3

Ein zweites Mal betrachtete Cabrillo prüfend den dunklen Fluss, ehe er sich zu der verlassenen Hütte umdrehte, die sie als Basis benutzten. Sie stand auf Pfählen ein Stück über dem Wasser, und die Leiter, die zu dem einzelnen Raum hinaufführte, war aus Balken erbaut, die mit Sisalseilen zusammengebunden worden waren. Sie knarrte protestierend, als er darauf nach oben stieg, doch sie trug sein Gewicht. Das Strohdach war zum größten Teil verschwunden, daher wurde der dämmernde Himmel durch hölzerne Dachbalken unterteilt, die noch mit Rinde umhüllt waren.

»Der Kaffee ist fertig«, flüsterte Mike Trono und reichte eine Tasse herüber.

Trono, ein ehemaliger Rettungsfallschirmspringer, der im Kosovo, im Irak und in Afghanistan hinter den feindlichen Linien abgesprungen war, um abgestürzte Piloten in Sicherheit zu bringen, war einer der führenden Agenten bei Festlandeinsätzen. Von eher schmächtiger Statur und braunhaarig, hatte er das Militär verlassen, um sich als Pilot im Offshore Powerboat Racing zu betätigen, nur um enttäuscht festzustellen, dass ihm der Adrenalinschub, der dabei ausgelöst wurde, nicht reichte.

Neben ihm lag die athletische, aber schlafende Gestalt seines Komplizen bei diesem Coup, Jerry Pulaski. Jerry war ein erfahrener Kriegsveteran, und es wäre seine Aufgabe, sich die siebzig Pfund schwere Energiezelle auf den Buckel zu laden, sobald sie sie gefunden hätten. Als Dritter im Bund machte Mark Murphy, der ebenfalls schlief, ihr Einsatzteam komplett.

Murphs hauptsächliche Tätigkeit innerhalb der Corporation umfasste die Bedienung und Wartung der ausgeklügelten Waffensysteme der Oregon, außerdem beherrschte er den Schiffskampf wie niemand sonst, den Juan kannte, auch wenn er nie beim Militär gewesen war. Er war ein MIT-Absolvent mit einer ganzen Handvoll Abkürzungen hinter seinem Namen, inklusive einem Ph. D., der seinen Genius für die Entwicklung militärischer Hardware einsetzte. Cabrillo hatte ihn vor längerer Zeit zusammen mit seinem Freund, Eric Stone, rekrutiert, der jetzt den Posten des Ersten Steuermanns der Oregon bekleidete. Für Juan waren sie nur das Dynamische Duo. Wenn sie zusammen agierten, konnte er jedes Mal schwören, dass sie per Telepathie miteinander kommunizierten, und wenn sie sich in jenem geheimnisvollen Jargon ihrer heiß geliebten Videospiele unterhielten, dann glaubte er fast, sie redeten in fremden Zungen. Beide jungen Männer betrachteten ihre äußere Erscheinung als geek chic, wobei sich einige Mannschaftsangehörige nicht ganz sicher waren, was sie unter chic verstanden.

Mark hatte seine ersten Kampferfahrungen während der Rettung der Außenministerin durch die Corporation sammeln können, und Linda Ross meinte, dass er sich dabei wie ein absoluter Profi verhalten habe. Juan wollte ihn auch bei dieser Mission haben, für den Fall nämlich, dass irgendwelche technischen Fragen im Zusammenhang mit dem Plutonium-Schutzbehälter geklärt werden mussten. Falls es ein Problem gäbe, war Murph der Beste, den die Corporation aufbieten konnte, um es zu lösen.

Auf Grund der hohen Luftfeuchtigkeit, die die Luft derart sättigte, dass man sie fast trinken konnte, hatten alle vier Männer auf Hemden verzichtet und dafür ihre Haut zum Schutz vor den Insektenschwärmen, die vor den an Dachbalken aufgehängten Moskitonetzen tanzten, dick mit DEET eingeschmiert. Schweiß klebte an den Haaren auf Cabrillos Brust und perlte an seinen schmalen Flanken hinab. Während Jerry Pulaski mit wuchtigen Muskelpaketen glänzen konnte, besaß Cabrillo die Figur eines Rekordschwimmers mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Da er nicht zu denen gehörte, die sich ihre Essgewohnheiten von ihrem Körpergewicht diktieren ließen, hielt er sich fit, indem er im Marmorschwimmbecken der Oregon regelmäßig unzählige Bahnen schwamm.

»Noch eine Stunde bis Sonnenuntergang«, sagte Cabrillo und trank einen Schluck von dem Kaffee, den sie auf dem kleinen Klappkocher schnell zubereitet hatten. Der Geschmack veranlasste ihn, einen misstrauischen Blick in seine Tasse zu werfen. Er hatte sich einfach zu sehr an den exquisiten Kona-Kaffee gewöhnt, der auf dem Schiff aufgebrüht wurde. »Es ist gerade noch hell genug, um das RHIB startklar zu machen. Wenn wir in einer Stunde aufbrechen, dürften wir kurz vor Mitternacht die Grenze erreichen.«

»Kurz bevor die dritte Wache den Dienst antritt und die zweite sich schon aufs Bett freut«, sagte Mike und versetzte Pulaskis Fuß einen leichten Tritt. »Komm hoch, Schneewittchen, dein Frühstück wartet schon.«

Jerry gähnte ausgiebig und streckte die muskulösen Arme über den Kopf. Sein dunkles Haar war zerzaust, da er sein Hemd als Kopfkissen zweckentfremdet hatte. »Mein Gott, du bist ja so hässlich, dass es geradezu eine Zumutung ist, neben dir aufzuwachen.«

»Nimm dich in Acht, Freundchen. Ich hab mal ein paar von den Girls gesehen, die du abgeschleppt hast.«

»Ist das Kaffee?«, fragte Mark Murphy und rieb sich dabei den Schlaf aus den Augen. Gewöhnlich trug er sein Haar lang, aber für diese Mission hatte Juan ihn gebeten, es sich auf eine praktischere Länge stutzen zu lassen.

