2er mitnehmen, den Heckler-&-Koch-Nachbau des englischen kurzen Sturmgewehrs. Diese Exemplare waren außerdem vom Waffenmeister des Schiffes noch weiter modifiziert worden. Da sich das Magazin hinter dem Abzug befand, fiel es leicht, den Schutzbügel zu entfernen, um ihnen zu ermöglichen, abgefeuert zu werden, ohne dass die Schützen ihre Handschuhe ausziehen mussten. Leistungsstarke Halogenlampen waren unter den kurzen Läufen installiert worden.
»Ich bin dein Vater, Leia«, sagte Linc in einer perfekten Imitation des von James Earl Jones dargestellten Darth Vader. Mit seiner Maske sah er dem Erzschurken frappierend ähnlich.
»Viel eher würde ich einen Wookie küssen«, antwortete sie mit einem anderen Zitat aus Star Wars. »Kommunikationstest. Hörst du uns, Mark?«
»Hm, ja. Aber was ist ein Wookie, und wer ist Leia?«
»Guter Versuch, Streberleiche«, erwiderte Linc. »Ich würde mich nicht wundern, wenn du deinen zweiten Namen in Skywalker umgeändert hättest.«
»Bitte, wenn ich ihn überhaupt in etwas geändert hätte, dann wäre es Solo.«
»Eric«, rief Linda. »Bist du im Netz?«
Eric Stone saß auf dem üblichen Platz des Navigators im Operationszentrum. Er hatte während der rauesten Passagen ihrer Reise aus dem einfachen Grund Dienst gehabt, weil er der beste Schiffslenker war, wenn sich der Chef nicht an Bord aufhielt. »Ich höre dich, Linda.«
»Okay, sobald wir abgelegt haben, möchte ich, dass du dich bis unter den Horizont zurückziehst. Falls wir schnell verschwinden müssen, kann uns Gomez mit dem Chopper holen. Aber bis ich nicht genau weiß, mit was wir es zu tun haben, möchte ich auch nicht, dass die Oregon von irgendwem an Land gesichtet wird.«
Ein versonnenes Lächeln spielte um Lindas Lippen. O ja, das war ihr Kommando.
»Roger«, antwortete Eric. »Wir sind nichts anderes als irgendein Brocken Eis, der aufs Meer hinaustreibt.«
»Okay, Leute, schwingen wir uns also in den Sattel.« Linda stieg in das Reserve-RHIB der Corporation.
Ein hydraulischer Katapult konnte das Boot wenn nötig aus der Oregon schießen – wie einen Dragster. Aber sie entschieden sich für ein sanftes Ablassen ins eisige Wasser. Linda startete die großen Außenbordmotoren, sobald die Schrauben ins Wasser eingetaucht waren. Sie waren bereits in der Garage auf Betriebstemperatur gebracht worden, daher gab sie Gas. Und der Bug des RHIB stieg aus den Wellen. Sie waren acht Kilometer vom Land entfernt, doch in der Bucht, wo Wilson/George lag, wimmelte es von Treibeis. Die meisten Brocken waren nicht viel größer als das RHIB, aber mehrere glichen auch gigantischen Monstern, die in den dunklen Himmel ragten.
Linda war von der strengen Schönheit des abgelegensten Kontinents der Erde gebührend beeindruckt.
Eine kleine Turbulenz neben dem Boot entpuppte sich als die hundeähnliche Schnauze einer Robbe. Sie betrachtete sie einen Augenblick lang, dann verschwand sie in den Wellen.
Sie brauchten zwanzig Minuten bis zur Küste. Anstatt auf den Strand zu fahren, lenkte Linda sie unter eine niedrige Klippe, die über das Wasser hinausragte. Sie würde das RHIB vor zufälligen Beobachtern verbergen und es ihnen ersparen, an Land zu waten. Linc war der Erste, der hochkletterte. Er band das Boot an einen Felsvorsprung und setzte seine enorme Kraft ein, um die beiden anderen aus dem Boot zu hieven.
