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Nach fast einer Stunde unter der Dusche und einem Frühstück aus Eiern, Toast und Kräutertee – Maurice, der Schiffssteward, weigerte sich, Cabrillo etwas Koffeinhaltiges zu servieren – war Juan noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Er hätte eigentlich zu Bett gehen sollen, aber seine Daunendecke konnte ihn nicht locken. Er wusste, dass er so leicht keinen Schlaf finden würde. Nach einer kurzen ärztlichen Untersuchung hatte ihm Dr. Huxley ein leichtes Beruhigungsmittel empfohlen, doch er hatte abgelehnt. Zwar bestrafte er sich nicht für Jerrys Tod, doch irgendwie erschien ihm ein chemisch induziertes Vergessen für das Andenken seines Freundes nicht fair zu sein. Wenn ihn die Erinnerung an den großen Polen wach halten sollte, dann war das ein Preis, den Cabrillo gerne zahlen würde.

Er und die anderen waren nach einem Flug von der paraguayischen Hauptstadt zurück nach Brasilien vor drei Stunden auf der Oregon eingetroffen. Sie verbrachten die erste Stunde damit, Angehörige der Mannschaft über das zu informieren, was geschehen war, sowie zu berichten, wie Jerry sich geopfert hatte, damit sie entkommen konnten. Die Vorbereitungen für eine abendliche Gedenkfeier waren bereits in vollem Gange. Das Küchenteam bereitete typische polnische Speisen zu, darunter Piroggen, Kotlet Schabowy und Sernik, einen beliebten Käsekuchen, zum Nachtisch.

Gewöhnlich leitete Cabrillo eine solche Feier, doch auf Grund ihrer Freundschaft hatte Mike Trono gefragt, ob er diesmal die Ehre haben dürfe, das zu tun.

Juan verließ seine Kabine zu einer bedächtigen Inspektion seines Schiffes, das vor dem Hafen von Santos ankerte. Die tropische Sonne brannte auf die Stahldecks, doch der Passatwind, der durch sein weißes Leinenhemd wehte, sorgte für Kühlung. Selbst für das aufmerksamste Auge sah die Oregon aus, als sei sie reif zum Abwracken. Schrott übersäte das Deck, und wo die Farbe nicht abblätterte oder sich abschälte, war sie derart nachlässig und in unzähligen verschiedenen Farben aufgetragen, dass es aussah, als hätte das Schiff einen Tarnanstrich. Der mittlere weiße Streifen der iranischen Flagge, die über ihrem überhängenden Heck hing, schien der einzige helle Fleck auf dem alten Frachter zu sein.

Juan näherte sich einem alten Ölfass, das neben der Schiffsreling stand. Er holte ein Ohrmikrofon aus der Tasche und rief das Operationszentrum. Die Oregon war mit einem verschlüsselten Mobilfunksystem ausgerüstet.

»Hallo«, meldete sich die hohe Stimme von Linda Ross, die das Schiff zurzeit führte.

»Selbst hallo«, antwortete Cabrillo. »Tu mir einen Gefallen und aktiviere die Deckskanone Nummer fünf.«

»Gibt es ein Problem?«

»Nein. Ich will das alte Mädchen nur mal kurz überprüfen.« Juan war sich darüber im Klaren, dass die Mannschaft sehr genau wusste, dass er das Schiff immer dann inspizierte, wenn er Kummer hatte.

»Wird gemacht, Juan. Und schon kommt sie hoch.«

Der Deckel des Ölfasses hob sich lautlos an einem Scharnier, bis er komplett auf die Seite geklappt war. Ein mittelgroßes M-60-Maschinengewehr stieg mit dem Lauf zuerst auf und kippte dann nach unten, so dass es aufs Meer hinaus zielte. Er untersuchte den Munitionsgurt. Am Messing der Patronen war keine Spur von Korrosion zu finden, während das Gewehr selbst rundum mit einem Film Waffenöl bedeckt war.