»So kann man es nur mit äußerstem Wohlwollen nennen«, sagte Cabrillo und reichte dem Waffengenie seine Tasse.

Nachdem sie sich umgezogen hatten, versammelten sie sich in der morschen Hütte. An einen der Pfähle gebunden und gefährlich tief im Wasser liegend war ihr Flussfahrzeug, ein mattschwarzes Ridged Hulled Inflatable Boat, kurz RHIB. Es war im Grunde nichts anderes als ein Boot mit Glasfiberboden und aufblasbaren Fendern rund um das Dollbord, die dazu dienten, seinen Auftrieb zu erhöhen. Zwei schwere Außenbordmotoren waren am Heckspiegel befestigt. Die einzige Annehmlichkeit für die Besatzung war ein Stand-up-Cockpit mit kugelsicheren Glasscheiben in der Mitte des Fünfundzwanzig-Fuß-Decks. An Bord der Oregon war es dergestalt modifiziert worden, dass es sich zusammenklappen ließ.

Sie hatten das RHIB per Luftfracht in einem Stahlcontainer nach Paraguay bringen lassen und die Kiste dort direkt auf einen gemieteten Sattelschlepper geladen. Juan hatte zwar keine Ahnung, ob die Argentinier die Flughäfen ihrer Nachbarn von Agenten auf verdächtige Aktivitäten beobachten ließen, aber wenn er zur Führung der Militärjunta gehört hätte, wäre etwas Derartiges sofort veranlasst worden. Der Lastwagen fuhr zu einer abgelegenen Stadt, etwa achtzig Kilometer flussaufwärts von der argentinischen Grenze entfernt, und dort wurde das Boot mitsamt der übrigen Ausrüstung, die sie mitgebracht hatten, ausgeladen. Ihr augenblicklicher Standort befand sich knapp fünfzig Kilometer südlich der Stadt.

Juan hatte sich für den Fluss als Zugangsweg entschieden, anstatt per Helikopter auf argentinisches Territorium vorzudringen, weil die Radarüberwachung an der Grenze einfach zu undurchlässig war, selbst wenn sie im Tiefstflug die Grenze überwunden hätten, und weil ein Seitenarm dieses Flusses weniger als acht Kilometer entfernt von ihrem Suchgebiet verlief. Der entscheidende Punkt war, dass sich die Wolkendecke, die er auf den Bildern gesehen hatte, als die Qualmwolke eines riesigen Holzfällerbetriebs in nächster Nähe der Stelle entpuppte, wo die Satellitentrümmer aufgeschlagen sein mussten. Die Gefahr, entdeckt zu werden, schien einfach zu groß.

Er hatte einiges aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt, vor allem aus dem sogenannten Unternehmen Greif zu Beginn der Ardennenschlacht, in dessen Verlauf während der ersten Stunden der Kampfhandlungen Englisch sprechende Kommandosoldaten durch die feindlichen Linien dringen sollten, um Verkehrsschilder zu entfernen, den Verkehr umzuleiten und unter den Truppen der Alliierten Verwirrung zu stiften. Cabrillo erinnerte sich vor allem an den Bericht eines SS-Unteroffiziers, der am Unternehmen Greif teilgenommen hatte. Er räumte darin ein, dass das Überschreiten der Linien während der Schlacht der gefährlichste und heikelste Teil des Plans war, weil die Soldaten mit Feuer aus beiden Richtungen zu rechnen hatten. Sobald er die andere Seite erreicht hatte, so schrieb der Deutsche, führte er seine Befehle ohne die geringste Furcht aus, da er wusste, dass ihn seine Verkleidung und seine Kenntnisse der englischen Sprache perfekt schützten. Er war seinerzeit auch nicht in Gefangenschaft geraten, sondern wurde erst später während der Verteidigung Berlins gegen die Russen verwundet.

Cabrillo hatte nicht den geringsten Wunsch, in ein Kreuzfeuer nervöser Grenzwächter zu gelangen, daher würde er – anstatt diese besondere Linie zu überqueren – unter ihr hindurchschlüpfen.

Das RHIB war bis zum Rand mit Eisenplatten beladen – und zwar waren es jede Menge davon, genug, um die Frachtkosten, hätte man das Boot unbeladen auf die Reise geschickt, zu vervierfachen. Mark Murphy und Eric Stone hatten die genaue Menge errechnet, um Juans Nummer durchzuziehen, und nun würden sie herausfinden, ob seine beiden firmeneigenen Genies recht hatten.

Wortlos machten sie sich an die Arbeit. Jerry und Mike installierten die Motorabdeckungen und achteten darauf, dass sie wasserdicht waren, während Mark noch einmal überprüfte, ob all ihre Tauchsäcke voll technischer Ausrüstung und Waffen sicher und unverrückbar befestigt waren. Nachdem er die offene Kabine daraufhin inspiziert hatte, ob irgendetwas darin beim Tauchen beschädigt werden könnte, verteilte Juan die vier Draeger-Kreislauftauchgeräte. Im Gegensatz zu Tauchflaschen erzeugten diese in Deutschland hergestellten Geräte keine verräterische Blasenspur. Sie funktionierten, indem Kohlendioxid aus dem geschlossenen System herausgefiltert und Sauerstoff aus einem kleinen Drucktank hinzugefügt wurde, sobald sich die Gasmischung lebensbedrohlich veränderte.

Die Männer trugen mikrodünne schwarze Tauchanzüge, und zwar nicht so sehr als Kälteschutz – das Wasser war körperwarm –, sondern um ihre weiße Haut zu verbergen. Ihre Tauchschuhe besaßen dicke Gummisohlen und abnehmbare Schwimmflossen für den Fall, dass sie eilig aus dem Wasser steigen mussten.

»Es wäre nett, wenn wir das Ganze etwas näher an der Küste veranstalten könnten«, meinte Jerry Pulaski. Es war eine Feststellung, in der ein leiser Tadel mitschwang.