Der Strand war so einsam, wie Linda es noch nie gesehen hatte. Er war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, offenbar den Überresten des Sturms. Eine plötzliche Böe drückte sie gegen die unerschütterliche Gestalt Franklin Lincolns.
»Wir müssen mal dafür sorgen, dass du ein wenig Fleisch auf die Knochen kriegst, Mädchen.«
»Oder mich von der Antarktis fernhalten«, entgegnete Linda. »Die Station liegt ungefähr anderthalb Kilometer landeinwärts.«
Sie hatten die Möglichkeiten bis zum Geht-nicht-mehr durchgespielt und würden sich der Station nähern, als wäre sie von feindlichen Streitkräften besetzt worden. Sie brauchten etwa eine Stunde, um sich anzuschleichen. Dann fanden sie eine niedrige Erhöhung, von wo aus sie die Station durch Ferngläser studieren konnten.
Das futuristische Bauwerk mit seinen Kuppen und Verbindungsröhren wirkte verlassen. Das Brummen eines Generators hätte bis zu ihnen dringen müssen, aber alles, was sie hörten, war das Pfeifen des Windes und das gelegentliche Schlagen einer Tür, die in ihren Angeln hin und her pendelte. Es war der Personaleingang zum angrenzenden Garagengebäude, mit dem der Wind spielte. Die Fenster der Station waren allesamt dunkel.
Ein Frösteln lief Linda über den Rücken, das nichts mit dem Wetter zu tun hatte. Durch die grüne Optik ihres Nachtglases erschien Wilson/George unheimlicher als alles, was sie je zuvor gesehen hatte. Windgepeitschte Schneeflocken fügten sich zu den schemenhaften Umrissen von erdgebundenen Geistern zusammen, um an diesem Ort ihr Unwesen zu treiben.
»Was denkt ihr?«, fragte Linda, um sich aus ihren düsteren Visionen zu reißen.
Mark wandte sich ihr zu. »Vor zwei Tagen glaubte ich noch, auf dem Set von Apocalypse Now zu sein. Jetzt habe ich eher das Gefühl, als stünde ich vor der Basis von The Thing.«
»Interessante Beobachtung, aber das ist nicht das, was ich meinte.«
»Ich würde sagen, es ist niemand zu Haus«, sagte Linc.
»Das sieht mir auch so aus.« Linda steckte das Fernglas in ihre Tasche zurück. »Los, starten wir, aber seid wachsam.«
Ihre arktische Kleidung hielt die Kälte zwar wirkungsvoll ab, doch sie konnte nichts gegen den Klumpen in ihrem Magen tun. Die bange Vorahnung wuchs mit jedem langsamen Schritt, mit dem sie sich der Station näherten. Etwas Schlimmes war hier geschehen, das fühlte sie, etwas Entsetzliches.
Um die Basis herum waren keine Spuren zu sehen, was darauf schließen ließ, dass sich hier seit dem Sturm nichts bewegt hatte, wobei es durchaus möglich war, dass jemand kurz vorher oder sogar während des Sturms hier gewesen war. Linc stieg die Treppe zum Eingang hinauf, sein Sturmgewehr schussbereit im Anschlag. Mark ging neben ihm in Position, und Linda legte die Hand auf den Türgriff. Die Tür schwang auf und gestattete den Blick in einen dämmrigen Vorraum. Die Haupteingangstür in die Anlage stand sperrangelweit offen, so dass sich auch der letzte Wärmerest, der von der dicken Isolationsschicht der Station zurückgehalten werden konnte, längst verflüchtigt hatte. Es bestand keine Hoffnung, dass einer der Wissenschaftler diese lange Zeit der Ungeschütztheit überlebt hatte.
Linda bedeutete Linc mit einigen Gesten voranzugehen. Der ehemalige SEAL nickte und warf einen Blick durch die Tür der Station. Er wich ein Stück zurück, dann wandte er sich um.