Als Nächstes spazierte er zum Maschinenraum, dem Herz seiner Schöpfung. Er war so sauber wie ein Operationssaal. Das revolutionäre Kraftwerk des Schiffes verwendete supergekühlte Magneten, um in einem Prozess mit der Bezeichnung Magnetohydrodynamik freie Elektronen aus dem Meerwasser einzufangen. Zurzeit war diese Technologie immer noch in einem derart experimentellen Stadium, dass sie auf keinem anderen Schiff der Welt zur Anwendung kam. Der Raum wurde von den Cryopumpen beherrscht, mit denen die Magneten auf einhundertachtundvierzig Grad unter null herabgekühlt wurden. Die Hauptantriebsrohre verliefen über die gesamte Länge des Schiffes und hatten den Umfang von Eisenbahntankwagen. Darin befanden sich Flügelräder mit variabler Strömungsgeometrie, die, wären sie nicht im Bauch eines alten Trampfrachters eingeschlossen, der Hauptanziehungspunkt eines jeden Museums für moderne Kunst hätten sein können. Wenn Wasser durch die Rohre geleitet wurde, vibrierte die gesamte Umgebung von unvorstellbarer Kraft.

Die Oregon konnte für ein Schiff ihrer Größe unvorstellbare Geschwindigkeiten erreichen und so schnell stoppen wie ein Sportwagen. Mit ihren kraftvollen – nach achtern gerichteten – Düsen und den Manövrierjets vermochte sie außerdem auf der Stelle zu wenden.

Er setzte seine Inspektion fort und wanderte ohne festes Ziel durch das Schiff.

Die Korridore und Arbeitsbereiche waren gewöhnlich von viel Konversation und launigen Neckereien erfüllt. Nicht so heute. Niedergeschlagene Augen ersetzten das fröhliche Lachen. Die Männer und Frauen auf der Oregon nahmen ihre Aufgaben in dem Wissen wahr, dass einer von ihnen nicht mehr bei ihnen war. Juan spürte, dass ihm die Mannschaft keine Schuld zuwies, und das erleichterte die Last ein wenig, die er mit sich herumschleppte. Es gab schon einfach darum keinerlei Schuldzuweisung, weil sie alle ein gewisses Maß an Verantwortung empfanden. Sie waren ein Team – und als solches teilten sie die Siege und Niederlagen in gleichem Maß.

Cabrillo betrachtete fünf Minuten lang ein kleines Degas-Gemälde, das in einem Korridor hing, der zu den meisten Mannschaftskabinen führte. Das diskret beleuchtete Gemälde zeigte eine Ballerina, die sich einen Ballettschuh am Bein festband. Seiner Meinung nach fing der Künstler Licht, Unschuld und Schönheit besser ein als jeder andere Maler vor oder nach ihm. Dass er eines von Degas’ Meisterwerken und die hässliche Funktionalität eines Maschinengewehrs auf dem gleichen Rundgang bewundern konnte, war eine Ironie, die Cabrillo selber nicht verstand. Ästhetik findet sich nun mal in allen Formen.

Im vorderen Laderaum sah er Mannschaftsmitgliedern dabei zu, wie sie Vorbereitungen trafen, das Reserve-RHIB aus dem Lager zu holen. Wenn sie auf See und vor neugierigen Blicken sicher waren, hievte ein Deckkran das RHIB aus dem Frachtraum, setzte es auf der Steuerbordseite ins Wasser, und dann wurde es mit einer Winsch in die Bootsgarage gezogen, die sich in Höhe der Wasserlinie befand.

Er warf einen Blick in die Halle mit dem Swimmingpool des Schiffes. Gewöhnlich war es seine liebste Form der Leibesertüchtigung und zugleich der Grund, weshalb er sich seine breiten Schultern und schmalen Hüften so gut erhalten konnte. Aber nach so viel Zeit, die er während der vorangegangenen beiden Tage im Wasser zugebracht hatte, würde er den Gewichtsraum nebenan vorerst wahrscheinlich lieber benutzen.

Auf dem Grund des Schiffes befand sich eines seiner bestgehüteten Geheimnisse. Es war ein höhlenartiger Raum unmittelbar über dem Kiel, von wo aus sie zwei Tauchboote auf die Reise schicken konnten. Riesige stabile Tore teilten den Boden eines Moon Pools, und die Minis konnten gestartet und aufgenommen werden, selbst wenn das Schiff Fahrt machte, obgleich vorzuziehen war, dass die Oregon bei solchen Gelegenheiten unbeweglich im Wasser lag. Die Planung, die dazu nötig war, um einen solchen Raum zu schaffen und den Rumpf dabei in seiner ursprünglichen Form zu belassen, zusammen mit ihrer Ausführung waren Juans größte Herausforderung gewesen, als er den alten Holzfrachter umgebaut hatte.