»Das wäre es«, pflichtete ihm Juan bei und unterdrückte ein Grinsen. Auf Satellitenbildern war zu erkennen, dass sich die nächste Stadt am Fluss etwa acht Kilometer stromabwärts befand. Und wenn er Mitglied der argentinischen Junta wäre, würde er irgendeinen Hafenpenner dafür bezahlen, dass er Laut gab, sobald er etwas Verdächtiges sah oder hörte. In diesem Teil der Welt war Patriotismus nur ein schlechter Ersatz für einen leeren Magen, daher hatte das Team eine lange Nacht vor sich. Cabrillo wandte sich an Murphy: »Möchtest du vielleicht?«

»Verdammt, nein«, sagte Mark. »Wenn wir uns verrechnet haben, wirst du sicher verlangen, dass wir das Boot bezahlen.«

Juan zuckte die Achseln. »Das ist ein Argument.«

Bis zur Brust im Wasser stehend, streckte er den Arm über einen der aufblasbaren Fender und öffnete das Ablassventil. Luft zischte unter hohem Druck aus der Düse, bis der schwarze Gummischlauch schlaff war. Dann gab er Jerry mit einem Kopfnicken zu verstehen, er solle das Gleiche auf der anderen Seite tun. Und es dauerte nicht lange, da hatten sie die Hälfte der Fender geleert. Wasser schwappte über den Rand, während das Boot im Fluss tiefer sank. Cabrillo und Pulaski drückten von oben auf den Rumpf. Das Boot sank weiter und blieb untergetaucht, obgleich der Bug schon bald wieder aus dem Wasser ragte. Mehr Luft wurde abgelassen, bis das RHIB keinen Auftrieb mehr hatte und perfekt ausbalanciert im Wasser schwebte.

Was nicht überraschte, denn die Berechnungen für den zusätzlichen Ballast stimmten haargenau.

Die Mitglieder des Teams legten ihre Tauchgeräte an, setzten die Vollgesichtsmasken auf und führten einen Kommunikationstest durch. Das Risiko, auf Krokodile oder Kaimane zu treffen, war gering, doch alle hatten Harpunen in speziellen Holstern an ihre Oberschenkel geschnallt.

Juan durchschnitt das Seil, mit dem das RHIB an der Hütte festgebunden war, und ließ es von der Strömung mitnehmen. Während jeder Mann eine Leine hielt, die an dem Boot befestigt war, schwammen sie mit ihrer schwerfälligen Fracht in die Mitte des Flusses. Cabrillo kam es so vor, als versuchten sie, ein Flusspferd zu treiben.

Während der ersten paar Kilometer blieben sie dicht unter der Wasseroberfläche und ließen sich mit der Strömung treiben, die nicht gerade unbedeutend war. So weit von der Lichtflut größerer Städte entfernt, bildete der Himmel eine dunkle Kuppel voll glitzernder Sterne, die so hell und zahlreich erstrahlten, dass es schien, als wäre der Nachthimmel in diesem Teil der Welt silbern und nicht schwarz. Es war mehr als hell genug, um beide Flussufer sehen und das träge Boot genau in der Mitte des Kanals halten zu können.

Erst als sie sich dem nächsten Dorf näherten, ließen die Männer Luft aus ihren Auftriebsausgleichstanks ab und sanken mit dem Boot bis dicht über den Grund. Juan hatte eine Kompasspeilung vorgenommen, ehe er unter die Wasseroberfläche abtauchte. Er steuerte sie, indem er sich nach der Leuchtanzeige richtete. Da das Wasser beinahe Körpertemperatur hatte, kam es ihm so vor, als hätte er seinen Tastsinn völlig eingebüßt. Sie trieben etwa anderthalb Kilometer weiter, wobei die Männer mit ihren Schwimmflossen gelegentliche Lenkmanöver ausführten, ehe Cabrillo das Zeichen zum Aufsteigen an die Wasseroberfläche gab.

Das einsam gelegene Dorf befand sich ein gutes Stück hinter ihnen, und dann stellten sie fest, dass sie den Fluss wieder für sich hatten. Selbst wenn irgendwelche Boote unterwegs gewesen wären, hätte ihre schwarze Kleidung und die Tatsache, dass ihre Köpfe nur zum Teil zu sehen waren, jedem Eingeborenen vorgegaukelt, dass das Team nicht mehr war als ein paar Äste, die von der Strömung langsam in Richtung Argentinien getragen wurden.

Stunden verstrichen. Es war ein schwaches Leuchten hinter der nächsten Flussbiegung, welches ihnen verriet, dass sie sich der Grenze näherten. Während ihrer Einsatzbesprechung hatten sie Satellitenfotos von der Region gesehen. Auf der paraguayischen Seite erstreckte sich ein etwa einhundert Meter langer Betonpier vor einer Reihe verfallener Lagerhäuser und einem Schuppen, in dem der Zoll untergebracht war. Die verschlafene kleine Ortschaft war sicher nicht mehr als vier Straßen breit und genauso lang. Eine Kirche mit weißem Turm stellte das höchste Gebäude dar. Als Antwort auf die Truppenverstärkung hatte der örtliche Militärkommandant eine Abteilung Soldaten in das Städtchen geholt. Sie campierten am nördlichen Rand des Dorfes auf einem Feld, das sich bis zum roten Lehmufer des Flusses erstreckte.

Auf der argentinischen Seite sah es beinahe genauso aus, nur dass sich dort mindestens fünfhundert Soldaten einsatzbereit hielten. Außerdem hatten sie ihre Position gesichert, indem sie Suchscheinwerfer auf spinnenartigen Türmen aufgestellt hatten, um den schwarzen Fluss zu überwachen. Und dann hatten sie Stacheldrahtverhaue auf der Landstraße errichten lassen, die die beiden Ortschaften miteinander verband. Die Satellitenbilder zeigten zwei schlanke Boote, die am Pier in der Nähe eines Gebäudes festgemacht waren, in dem der militärische Stab offenbar untergebracht war. Nach Juans Dafürhalten waren es Boston Whaler, und er hätte darauf gewettet, dass sie mit Maschinengewehren und möglicherweise sogar mit Granatwerfern bewaffnet waren. Sicherlich würden sie noch zu einem Problem werden, falls die Situation eskalierte.