Mit den Lippen formte er lautlos die Worte: Das ist nicht gut.
Linda kam zu ihm und sah selbst nach. Der Raum war ein Schlachtfeld. Kleidung lag auf dem Fußboden verstreut herum. Spinde waren geleert und umgekippt worden. Eine Bank, auf der früher Angehörige der Station gesessen und ihre Stiefel aus- oder angezogen haben mochten, war auf etwas geschleudert worden, von dem sie die Augen nicht abwenden konnte. Es war der Körper einer Frau, von der Kälte bläulich angelaufen. Sie trug eine Todesmaske aus Raureif, winzige Eisnadeln, die an ihrer Haut klebten und ihre Augen milchig erscheinen ließen. Schlimmer schien noch die Pfütze steinhart gefrorenen Blutes unter ihr. Ihre Brust war eingedrückt, Schmierstreifen und Spritzer bedeckten die Wände.
»Ein Schuss?«, flüsterte Linda, nachdem sie ihre Schutzmaske abgenommen hatte.
»Ein Messer«, knurrte Linc.
»Wer?«
»Keine Ahnung.« Er leuchtete mit seiner Waffenlampe in den Raum und überprüfte jeden Quadratzentimeter, bevor er eintrat. Linda und Mark folgten ihm.
Es dauerte zehn spannungsgeladene Minuten, um die Bestätigung zu erhalten, dass jeder in der Station tot war. Insgesamt gab es dreizehn Leichen. Alle wiesen ähnliche Anzeichen eines grässlichen Todes auf. Die meisten waren erstochen worden und lagen in gefrorenen Blutpfützen. Einige zeigten Spuren stumpfer Gewalteinwirkung, als hätte sie jemand mit einem Baseballschläger bearbeitet. Einer der Toten hatte abwehrtypische Armbrüche erlitten – er musste um sein Leben gekämpft haben. Die Knochen waren zersplittert. Ein anderer sah aus, als wäre er mit einer großkalibrigen Pistole erschossen worden, obgleich versichert worden war, dass in der Forschungsbasis keinerlei Schusswaffen existierten. Eigentlich gab es auf dem gesamten Kontinent keine Schusswaffen.
»Jemand fehlt«, stellte Linda fest. »Wilson/George hatte eine Winterbesatzung von vierzehn Personen.«
»Das muss unser Killer sein«, sagte Mark.
»Ich sehe mal im Fahrzeugschuppen nach«, sagte Linc. »Wie viele Schneekatzen müssten dort stehen?«
»Zwei – und zwei Schneemobile.«
Ein paar Minuten später – Linda durchsuchte soeben eine Schreibtischschublade – rief Mark aus einem der anderen Module nach ihr. Seine Stimme ließ sie zusammenzucken. Zu sagen, dass ihr die Forschungsstation und ihre grausigen Insassen Angst einjagten, war eine gelinde Untertreibung. Die Haare auf ihren Armen waren nach wie vor gesträubt. Sie fand ihn in einem der kleineren Aufenthaltsräume für die Mannschaft, wo er seine Lampe auf weitere blutige Schmierspuren an der Wand gerichtet hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass die Linien eine gewisse Ordnung aufwiesen. Es war eine Inschrift.
»Was heißt das?«
Mark las laut vor: »Zweiter Prinz wird Nicole retournieren.«
»Wollte damit jemand andeuten, dass sich hier irgendein Adliger aufgehalten hat?«
»Das glaube ich einfach nicht«, sagte Mark geistesabwesend.
»Es ergibt auch keinen Sinn. Niemand hier in der Station heißt Nicole. Ich habe mir die Personalliste angesehen.«
Murph sagte nichts darauf. Seine Lippen bewegten sich stumm, während er den bizarren Satz wieder und wieder las.
»Was denkst du?«, fragte Linda, während sich die Sekunden zu einer Minute ausdehnten.
