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Houston, Texas
Tom Parker hatte keine Ahnung, auf was er sich einließ, als er in die NASA eintrat. Zu seiner Ehrenrettung muss gesagt werden, dass er im ländlichen Vermont aufgewachsen war und dass seine Eltern niemals einen Fernsehapparat besaßen, da der Empfang auf der Seite des Berges, wo sie Milchkühe hielten, ganz miserabel war.
Er wusste an seinem ersten Tag im Johnson Space Center, dass etwas Besonderes geschah, als seine Sekretärin eine wunderschöne mundgeblasene Glasflasche auf die Anrichte hinter seinem Schreibtisch stellte und sagte, sie sei für Jeannie. Er bat sie um eine Erklärung, und als sie erkannte, dass er keine Ahnung hatte, wer oder was Jeannie war, kicherte sie nur und bemerkte geheimnisvoll, dass er das schon bald herausfinden werde.
Als Nächstes wurde ein handbemalter Blasebalg anonym an sein Büro geliefert. Wieder wusste Parker nicht, was das zu bedeuten hatte, und bat um eine Erklärung. Mittlerweile hatten mehrere andere Frauen im Sekretariat seine Unkenntnis bemerkt, wie auch sein Vorgesetzter, ein Air Force Colonel, der den Posten des stellvertretenden Direktors des Astronauten-Trainingsprogramms bekleidete.
Das letzte Teil des Puzzles war ein handsigniertes Foto von einem Mann Mitte bis Ende fünfzig, mit schütterem rotem Haar und strahlend blauen Augen. Parker brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass die Signatur von Hayden Rorke stammte. Die Internetrecherche steckte damals noch in den Kinderschuhen, daher musste er sich in der örtlichen Bibliothek kundig machen. Dies führte schließlich zu der Entdeckung, dass Rorke ein Schauspieler war, der einen NASA-Psychologen namens Alfred Bellows gespielt hatte, der ständig von Astronaut Anthony Nelson und dem weiblichen Dschinn, den dieser an einem Strand gefunden hat, geärgert wird. Und Bellows war gleichzeitig die Bezeichnung für einen gefalteten Blasebalg, wie er ihn geschenkt bekommen hatte. Dr. Tom Parker war NASA-Psychiater, und die Witze von der Bezaubernden Jeannie hörten niemals auf. Nach fast zehn Jahren Tätigkeit im Programm besaß Parker Dutzende von Glasflaschen, die der ähnlich sahen, die Jeannies Zuhause war, sowie handsignierte Fotos von den meisten Mitwirkenden und dazu auch noch mehrere von Sidney Sheldons Manuskripten.
Er justierte die Webcam an seinem Laptop, um der Bitte von Bill Harris, seinem gegenwärtigen Patienten, zu entsprechen.
»So ist es besser«, sagte Bill Harris von Wilson/George. »Ich habe nämlich ein Bild von Larry Hagman gesehen, dabei jedoch Ihre Stimme gehört.«
»Wenigstens sieht er besser aus«, witzelte Parker.
»Richten Sie die Kamera auf Barbara Eden, und Sie versüßen mir den Tag.«
»Wir haben uns über die anderen Mitglieder Ihres Teams unterhalten. Sie verlassen die Antarktis in ein oder zwei Tagen. Wie ist die Stimmung?«
»Eigentlich enttäuscht«, sagte der Astronaut. »Eine Sturmfront zieht in unsere Richtung. Die Wetterfrösche in McMurdo meinen, dass sie nur ein paar Tage anhalten wird, aber wir haben alle Daten gesehen. Der Sturm liegt über der gesamten verdammten Antarktis. Wir sitzen für eine Woche oder noch länger fest, und danach wird es ein paar weitere Tage dauern, um ihre und unsere Rollbahnen freizuräumen.«
»Wie fühlen Sie sich deswegen?«, fragte Parker. Er und der ehemalige Testpilot hatten sich während der vergangenen Monate oft genug unterhalten, um ein ehrliches Gespräch zu führen. Er wusste, dass Harris mit seiner Antwort nichts schönreden würde.