Indem sie dicht über dem Grund blieben, ihn jedoch nicht berührten, so dass der Rumpf nicht durch den Schlick und über das verfaulte Laub rutschte und keine verräterisch trübe Kiellinie erzeugte, absolvierten die Männer diesen eindrucksvollen Spießrutenlauf. In dem Augenblick wussten sie, dass sie die Position der Argentinier erreicht hatten, als ein Lichtstrahl das dunkle Wasser durchschnitt. Sie waren so tief abgetaucht, und der Fluss war viel zu schlammig, als dass jemand sie vom Ufer aus hätte sehen können. Trotzdem hielten sie sich von dem silbernen Leuchten möglichst fern. An der Oberfläche beobachteten die Männer im Turm, was immer der Lichtstrahl enthüllte: dunkles, leeres Wasser, das langsam nach Süden floss.

Cabrillo und das Team blieben für eine weitere Stunde auf Tauchstation und kamen erst hoch, als die Grenze bereits einige Kilometer hinter ihnen lag. Sie setzten ihre Flussfahrt fort, bis sie nach einer Stunde einen namenlosen Nebenfluss erreichten, den sie auf den Satellitenbildern schon gesehen hatten. Diesmal mussten die Männer gegen die Strömung ankämpfen und das unhandliche Boot flussaufwärts schleppen. Nach zwanzig Minuten größter Anstrengung hatten sie erst einhundert Meter geschafft, aber Juan ließ sie anhalten, da er meinte, sie seien weit genug vorgedrungen, um vor neugierigen Blicken sicher zu sein.

Er seufzte, während er sich von dem schweren Draeger-Gerät befreite und es in das halb versunkene Boot legte. »Das tut gut.«

»Meine Fingerspitzen sehen wie weiße Trockenpflaumen aus«, beklagte sich Mark und hielt sie ins Mondlicht.

»Still«, warnte Juan im Flüsterton. »Okay, Freunde, ihr wisst ja, was als Nächstes kommt. Je schneller wir es hinter uns bringen, desto mehr Schlaf bekommen wir.«

Jede der Stahlplatten, die benutzt worden waren, um das RHIB im Wasser abzusenken, wog fünfzig Pfund, eine keinesfalls unzumutbare Last für Männer in bester körperlicher Verfassung. Aber da waren Hunderte, die hochgehievt und über den Bootsrand in den Fluss geworfen werden mussten. Die Männer arbeiteten wie Maschinen, vor allem Jerry Pulaski. Für jede Platte, die Murph oder Mike Trono über den Bootsrand wuchteten, beförderte er zwei in den Fluss. Langsam, unendlich langsam, begann das Boot aufzutauchen: wie eine schleimige Amphibie aus einem urweltlichen Schlamm. Sobald sich der Bootsrand über dem Wasserspiegel befand, setzte Murph eine batteriebetriebene Pumpe ein. Der ständige ablaufende Wasserstrom klang wie ein plätschernder Bach.

Es dauerte eine Stunde, und als sie ihr Werk vollbracht hatten, streckten sich alle vier auf dem immer noch nassen Deck aus und lagen dort wie tot.

Juan war der Erste, der sich aufraffte. Er empfahl seinen Männern zu schlafen und sagte Jerry Bescheid, dass er die zweite Wache hätte. Die nächtlichen Dschungelgeräusche wurden gelegentlich von einem leisen Schnarchen begleitet.

Zwei Stunden später, kurz nach Tagesanbruch, verließ das RHIB den kleinen Nebenarm und kehrte auf den Hauptfluss zurück. Die Luftzellen, die sie geleert hatten, hingen nun schlaff herab. Doch auf dem ruhigen Wasser und mit einer derart geringen Ladung würden sie die Manövrierfähigkeit des Bootes gewiss nicht einschränken.

Die vier Männer trugen jetzt argentinische Kampfuniformen mit den Insignien der Neunten Brigade und deren typischen kastanienbraunen Tellermützen. Die Neunte war eine bestens ausgebildete und ausgerüstete paramilitärische Einheit und unterstand General Corazón persönlich. Mit anderen Worten: eine Todesschwadron.

Cabrillo wusste, wenn er die Rolle eines Offiziers der Neunten Brigade spielte, würde er sie aus jeder noch so haarigen Situation heil herausholen.

Mit einer Pilotenbrille vor den Augen, wie sie von den Angehörigen der Neunten Brigade gerne getragen wurde, seine Mütze in einem verwegenen Winkel auf dem Kopf, stand er am Steuer des RHIB. Hinter ihm schleuderten die beiden Außenbordmotoren eine Wand aus weißer Gischt in die Luft, während der Bug wie eine Rakete über das ruhige Wasser schoss. Mike und Murph standen neben ihm, Heckler-&-Koch-Maschinenpistolen, ein Markenzeichen der Neunten, über den Rücken geschlungen. Jerry lag noch immer zusammengerollt wie ein Hund auf dem Glasfiberboden und schaffte es irgendwie, trotz des Motorenlärms zu schlafen.

Die Nadel des Geschwindigkeitsmessers zitterte dicht unter der Sechzig-Stundenkilometer-Marke.

Nach einer Fahrt von zwanzig Minuten flussabwärts kamen sie zum ersten Dorf. Es war unmöglich festzustellen, vor wie langer Zeit es zerstört worden sein mochte – die Menge an Vegetation, die sich der ausgebrannten Hüllen strohgedeckter Hütten bemächtigt hatte, ließ Juan eher auf Monate als auf Wochen tippen. Das Land hinter dem Dorf, das für eine landwirtschaftliche Nutzung gerodet worden war, musste sich dem wieder vorrückenden Dschungel ebenfalls geschlagen geben.

»Jetzt weiß ich, wie sich diese Typen gefühlt haben müssen, die in Apokalypse Now den Fluss raufgefahren sind«, sagte Mike.