»Wessen Zimmer war das?«
»Das weiß ich nicht.« Sie schauten sich um und fanden ein Buch mit der Aufschrift Eigentum von Andrew Gangle auf dem Deckblatt.
»Wer war er?«
»Ich glaube, ein Techniker. Ein Doktorand, wenn ich mich recht erinnere.«
»Er ist auch unser Mörder und hat seine Taten gestanden, bevor er sie beging. Außerdem war er sehr krank.«
»Was du nicht sagst. Hallo? Dreizehn aufgeschlitzte Leichen. Er war ganz sicher krank.«
»Ich meine aber richtig krank. Er hatte Aphasie.«
»Was ist das?«
»Eine Sprachstörung, auf Grund derer sich der Betroffene sprachlich nicht mehr richtig ausdrücken kann. Sie wird gewöhnlich durch einen Schlaganfall oder eine Hirnverletzung ausgelöst, oder sie kann auch als Folge eines Tumors oder in Verbindung mit Parkinson oder Alzheimer auftreten.«
»Und wie bist du darauf gekommen?«
»Am MIT hab ich damals des Öfteren mit Doktoranden der Neurowissenschaft ein Spiel gespielt. Wir dachten uns Sätze aus, als litten wir unter Aphasie, die dann von den anderen entschlüsselt werden mussten.«
»Oh – du hattest wohl damals nicht gerade viele Dates, oder?«
Mark ignorierte ihren Seitenhieb. »Meistens mussten wir einen Hinweis geben, wie zum Beispiel ein Wort über das Thema des Satzes, sonst wäre es unmöglich gewesen, ihn zu verstehen. Hier waren die Morde der Hinweis, klar?«
»Sicher, aber was hat ›Zweiter Prinz wird Nicole retournieren‹ mit Mord zu tun?«
»Sieh dir das Wort ›retournieren‹ an. Was kann es heißen?«
»Na was schon – zurückgeben, zurückschicken, irgendetwas mit zurück, na und?«
»Zum Beispiel auch zurückbringen oder – umbringen«, sagte Mark, während seine Augen triumphierend blitzten. Als jemand, der stets die intelligenteste Person im Raum war, machte es ihm nach wie vor Spaß, seinen Intellekt zu demonstrieren. »In Gangles Gehirn müssen die beiden Wörter – ›umbringen‹ und ›retournieren‹ – Synonyme gewesen sein.«
»Dann suchen wir also irgendeinen Adligen, wenn ich richtig verstehe?«
»Nein. So funktioniert Aphasie nicht. Im Gehirn sind die Verbindungen in Unordnung geraten: Es können Wörter sein, die ähnlich klingen, oder Wörter, die Objekte meinen, die zusammenpassen, oder Wörter, die Gangle an irgendetwas in seiner Vergangenheit erinnert haben.«
»Oh – und was soll das dann mit dem zweiten Prinzen?«
»Das kann ich dir erklären. Gangle wollte schreiben: ›Ich werde‹, aber da hat sein Gehirn nicht mitgespielt. Also hat er ›Andrew‹ schreiben wollen. Aber auch das schien nicht zu klappen. Daher hat er sich geholfen und nach einem Ersatz gesucht. Und das war Prinz Andrew, der zweite Prinz des englischen Königshauses. Wer weiß, wo er davon gehört oder darüber gelesen hat. Vielleicht in irgendeiner Zeitung, oder er hat es im Fernsehen gesehen.«
»Okay, du Klugscheißer, und was ist mit Nicole?«
Mark grinste sie übermütig an. »Das war sogar der simpelste Teil. Nicole Kidman spielte in dem Horrorfilm Die Anderen mit.«
»›Ich werde die anderen töten‹«, sagte Linda und fügte die komplette Übersetzung zusammen. »Warte mal, bewirkt Aphasie eigentlich auch, dass man den Verstand verliert?«
»Üblicherweise nicht. Ich glaube vielmehr, die ursprüngliche Krankheit, die seine Aphasie ausgelöst hat, brachte ihn auch dazu, seine Kollegen anzugreifen.«
»Was, zum Beispiel, kann es gewesen sein?«
»Das musst du Doc Huxley fragen. Ich kenne dieses Leiden nur auf Grund meines damaligen Wortspiels.«
Plötzlich erklang ein lauter Schlag, der sie beide zusammenzucken ließ.