»Genauso wie alle anderen«, sagte Bill. »Es ist hart, wenn ein Ziel in weite Ferne rückt, aber deshalb sind wir ja hier, stimmt’s?«
»Genau. Ich will vor allem wissen, wie das Ganze Andy Gangle beeinflusst hat.«
»Da er nicht mehr draußen herumwandern kann, verbringt er jetzt die meiste Zeit in seinem Zimmer. Um ehrlich zu sein, ich habe ihn schon seit zwölf oder mehr Stunden nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war es im Gemeinschaftsraum. Er kam kurz durch und hatte es wohl eilig. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe, und er murmelte nur ein Gut und ging gleich weiter.«
»Würden Sie sagen, dass sein asoziales Verhalten schlimmer geworden ist?«
»Nein«, sagte Bill. »Es ist etwa gleich geblieben. Er war asozial, als er hierherkam, und er ist jetzt asozial.«
»Ich weiß, dass Sie erwähnten, Sie hätten während der letzten Monate versucht, ihn zu beschäftigen. Haben das auch andere getan?«
»Wenn es jemand versucht hat, wurde er abgeschossen. Ich sagte früher schon mal, dass die Screener, die ihm erlaubt haben, hier unten zu überwintern, einen Fehler gemacht haben. Er ist für diese Art von Isolation nicht geschaffen, zumindest nicht als funktionierendes Mitglied eines Teams.«
»Aber, Bill«, sagte Parker und beugte sich zu seiner Laptopkamera vor, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, »was geschieht, wenn Sie in einer Raumstation oder auf halbem Weg zum Mond sind und erkennen, dass den Ärzten, die Ihre Mannschaftskameraden gescreent haben, ein ähnlicher Fehler unterlaufen ist?«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie auch schon mal Mist bauen?«, fragte Harris mit einem leisen Kichern.
»Nein«, meinte Parker lächelnd, »aber die anderen Mitglieder des Beurteilungskomitees könnten es tun. Was würden Sie dann machen?«
»Erst einmal dafür sorgen, dass die betreffende Person ihren Beitrag leistet. Wenn jemand nicht reden will, okay, aber er muss seinen Job erledigen.«
»Und wenn die Person sich weigert?«
Bill Harris blickte plötzlich über die Schulter, als hätte er etwas gehört.
»Was ist los?«, fragte der Psychiater.
»Das klang eben wie ein Pistolenschuss«, erwiderte Harris. »Ich bin gleich zurück.«
Parker sah, wie der Astronaut von seinem Stuhl aufstand. Er war auf halbem Weg zur offenen Tür seines Zimmers in der abgelegenen Eisstation, als plötzlich etwas Verschwommenes über die Schwelle glitt. Harris taumelte zurück, und dann traf etwas die Webcam. Parker war die Sicht vollkommen versperrt. Er starrte mehrere Sekunden auf seinen Laptopschirm. Nicht lange, und die Schwärze auf dem Schirm nahm einen rötlichen Schimmer an. Je mehr Zeit verstrich, desto heller wurde das Bild und wandelte sich von einem tiefen Blau über ein helles Aubergine bis zu einem klaren Rot.
Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass das, was die Kamera gerade getroffen hatte, ein Blutklumpen war, der langsam von der Linse rutschte. Parker konnte wegen des blutigen Belags nur wenige Details erkennen, aber von Bill Harris war nichts zu sehen, und die Audioverbindung übermittelte eindeutig die Schreie einer Frau.
Eine ganze Minute verstrich, ehe ihre Stimme abrupt verstummte. Parker blickte weiter auf den Bildschirm, aber als sich dann etwas durch die Türöffnung bewegte, war es wieder nur ein verschwommenes Etwas. Es sah aus, als hätte es die Konturen eines Mannes, aber er konnte unmöglich erkennen, wer es sein mochte.
Er vergewisserte sich, dass sein Computer automatisch speicherte, genauso, wie er es in allen Sitzungen mit seinen Fernpatienten tat. Alles befand sich sicher auf der Festplatte. Als Vorsichtsmaßnahme schickte er die Dateien per E-Mail an sich selbst, so dass er immer eine Sicherung hatte, und schickte auch eine Kopie davon an seinen Chef.
Er ließ seinen Computer die Aufnahmen der nunmehr stummen Webcam in der Wilson/George-Station weiter speichern, griff nach dem Telefon und wählte die direkte Nummer seines Vorgesetzten.