Nirgendwo lagen Leichen herum – Tiere mochten kurz nach dem Überfall für ihr Verschwinden gesorgt haben. Aber die Spuren des grausamen Geschehens waren noch im Überfluss vorhanden. Der aus gemauerten Gebäuden bestehende Ortskern war durch Sprengstoff zerstört worden. Zementbrocken waren bis zum Flussufer geschleudert worden, und die wenigen noch halbwegs intakten Mauern waren von Maschinengewehrkugeln durchlöchert worden. Der Boden war von zahllosen Explosionstrichtern aufgewühlt, die von den Geschützgranaten stammten, mit deren Feuer man die verängstigten Menschen auf ihre Felder hinausgetrieben hatte, wo die Argentinier dann einen Pferch aus Soldaten aufgestellt hatten. Die Dorfbewohner waren mitten in ein Massaker hineingerannt.

»Gütiger Gott«, stöhnte Murph, während sie daran vorbeijagten. »Warum nur? Warum haben sie das getan?«

»Ethnische Säuberung«, erklärte Juan und presste die Lippen zu einer schmalen, grimmigen Linie zusammen. »So weit im Norden, da waren die Dorfbewohner wahrscheinlich Indios. In Geheimdienstberichten, die ich gelesen habe, ist davon die Rede, dass die Regierung in Buenos Aires die letzten wenigen Ansiedlungen von Eingeborenen im Land ausradieren will. Und um euch eine Vorstellung von den Typen zu geben, die wir verkörpern« – er deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der kleinen Ortschaft –, »das ist höchstwahrscheinlich das Werk der Neunten Brigade.«

»Wie reizend«, stieß Mike voller Abscheu hervor. Er schob seine Mütze unter eine Epaulette auf seiner Schulter, so dass sein Haar frei im Fahrtwind flatterte.

»Das Gleiche geschieht gerade in den kleinen und größeren Städten. Überall, wo sie Eingeborene finden, treiben sie sie zusammen und schaffen sie entweder in Arbeitslager am Amazonas, oder sie lassen sie einfach verschwinden. Dieses Land ist mittlerweile eine Mischung aus Nazideutschland und dem Japan zur Kaiserzeit.«

»Wie viele Indios sind denn noch übrig?«

»Etwa sechshunderttausend gab es vor dem Putsch. Gott allein weiß, wie viele sie bereits getötet haben. Aber wenn dieses Regime noch für einige Jahre an der Macht bleibt, werden sie alle sterben.«

Sie passierten ein Fährschiff, das mühsam stromaufwärts stampfte. Es war groß genug für acht Automobile und vierzig Personen auf dem Oberdeck. Die Lastwagen trugen eine Tarnfarbenlackierung, und die Männer an der Reling waren Soldaten. Sie winkten dem rasenden RHIB zu und riefen spanische Worte herüber. Die drei Männer am Steuer blieben ihren Rollen treu und ließen sich nicht dazu herab, darauf zu antworten. Als die argentinischen Soldaten nahe genug herangekommen waren, um die braunen Mützen zu erkennen, verstummten ihre fröhlichen Rufe sofort. Die meisten hatten plötzlich das Bedürfnis, sich anzusehen, was auf der anderen Seite des alten Kahns passierte.

Auf dem Fluss herrschte nur wenig Verkehr. Vorwiegend waren es handgefertigte Pirogen, die mit einzelnen Paddlern besetzt waren und in Ufernähe nach Fischen suchten. Juan fühlte sich irgendwie schuldig, als sie in die schäumende Heckwelle des RHIB gerieten, aber die Fahrt zu verlangsamen, wäre das Letzte gewesen, was ein Angehöriger der Neunten Brigade tun würde. Tatsache war, dass sie wahrscheinlich die Einbäume aufs Korn genommen und diese mitsamt ihren Insassen unter Wasser gepflügt hätten.

Zweieinhalb Stunden zügiger Fahrt flussabwärts brachte sie zu einem Nebenfluss, der etwa halb so breit wie der Hauptfluss schien. Es war der Rio Rojo, der seinen Namen dem stark eisenhaltigen Uferschlamm in seinem Oberlauf zu verdanken hatte. Und in der Tat war das Wasser rötlich braun und erinnerte an eine Blutwolke, die von der Strömung verteilt wurde. Pulaski war mittlerweile aufgewacht. Er und Mike suchten den Fluss aufmerksam nach irgendwelchen Anzeichen ab, dass sie beobachtet wurden. Aber da war nichts als der Fluss und der Dschungel, der sich ihnen als eine solide Wand vielfältigster üppiger Vegetation darbot.

»Alles klar«, machte sich Mark über dem Dröhnen der Motoren bemerkbar.

»Alles klar«, antwortete Jerry vom Bug aus und ließ sein Fernglas sinken.

Juan nahm das Gas so weit zurück, dass sie die scharfe Kurve schafften, und schob die Gasregler wieder nach vorn, sobald der Bug stromaufwärts zeigte. Der Rio Rojo war weniger als fünfzig Meter breit, und die hoch aufragenden grünen Pflanzenwände rechts und links von ihnen schienen sich über ihren Köpfen zu treffen und verliehen dem Sonnenlicht einen grünlichen Schimmer. Es war, als bewegten sie sich durch einen Tunnel. Ihre Heckwelle schäumte über die Lehmufer und löste Erdbrocken, die im Wasser versanken und sich auflösten.

Sie begnügten sich mit einem mäßigen Tempo, denn nach weniger als fünf Minuten trafen sie wie erwartet auf einen Schlepper, der im Hochland gefällte Baumstämme hinter sich herzog. Der Schlepper war eine buglastige Schute mit Holzrumpf. Schwarzer Qualm wallte aus ihrem Auspuff und aus dem Maschinengehäuse am Heck. Die Baumstämme trieben im Wasser und wurden durch die äußeren Stämme zusammengehalten, die zu diesem Zweck aneinandergekettet waren. Cabrillo schätzte, dass es mindestens zweihundert sechs Meter lange – wie es schien – Mahagonistämme waren. Er vermutete, dass eine größere Ladung in diesem engen Fluss zu unhandlich gewesen wäre.