»Linda, Murph, wir bekommen Besuch!«, hallte Lincs sonore Stimme durch die gesamte Basis.
Beide schnappten sich ihre Sturmgewehre vom Bett, wo sie sie abgelegt hatten, und verließen eilig Andy Gangles bedrückendes Zimmer. Sie trafen Linc im Gemeinschaftsraum.
»Was hast du gefunden?«
»Ziemlich seltsame Dinge, aber nicht jetzt. Von Süden kommt eine Schneekatze auf uns zu. Dort haben doch die Argentinier ihre Forschungsbasis, oder?«
»Ja«, bestätigte Linda. »Etwa fünfundvierzig Kilometer entfernt, unten an der Küste.«
»Ich hab sie gesehen, als ich zurückging. Wir haben weniger als eine Minute Zeit.«
»Alle sofort raus.«
»Nein, Linda. Dort haben wir nicht genug Deckung.« Sorgenfalten fürchten Lincs Gesicht. »Sie würden uns sofort sehen.«
»Okay, sucht euch ein Versteck und verhaltet euch still. Hoffen wir, dass sie sich nur ein wenig umschauen wollen und nicht die Absicht haben, sich hier häuslich niederzulassen. Wenn sie euch entdecken, dann fackelt nicht lange und schießt euch den Weg frei.«
»Und wenn es nur Wissenschaftler sind, die nach der Station schauen wollen?«, fragte Mark. Es war eine vernünftige Frage.
»Dann wären sie schon vor einer Woche hergekommen. Darum hatte sie unsere Regierung ja gebeten. Und jetzt los!«
Das Trio trennte sich. Linda kehrte in Andy Gangles Zimmer zurück. Die Decke bestand aus Schalldämmplatten aus einem pappeähnlichen Material, die auf einem Stahlgitter lagen. So gelenkig wie ein Affe stieg sie auf eine Kommode und drückte eine der Platten mit dem Lauf ihres Gewehrs hoch. Zwischen der Decke und dem isolierten Dach befand sich ein Kriechraum von etwa einem Meter Höhe. Sie legte das Gewehr auf die Decke und zog sich hoch. Ihre dicke Kleidung machte es zwar beinahe unmöglich, aber indem sie ihre Hüften hin und her drehte und mit den Beinen herumruderte, gelang es ihr, den Oberkörper durch die Öffnung zu schlängeln.
Sie hörte, wie die Eingangstür krachend geöffnet wurde, dann rief jemand etwas auf Spanisch. In ihren Ohren klangen die Worte eher wie ein Befehl und nicht wie eine Frage.
Sie zog die Beine in den Kriechraum hinauf und schob die Platte vorsichtig wieder in ihre alte Position zurück. Ein biegsames Rohr in der Nähe war mit einem Deckenrost verbunden, um das Zimmer mit warmer Luft zu versorgen. Linda löste die silberne Röhre des Rostes und blickte hindurch. Sie hatte aus der Vogelperspektive einen guten Überblick.
Das Adrenalin, das durch ihre Adern geschossen war, als sie Lincs Warnruf gehört hatte, verflüchtigte sich schnell, so dass sie die Kälte wieder spürte. Sie musste zwar keinen Wind ertragen, aber im Kriechraum herrschten die allgegenwärtigen fünfunddreißig Grad Celsius unter null. Ihr Gesicht war taub, und trotz der dicken Handschuhe verloren ihre Fingerspitzen nach und nach jedes Gefühl. Sich völlig still zu verhalten war für ihren Körper in diesem Augenblick das Schlimmste. Aber es war genau das, was sie tun musste.