Der Hangar unter dem hintersten der fünf Laderäume des Schiffes lag verlassen da. Der schwarze MD-520N stand dort auf seinen Kufen und hatte den Hauptrotor nach hinten gefaltet. Im Gegensatz zu einem traditionellen Hubschrauber besaß dieses Modell keinen Heckrotor. Stattdessen wurde das Auspuffrohr der Turbine durch den Schwanz geführt, um dem Drehmoment des großen Rotors entgegenzuwirken. Dadurch war diese Maschine leiser als die meisten Helikopter, und Gomez Adams meinte, darin sähe er um einiges cooler aus.

Der Raum erzeugte ein Gefühl drangvoller Enge, und zwar wegen der Modifikationen, die sie hatten vornehmen müssen, als sie den kleineren Robinson R44, den sie früher benutzt hatten, austauschten.

In der Krankenstation traf er Julia Huxley, ihre bei der Navy ausgebildete Ärztin, die gerade damit beschäftigt war, die eine Hand des Maschinisten zu verbinden. Der Mann hatte sie sich aufgeschnitten, als er in der Werkstatt gearbeitet hatte, und musste nun mit ein paar Stichen genäht werden. Julia trug ihren üblichen Laborkittel und hatte die Haare mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft.

»Halte dich bis nach deiner Schicht lieber von der Rum-Ausgabe fern, Sam«, witzelte Huxley und klebte Wundkompressen mit Heftpflaster fest.

»Versprochen. Nie mehr unter Alkoholeinfluss bohren.«

»Sind Sie okay?«, wollte Juan von ihm wissen.

»Ja. Wenn auch … einfach dämlich. Mein Vater hat mir damals schon am ersten Tag in unserer Werkstatt beigebracht, niemals den Blick vom Werkzeug zu lösen. Und was tue ich? Ich schaue weg, während ich ein Stück Stahl fräse, und das verdammte Ding rutscht ab und, bums, schon sieht es aus, als hätte ich da unten ein Schwein geschlachtet.«

Juans Headset zwitscherte. »Ja, Linda.«

»Ich bin’s – Max. Tut mir leid, dich stören zu müssen, aber ich habe gerade Langston Overholt in der Leitung, und er hätte da etwas, das er ausschließlich mit dir bereden möchte.«

Cabrillo überlegte einen Moment lang und nickte dann unwillkürlich, als hätte er eine Entscheidung getroffen. »Ich war hier sowieso fertig. Danke. Sag ihm, er soll sich noch eine Sekunde gedulden, bis ich in meiner Kabine bin.«

 

»Hallo?«

»Juan – tut mir leid, dass ich schon so kurz nach einer Mission anrufe, aber da ist etwas Seltsames passiert«, untertrieb Lang wie üblich.

»Hast du es schon gehört?«, fragte Cabrillo.

»Ich musste mit Max reden, ehe er nachgab und mich durchstellte. Er erzählte mir von deinem Mann. Es tut mir leid. Ich weiß, was du fühlst. Wenn du mich fragst«, fuhr Overholt vor, »hast du aber einen tollen Job gemacht. Die Argentinier werden sich bei den UN beschweren und uns aller Übeltaten unter der Sonne beschuldigen. Aber die Hauptsache ist, wir haben die Energiezelle zurück – und sie haben gar nichts.«

»Es fällt mir schwer zu glauben, dass es das Leben eines Menschen wert war«, murmelte Juan.

»Im großen Zusammenhang der Dinge wahrscheinlich nicht, aber dein Mann kannte den Preis, als er mitmachte. Den kennt ihr alle.«

Juan war jetzt nicht in der Stimmung für philosophische Diskussionen mit seinem ehemaligen Sachbearbeiter, daher fragte er: »Was ist denn mit dieser seltsamen Sache, die du erwähnt hast?«

Overholt berichtete Cabrillo alles, was er über die Lage in der Wilson/George-Station gehört hatte, inklusive all dessen, was er von Tom Parker wusste.