»Kein Funkmast«, stellte Mark Murphy fest.

»Wahrscheinlich haben sie ein Satellitentelefon«, erwiderte Juan. »Aber ich glaube nicht, dass sie uns erwähnen werden. Sie erkennen, dass wir zur Neunten Brigade gehören, und wollen keinen Ärger mit uns.«

Sie hielten sich auf der rechten Seite des Kanals, als sie das Holzschiff passierten. Kein Angehöriger der Mannschaft erlaubte sich auch nur eine knappe Begrüßungsgeste. Im Gegenteil, die drei Männer auf dem Schlepper blickten die ganze Zeit über beharrlich stromabwärts.

Sobald sie wieder freie Bahn hatten, schob Juan die Gashebel weiter nach vorn, musste jedoch schon Sekunden später wieder das Tempo drosseln. Ein beinahe identischer Schleppzug tauchte vor ihnen auf. Dieser kam gerade um eine scharfe Flussbiegung herum und befand sich auf Cabrillos Flussseite. Die Tradition verlangte es, dass Juan sein Boot stoppte, bis die schwimmende Holzladung die Biegung hinter sich hatte und sich wieder auf Kurs befand. Doch die überheblichen Soldaten einer paramilitärischen Elitetruppe interessierten sich nicht die Bohne für flussschiffahrtstechnische Gepflogenheiten.

Auf Spanisch rief Juan: »Halten Sie an, und lassen Sie uns passieren!«

»Ich kann nicht«, rief der Schiffskapitän zurück.

Er hatte gar nicht nachgesehen, wer ihn angesprochen haben mochte. Stattdessen beobachtete er, wie die treibende Masse Baumstämme sich der kurveninneren Seite immer mehr näherte. Falls sie das Ufer rammte, war es möglich, dass sein Boot nicht stark genug war, um die Baumstämme wieder frei zu schleppen. Es wäre kein ungewöhnliches Vorkommnis, und die Mannschaft würde Stunden brauchen, um einige der Baumstämme aus dem Verbund zu lösen, um die restliche Ladung frei zu bekommen. Und weitere Stunden, um die Ladung für die Weiterfahrt zu ordnen.

»Das war keine Bitte, sondern ein Befehl«, sagte Juan und verlieh seiner Stimme einen zornigen Unterton.

Einer der Deckhelfer klopfte dem Bootskapitän auf die Schulter. Der Mann blickte schließlich zu dem RHIB mit seiner Besatzung Soldaten hinüber, die braune Mützen trugen. Unter seinem Zweitagebart erbleichte er.

»Ist ja schon gut«, sagte er mit der Schicksalsergebenheit der Machtlosen im Angesicht der Unterdrückung. Dann nahm er das Gas zurück, und augenblicklich drückte die Strömung die Ladung gegen das Ufer. Ein Dutzend Baumstämme, so dick wie Ölfässer, wurden auf die Böschung geworfen. Der Aufprall ließ einen Teil der Kette abreißen, und Bruchstücke verrosteter Kettenglieder wirbelten durch die Luft. Der qualmende Schlepper drehte sich langsam in der Strömung und presste die Ladung weiter gegen das Ufer, um gleichzeitig den Kanal für Cabrillo und sein RHIB zu öffnen. Baumstämme, die sich bereits losgerissen hatten, trieben einzeln den Fluss hinab.

Getreu seiner Rolle winkte Juan dem Mann mit einem spöttischen Grinsen zu und schob die Gashebel nach vorn.

Bedauernd schüttelte Murph den Kopf. »Er braucht bestimmt fast den ganzen Tag, um alles wieder in Ordnung zu bringen.«

»Hätten wir gewartet, bis er die Biegung hinter sich hatte, wäre ihm das sicher seltsam vorgekommen«, hielt Mike Trono ihm entgegen. »Da ist es bestimmt besser, wenn wir ihnen das Leben ein wenig sauer machen, als wenn sie uns unangenehme Fragen stellen. Juan beherrscht Spanisch wie seine Muttersprache, aber ich habe schon beim Lesen einer mexikanischen Speisekarte Probleme.«

Sie setzten die Fahrt flussaufwärts fort, passierten einen weiteren Schlepper mit einer Holzladung, bevor das GPS-Handgerät anzeigte, dass sie sich der Absturzstelle so weit genähert hatten, wie es auf dem Fluss überhaupt möglich war. Nachdem sie etwa einen halben Kilometer ganz langsam weitergefahren waren, fanden sie einen kleinen Zufluss, in den Juan das Boot rückwärts hineinbugsierte. Das Bächlein bot kaum ausreichend Platz für den Rumpf des RHIB, und der Dschungel kratzte an den schlaffen Gummifendern des Bootes.

Jerry Pulaski schlang eine Leine um einen vermodernden Baumstumpf, während Juan die Motoren ausschaltete. Nach so vielen Stunden, die er ihrem heiseren Röhren ausgesetzt gewesen war, brauchte Cabrillo einige Sekunden, um durch das Klingeln in seinen Ohren die Geräusche des Dschungels wahrzunehmen. Ohne besondere Anweisung begannen die Männer, das Boot zu tarnen, indem sie Zweige und Laub von verschiedenen Bäumen pflückten und schnitten, kleine Büsche aus dem Erdreich gruben und einen raffinierten Sichtschirm um den Bug des RHIB flochten. Als sie ihr Werk schließlich vollbracht hatten, war das Boot bis auf anderthalb Meter Entfernung völlig unsichtbar.