Weitere Rufe in kehligem Spanisch erklangen unter ihr. Sie schloss die Augen und stellte sich Soldaten vor, die die Basis genauso untersuchten, wie sie und ihr Team es soeben getan hatten. Wie würden sie auf das Massaker reagieren? Interessierte es sie überhaupt?
Ein Mann in einem weißen Kälteschutzanzug und mit einer großkalibrigen Pistole in der Hand betrat plötzlich das Zimmer. Er trug eine ähnliche Maske wie Linda, daher konnte sie sein Gesicht nicht sehen. Ebenso wie Mark starrte er die blutige Schrift auf der Wand an.
Es geschah so schnell, dass Linda nichts tun konnte, um es zu verhindern. Ein klarer Tropfen Flüssigkeit löste sich von ihrer Nase und zerplatzte auf der Schulter des Mannes. Er wischte ihn weg, ohne den Kopf umzuwenden, und ging hinaus, um seine Suche fortzusetzen.
Sobald er den Raum verlassen hatte, setzte sich Linda in Bewegung. Wie eine Spinne, die sich an ihrem Netz festhält, schob sie Hände und Füße über die Halteschienen der Deckenplatten. Sie waren nicht dafür gedacht, das Gewicht eines ausgewachsenen Menschen zu tragen, und sie befürchtete, dass die Drähte, die sie in Position hielten, jeden Augenblick reißen würden.
Plötzlich fiel ein Schuss. Die Platte, über der sie sich soeben noch befunden hatte, explodierte in einer Staubwolke und fiel nach unten ins Zimmer. Zwei weitere Schüsse dröhnten, und die nächsten beiden Platten lösten sich ebenso. Matte Sonnenstrahlen drangen durch die Löcher, die die Kugeln in das äußere Dach gestanzt hatten.
Linda nutzte den Lärm der Schüsse und die kurze Taubheit, die sicherlich darauf folgte, um über eine größere Rohrleitung des Belüftungssystems der Basis zu klettern. Diese Röhre war groß genug, um sich dahinter verstecken zu können. Ihr Gewehr war entsichert.
Sie hielt ganz bewusst den Atem nicht an, sondern ließ ihn langsam und gleichmäßig strömen. Bei ihrem rasenden Herzen brauchte sie Sauerstoff. Das Dach über ihr wurde plötzlich von dem grellen Lichtstrahl einer Handlampe aus dem Dunkel gerissen.
Der Argentinier hatte begriffen, dass etwas Flüssiges auf seine Schulter getropft war, dabei musste bei der in der Basis herrschenden Kälte doch jede Flüssigkeit steinhart gefroren sein.
Atme, Linda, atme. Er kann dich nicht sehen, und er ist zu groß, um hier herumzukriechen.
Zehn der angespanntesten Sekunden ihres Lebens verstrichen. Zehn Sekunden, in denen sie wusste, dass er einfach nur zum Spaß einen Schuss in den Ventilatorschacht feuern und dabei eine Kugel durch ihren Kopf jagen konnte.
Dann war plötzlich ein zweiter Mann zu hören, der den Raum betrat – schwere Schritte und eine barsche Frage. Eine kurze Unterhaltung folgte, dann entfernte sich das Licht, und sie konnte erkennen, dass die Männer den Raum verlassen hatten.
Sie befahl ihrem Körper, sich zu entspannen, und wagte einen winzigen Schnaufer.
Das wäre wirklich das absolut Verrückteste gewesen, dachte sie. Getötet zu werden – wegen einer laufenden Nase. Diese Geschichte, das wusste sie genau, würde sie für sich behalten. Sie vergrub das Gesicht in der pelzgefütterten Kapuze ihres Parkas und bereitete sich darauf vor, die Visite des argentinischen Suchtrupps auszusitzen, solange es nötig war.