»Keith Deaver.«
»Keith, hier ist Tom. Wir haben Schwierigkeiten in Wilson/George. Schauen Sie sich die E-Mail an, die ich Ihnen gerade geschickt habe. Gehen Sie die Datei bis zu den letzten fünf Minuten durch. Rufen Sie mich an, wenn Sie fertig sind.«
Sechs Minuten später schnappte sich Tom den Telefonhörer, ehe das erste Klingelzeichen verstummt war. »Was halten Sie davon?«
»Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass es in der Station keine Pistolen gibt, aber ich vermute, das war ein Schuss.«
»Das denke ich auch,« erwiderte Parker. »Um aber sicher zu sein, brauchen wir einen Experten, damit er sich das anhört und all das tut, was die Cops im Fernsehen in einer solchen Situation auch tun. Das ist schlimm, Keith. Ich weiß nicht, ob Sie mein Gespräch mit Bill mitbekommen haben, aber McMurdo kann für eine Woche oder länger kein Flugzeug losschicken. Sie können sich noch nicht einmal einen visuellen Eindruck verschaffen.«
»Wer leitet diese Einrichtung?«
»Penn State überwacht sie rund um die Uhr, wenn Sie das meinen.«
»Haben Sie dort einen Kontakt?«
»Ja. Ah, ich glaube, sein Name ist Benton. Ja, das ist er, Steve Benton. Er ist Klimatologe oder so etwas.«
»Rufen Sie ihn an. Sehen Sie nach, ob ihre telemetrischen Daten weiter gesendet werden. Überprüfen Sie außerdem, ob es dort noch andere Webcams gibt und ob sie in Betrieb sind. Wir sollten uns mit McMurdo in Verbindung setzen und ihnen mitteilen, was da los ist, und bringen Sie in Erfahrung, ob sie wirklich nicht eher ein Flugzeug nach Wilson/George schicken können.«
»Dort habe ich auch einen Kontakt«, sagte Parker, »im U. S. Antarctic Program. Sie werden von der National Science Foundation unterhalten.«
»Okay. Ich wünsche stündliche Updates, und veranlassen Sie, dass ab jetzt auch jemand Ihren Computer überwacht. Ich schicke Ihnen Hilfspersonal, wenn Sie es brauchen.«
»Ich hole meine Sekretärin, während ich die Telefonate erledige, aber später komme ich im Laufe des Tages wahrscheinlich auf Ihr Angebot zurück.«
Verglichen mit der üblichen Bürokratie schien die Zeit, die nötig war, um die Dinge ins Laufen zu bringen, bemerkenswert kurz. Bis zum Ende des Tages hatte sich ein Angehöriger der Polizei von Houston die Tonaufnahme der Webcam angehört, konnte jedoch nicht eindeutig entscheiden, ob das Geräusch ein Pistolenschuss war oder nicht. Er war sich zwar zu fünfundsiebzig Prozent sicher, dass es ein Schuss gewesen war, wollte sich aber nicht darauf festlegen. Der Flugleiter im Tower von McMurdo bestätigte, dass sämtliche Maschinen wegen des Wetters am Boden blieben und kein Notfall dringend genug war, um das Leben einer Flugzeugbesatzung aufs Spiel zu setzen. Die Verhältnisse waren in Palmer Station, der einzigen anderen amerikanischen Basis auf der Antarktischen Halbinsel, sogar noch schlechter. Daher gab es keine Chance, dass sie die Lage in Wilson/George früher überprüften. Zwar waren Fühler zu anderen Nationen ausgestreckt worden, die dort Forschungsstationen betrieben, aber die nächste war eine argentinische Einrichtung, und trotz der engen Verbindungen im wissenschaftlichen Lager hatten sie die Bitte mit Entschiedenheit zurückgewiesen.
Um zwanzig Uhr war die Nachricht über das Geschehen dem Nationalen Sicherheitsberater des Präsidenten übermittelt worden. Weil sich Wilson/George so nahe bei einer argentinischen Basis befand und es keine eindeutigen Beweise für Schüsse gab, bestand die Möglichkeit, dass sie aus irgendeinem Grund angegriffen worden waren. Bis tief in die Nacht wurden verschiedene Möglichkeiten diskutiert, und eine Anfrage schickte man an das National Reconnaissance Office, man möge doch einen Satelliten umleiten, um die isolierte Forschungsstation zu fotografieren.