»Nun, Freunde«, sagte Juan, während sie ihre Kommunikationsgeräte und die anderen Ausrüstungsgegenstände zusammensuchten, darunter ein eigens für Jerry angefertigtes Tragegeschirr, um den Plutoniumsicherheitsbehälter darin zu transportieren, »unsere fröhliche Flussfahrt ist nun vorbei. Jetzt beginnt der Ernst des Lebens. Ich gehe an der Spitze. Mike, du bildest die Nachhut. Verhaltet euch leise und unauffällig. Wir müssen davon ausgehen, dass die Argies ihre eigenen Trupps hier draußen haben und nach den Trümmern suchen oder zumindest Nachforschungen anstellen. Seid also wachsam.«

Die Männer, die Gesichter mit Tarnfarbe beschmiert, womit sie so furchterregend aussahen wie Indios auf dem Kriegspfad, nickten stumm, während sie aus dem Boot stiegen und das morastige Ufer betraten. Sie wandten sich landeinwärts und folgten einem Wildpfad, der in etwa parallel zu dem kleinen Bach verlief. Die Temperatur betrug erträgliche fünfundzwanzig Grad Celsius, und die Luftfeuchtigkeit war ein wenig höher. Schon nach wenigen Minuten lief ihnen der Schweiß aus den Poren.

Während der ersten zwei Kilometer spürte Cabrillo, wie sich nach ihrem Weg durch den Fluss jeder Muskel verkrampfte und schmerzend protestierte. Doch je länger sie marschierten, desto mehr machten sich die unzähligen Bahnen bezahlt, die er im Lauf seines Lebens geschwommen war. Er bewegte sich zunehmend geschmeidig, wobei seine Stiefel den lehmigen Boden kaum zu berühren schienen. Selbst sein Beinstumpf fühlte sich gut an. Zwar war er eher an weite, offene Räume gewöhnt – ans Meer oder an die Wüste –, doch seine anderen Sinne machten wett, was seine Augen nicht sehen konnten. Ein leichter Holzrauchgeruch lag in der Luft – von einem Holzfällerbetrieb, wie er wusste –, und als der erschrockene Ruf eines Vogels aus dem Blätterdach des Dschungels an seine Ohren drang, hielt er inne und versuchte festzustellen, was den Vogel aufgescheucht hatte. War es ein Raubtier gewesen oder jemand, der denselben Weg benutzte wie Juans Team?

Die geistige Anspannung, die für das Schleichen durch den Dschungel benötigt wurde, wirkte physisch genauso erschöpfend wie der ständige Kampf gegen das Dickicht, das ihnen den Weg versperrte.

Etwas zu seiner Linken fiel Juan ins Auge. Augenblicklich sank er auf ein Knie herab und gab den Männern hinter ihm mit der Hand ein Zeichen, seinem Beispiel zu folgen. Cabrillo studierte den Punkt, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte, durch das Visier seiner Maschinenpistole. Ein kurzer Adrenalinstoß in seinem Kreislauf schien seine Sehschärfe noch zu steigern. Er nahm keinerlei Bewegung wahr, nicht einmal einen Lufthauch, der das Laub zum Rascheln brachte. So tief unter dem Laubdach der Bäume war jede Luftbewegung eine Seltenheit. Vorsichtig drehte er sich um und veränderte seinen Blickwinkel in winzigen Schritten.

Dort.

Ein matt metallisches Leuchten. Nicht der schwarze, harte Glanz einer auf ihn gerichteten modernen Waffe, sondern der graue Schimmer alten Aluminiums, das den Elementen ungeschützt ausgesetzt war. Ihrem GPS zufolge waren sie noch immer mehrere Kilometer von dort entfernt, wo die Energiezelle gelandet sein sollte, und er fragte sich für einen Augenblick, ob sie möglicherweise auf andere Trümmerteile des abgestürzten Satelliten gestoßen waren.

Immer noch geduckt und mit der MP-5 an der Schulter verließ er den Pfad und vertraute darauf, dass alles, was nun seinem Blick entging, von seinen Männern registriert wurde. Er näherte sich dem unbekannten Objekt mit der Geduld und Wachsamkeit einer Dschungelkatze. Aus anderthalb Metern Entfernung gewahrte er die Umrisse von etwas Großem im Unterholz. Was auch immer es sein mochte, es war ganz sicher kein Teil des abgestürzten Orbiters.

Er benutzte den Lauf seiner Waffe, um ein paar Schlingpflanzen zur Seite zu schieben, die von einem Baum herabhingen, und gab dann einen überraschten Laut von sich. Sie hatten etwas entdeckt, das wie das Cockpit eines abgestürzten Flugzeugs aussah. Die Windschutzscheibe war schon vor langer Zeit geborsten, Kriechpflanzen waren eingedrungen und hatten sich wie ein Krebsgeschwür auf den Sitzen und den Innenwänden ausgebreitet. Aber was seine Aufmerksamkeit tatsächlich fesselte, war das, was auf dem Pilotensitz lag. Von dem Körper war wenig übrig, nur noch ein braungrünes Skelett, das sich gewiss schon bald ganz auflösen und mit dem Sitz verschmelzen würde. Die Kleidung war längst verfault, aber im Beckengürtel und im gedämpften Sonnenlicht lag hell glänzend ein Messingstreifen, der, wie Juan wusste, der Reißverschluss des Unbekannten gewesen sein musste.

Er stieß einen leisen Pfiff aus, und Sekunden später näherten sich Mark Murphy und Jerry Pulaski. Mike blieb in der Nähe des Pfades und hielt ihnen den Rücken frei.

»Was meint ihr?«, fragte Juan leise.

»Sieht so aus, als läge dieses Flugzeug schon eine ganze Weile hier«, sagte Jerry und schlug nach einem mausgroßen Käfer, der auf seinem Nacken gelandet war.

Marks Gesichtsausdruck verriet, dass er angestrengt nachdachte, dann aber riss er die Augen weit auf. »Das ist kein Flugzeug«, sagte er mit geradezu andächtiger Stimme. »Das ist der Flying Dutchman.«

»Verzeiht mir meine Unkenntnis, aber war die oder der Flying Dutchman nicht ein Geisterschiff?«, erwiderte Jerry Pulaski.