Als er fertig war, sagte Juan: »Dann könnte es sein, dass dieser Typ, Dangle …«

»Gangle«, verbesserte Lang.

»Dann eben Gangle – durchgedreht ist und die anderen getötet hat?«

»Das ist durchaus möglich, obwohl Dr. Parkers Einschätzung nach dem, was er von dem Astronauten erfahren hat, eher darauf hinausläuft, dass dieser Gangle nicht mehr als ein Einzelgänger und leicht reizbar war.«

»Lang, das sind doch aber genau diese Typen, die ihre Familien mit der Axt angreifen oder von Kirchtürmen mit einem Gewehr wahllos auf Leute schießen.«

»Na ja. Aber wir müssen trotzdem im Kopf behalten, dass in weniger als fünfzig Kilometern Entfernung eine argentinische Basis existiert. Wie du weißt, tönen sie ständig herum, die Antarktische Halbinsel sei ihr Territorium. Was ist, wenn dies nur der erste Akt in einem Riesenschauspiel ist? Es gibt da unten auch noch andere Stationen. Da sind die Norweger, Chilenen, die Briten. Sie könnten die Nächsten sein.«

»Oder es könnte auch einfach nur ein durchgedrehter Junge sein, der zu viel Zeit auf dem Eis verbracht hat«, sagte Juan.

»Das Problem ist, dass wir für fast eine Woche keine eindeutige Antwort auf diese Frage erhalten werden, vielleicht auch noch länger, wenn das Wetter nicht aufklart. Sollten die Argentinier irgendetwas im Schilde führen, könnte es – bis wir dahinterkommen – leicht zu spät sein.«

»Demnach möchtest du, dass wir auf Südkurs gehen und untersuchen, was in Wilson/George geschehen ist.«

»Genau. Es dürfte bloß eine Routinesache sein. Ihr fahrt runter, schaut euch um und erzählt dem lieben Onkel Langston, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht.«

»Wir tun es natürlich, aber du solltest wissen, dass Max und ich nicht mitmachen.«

»Habt ihr irgendwas Bestimmtes geplant?«

Cabrillo berichtete von der Entdeckung des Flying Dutchman und seinem Wunsch, den Familien der Luftschiff-Crew zu erzählen, was ihren Angehörigen vor einem halben Jahrhundert zugestoßen ist.

»Ich finde, dass ist eine fantastische Idee«, meinte Lang begeistert. »Genau das, was dir fehlt, um alles im richtigen Blickwinkel zu sehen. Deine Leute brauchen euch beide bei dieser Mission sowieso nicht. Max mosert mir zu viel herum, und du solltest mal für eine Weile auf andere Gedanken kommen.«

»Oh, ehe ich es vergesse, mein Waffenexperte meint, es könnte sein, dass der Satellit abgeschossen wurde.«

»Sag das noch mal.«

»Du hast richtig gehört. Auf der Außenhülle der Energiezelle befinden sich ein paar Kratzer. Zwei passen zu zwei Kugeleinschlägen, aber der dritte ist ein Rätsel. Du musst das Ganze mal genau unter die Lupe nehmen.«

»Das haben wir auch vor, aber danke schon mal für den Tipp. Aber ich bezweifle, dass dein Fachmann recht hat. Argentinien verfügt gar nicht über die Technologie, um eine Rakete so spät auf ihrem Flug abzuschießen, und dann ist da noch die Frage: Warum sollten sie es überhaupt tun? Es war doch kein militärisches Projekt.«

»Ich habe dir nur mitteilen wollen, was er annimmt. Wenn er sich irrt, wunderbar. Wenn nicht, na ja, das ist dann etwas ganz anderes. Vergiss nicht, wer demonstriert hat, dass sie die Fähigkeit haben, einen Satelliten abzuschießen, und wer sich außerdem in der UN ständig gegen strengere Sanktionen gegen Argentinien ausspricht.«

Das zwang Overholt zu einer längeren Denkpause. »Mir gefällt überhaupt nicht, was du da implizierst.«

»Mir auch nicht«, schloss Juan sich ihm an. »Aber es ist ja auch nur ein Denkanstoß. Willst du uns noch immer in der Antarktis haben?«

»Mehr denn je, mein Junge, mehr denn je.«