Bis zum Morgen waren die Bilder analysiert worden, doch selbst die hochempfindlichen Optiken der Kameras wurden von dem Sturm beeinträchtigt, der den halben Kontinent in seinem eisigen Griff hatte.
Und dann, wie bei allen Bürokratien, erlahmte an diesem Punkt die Effizienz. Niemand wusste, was als Nächstes zu tun war. Alle Informationen, die man hatte sammeln können, waren eingehend studiert worden. Eine Entscheidung schien dringend nötig zu sein, aber es gab niemanden, der bereit war, sie zu treffen. Die anfänglich hektische Aktivität kam zu einem abrupten Ende, und die Beteiligten entschieden sich für eine Abwartehaltung.
Als Langston Overholt um kurz nach neun in Langley eintraf, ließ er sich von seiner Sekretärin eine Tasse Kaffee geben, die sie schon bereitgestellt hatte, und begab sich in sein privates Büro. Der Blick durch das kugelsichere Fenster fiel auf eine Baumgruppe in der vollen Pracht ihrer Blätter. Der Wind spielte mit den Ästen und sorgte für fraktale Schatten auf dem Rasen.
Sein Büro war spartanisch eingerichtet. Im Gegensatz zu anderen älteren Beamten in der CIA hatte Overholt keine Ego-Wand – eine Kollektion von Fotos von ihm selbst und verschiedenen hohen Würdenträgern. Er hatte es nie für nötig befunden, anderen Leuten seine Wichtigkeit zu demonstrieren. Aber bei seinem legendären Ruf war das auch nicht nötig. Jeder, der ihn hier im siebten Stock besuchte, wusste ganz genau, wer er war. Und während viele seiner Erfolge streng geheim blieben, war doch im Laufe der Jahre mehr als genug durchgesickert, um seinen Status innerhalb der Agency zu festigen. Nur wenige Fotos hingen an der Wand, vorwiegend Porträts, die während der Ferien gemacht worden waren, als seine Familie langsam gewachsen war, sowie ein sepiafarbener Schnappschuss von ihm und einem jungen Asiaten. Nur ein Experte würde erkennen, dass es sich dabei um den Dalai Lama handelte.
»Na ja, vielleicht doch ein wenig Ego«, sagte er, als er das Bild betrachtete.
Overholt las den Lagebericht, der an alle leitenden Stabsangehörigen verteilt wurde. Es war eine weitaus detailliertere Version als die, welche dem Präsidenten zugeleitet wurde, der in seiner Administration schon früh klargemacht hatte, dass er keine Lust habe, sich mit Details herumzuschlagen.
Es waren die üblichen Neuigkeiten aus aller Welt – ein Bombenattentat im Irak, ermordete Ölarbeiter in Nigeria, nordkoreanisches militärisches Muskelspiel entlang der EMZ. Dem Vorfall in der Wilson/George Station war ein Absatz auf der vorletzten Seite gewidmet, direkt unter der Meldung von der Verhaftung eines serbischen Kriegsverbrechers. Hätten die Vorfälle in einer anderen antarktischen Basis stattgefunden, hätte er gar nicht weiter darüber nachgedacht. Aber aus dem Bericht ging hervor, dass die Argentinier eine Einrichtung nur knapp fünfzig Kilometer entfernt unterhielten, und ihre kurzangebundene Weigerung, ein Team loszuschicken, um der Angelegenheit auf den Grund zu gehen, brachte Overholts sechsten Sinn auf Hochtouren. Er forderte die Videoaufnahme von Dr. Parkers Webcam an.
Er wusste sofort, was getan werden musste.
Er setzte sich mit dem Direktor der südamerikanischen Abteilung in Verbindung und erfuhr, dass Cabrillo am vorangegangenen Abend in Asunción eingetroffen war, die Energiezelle zwei Kurieren der Agency übergeben hatte und sich jetzt in einem Charterflugzeug mit Kurs auf die kalifornische Küste befand.
Overholt beendete das Gespräch und wählte eine Nummer in Houston, um mit Dr. Parker zu sprechen. Danach rief er eine überseeische Telefonvermittlung an.