»Der Flying Dutchman war ein Blimp, ein Prallluftschiff«, erklärte Mark und deutete auf das Cockpit. »Schau mal zwischen die Sitze. Siehst du das große Rad? Damit wurde die Flughöhe des Blimp gesteuert. Wenn man es nach vorn dreht, wird damit das Höhenruder an der Heckflosse bewegt, und der Blimp senkt die Nase. Dreht man das Rad nach hinten, steigt die Nase hoch.«

»Wie kommst du darauf, dass dies der Flying Dutchman ist und nicht irgendein verschollenes Marineflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg?«

»Weil wir jeweils mindestens fünfzehnhundert Kilometer sowohl vom Atlantik als auch vom Pazifik entfernt sind, und der Flying Dutchman ist verschwunden, während er nach einer versunkenen Stadt im Dschungel suchte.«

»Okay«, sagte Juan. »Dann erzähl doch mal von Anfang an.«

Mark konnte den Blick von der zerschmetterten Gondel des Luftschiffes nicht abwenden. »Als Kind war ich irgendwie ganz wild auf Blimps und Zeppeline. Es war eine Mode, so etwas wie ein Hobby. Davor waren es Dampflokomotiven.« Als er die Mienen der beiden sah, die ihn anstarrten, fügte er hinzu: »Ich geb ja zu, ich war ein Streber.«

»Warst?«, fragte Jerry mit todernster Miene.

»Wie dem auch sei, ich habe jedenfalls viele Bücher über Luftschiffe gelesen, über ihre Geschichte. Wie zum Beispiel die Story von L-8, einem Blimp der Navy, der im August 1942 in San Francisco zu einer Patrouillenfahrt startete. Nach zwei Stunden reinster Routine meldete die Zwei-Mann-Crew einen Ölfleck. Und zwei Stunden später kam der Blimp zurück. Allerdings ohne die Männer. Der einzige Hinweis war, dass zwei Schwimmwesten fehlten.«

»Was hat das denn mit dieser Sache hier zu tun?«, fragte Juan ein wenig ungehalten. Mark Murphy war der intelligenteste Mensch, den Cabrillo je kennengelernt hatte, und er neigte dazu, in Bereiche abzuschweifen, die bewiesen, dass er ein nahezu fotografisches Gedächtnis hatte.

»Na ja, eine andere Geschichte von einem verschollenen Blimp ist der Flying Dutchman. Ich hoffe, ich bekomme sie noch richtig zusammen. Nach dem Krieg kauften ein ehemaliger Blimp-Pilot der Navy und ein paar seiner Freunde ein ausgemustertes Luftschiff, um damit über dem südamerikanischen Dschungel umherzufliegen und nach einer Inka-Stadt zu suchen, höchstwahrscheinlich war es das sagenhafte El Dorado. Sie bauten den Blimp um, so dass er mit Wasserstoff flog. Das Zeug ist zwar unendlich explosiv, aber sie konnten es mittels Elektrolyse selbst herstellen.«

»Schatzsucher?«, fragte Pulaski zweifelnd.

»Ich habe nicht behauptet, dass sie recht hatten«, verteidigte sich Mark. »Ich sage nur, dass es sie gab.«

»Das ist ja alles schön und gut«, bemerkte Cabrillo und wandte sich von dem Cockpit und seinem grässlichen Insassen ab. »Ich habe die Lage auf dem GPS markiert, aber wir haben eine Mission durchzuführen.«

»Gib mir fünf Minuten«, flehte Mark.

Juan überlegte kurz. Und nickte dann.

Murph bedankte sich mit einem Grinsen. Er kroch durch die Öffnung, wo die Tür der Gondel abgerissen sein musste, als der Zeppelin in den Dschungel gestürzt war. Links von ihm befanden sich die beiden Pilotensitze und die Kontrollen. Rechts die eigentliche Kabine. Sie wirkte so praktisch und gemütlich wie ein Reisemobil. Und verfügte über zwei Kojen, eine Kochnische mit einer Elektrokochplatte und ein Dutzend Schränke. Er öffnete sie nacheinander und durchwühlte sie auf der Suche nach irgendwelchen Hinweisen. Als er nichts anderes fand als Fäulnis und Schimmel oder altes Besteck, das die Männer zum Zubereiten ihrer Mahlzeiten benutzt hatten, suchte er weiter.

In einem Spind fand er die metallenen Überreste eines Klettergürtels. Die Seile und Bänder hatten sich zu einem Schleim aufgelöst, aber die Teile aus Stahl waren im Laufe der Jahre unverändert geblieben. Er begriff sofort, dass sie die Gurte dazu benutzt hatten, einen von ihnen aus der Gondel hinabzulassen, um den Erdboden zu untersuchen. Er landete schließlich einen Treffer, als er die verrosteten Überreste einer Kaffeekanne öffnete, die auf dem kleinen Klapptisch zurückgelassen worden war.

Er verfluchte sich selbst, weil er ihre Bedeutung nicht sofort erkannt hatte. Die Kanne wäre sicherlich auf den Fußboden gerollt, als der Blimp abgestürzt war. Sie hätte niemals auf dem Tisch stehen dürfen, es sei denn, jemand hatte sie dorthin gestellt. Ein Überlebender. In der Kanne fand er eine etwa fünfzehn Zentimeter lange Gummihülle. Es dauerte noch einen Moment, bis er erkannte, dass es ein Kondom war. Dem Gefühl nach war irgendetwas hineingesteckt worden – Papier, wahrscheinlich – ein letzter Logbucheintrag? Das offene Ende war zugeknotet worden.

Nachdem es sechzig Jahre dort gelegen hatte, war dies sicher nicht der richtige Zeitpunkt und auch nicht der richtige Ort, um es zu öffnen. Er brauchte die Konservierungsvorrichtungen auf der Oregon, wenn er mehr erfahren wollte. Sorgfältig verstaute er das Prophylacticum in einem wasserdichten Beutel und steckte es in seine Gürteltasche.

»Es wird Zeit«, sagte Juan. Der Dschungel war so dicht, dass seine Stimme wie aus dem Nichts zu kommen schien, dabei war er nur einige Schritte entfernt.

»Ich bin fertig.« Mark tauchte aus der Gondel auf. Während er ein letztes Mal zurückschaute, schwor er sich, die Namen der Männer, die hier abgestürzt waren, zu ermitteln und ihre noch lebenden Angehörigen zu informieren.