Vorwort zur deutschen Ausgabe
In den neunziger Jahren, als ich an der
englischen Ausgabe des vorliegenden Buches arbeitete, war die
Geschichtswissenschaft, die sich mit Wilhelm II. auseinandersetzte,
noch stark gespalten in der Frage, über wie viel Macht der letzte
Kaiser denn nun eigentlich verfügt hatte. An dem einen Pol der
Debatte stand John Röhl, der Autor zahlreicher Monographien und
Artikel, die den Kaiser in den Mittelpunkt des politischen Lebens
des späten deutschen Kaiserreiches stellen. Am anderen Pol stand
Hans-Ulrich Wehler; bei seinem gesellschaftsgeschichtlich
orientierten Ansatz wird der Monarch an den Rand des politischen
Geschehens gedrängt.
Die scharfen Konturen zwischen den beiden Lagern
haben sich im Laufe der letzten zehn Jahre ein wenig verwischt. In
einer wichtigen, 2002 veröffentlichten Studie stellte Wolfgang J.
Mommsen eine vermittelnde These auf: Er erkannte die zentrale
Stellung Wilhelms II. innerhalb der politischen Struktur an,
vertrat aber die Ansicht, dass der Kaiser – mit verhängnisvollen
Konsequenzen – von den preußisch-deutschen Machteliten
instrumentalisiert worden sei. Im Zuge des kulturhistorischen
Ansatzes ist der Brennpunkt der Debatte noch stärker verlagert
worden, indem die Aufmerksamkeit von der reinen Berechnung
politischer Machtverhältnisse auf die allgemeineren diskursiven und
kulturellen Stützen der kaiserlichen Autorität gerichtet wird. Eine
ganze Reihe von Studien von Martin Kohlrausch, Jost Rebentisch und
Lothar Reinermann konzentrierte sich auf die außerordentlich starke
Resonanz des Kaisers in der turbulenten Medienlandschaft des
deutschen Kaiserreichs. In diesen Werken erscheint der Kaiser
weniger als der Entscheidungsträger und Herr im Hause, sondern als
ein zusammengesetztes und überaus
dynamisches Image, das von den kritischen Kräften einer
vielfältigen, kulturellen Elite projiziert wurde. Wolfgang Königs
»technische Biographie« des Kaisers wiederum erweitert den Rahmen
der Diskussion, indem sich der Autor auf die Rolle konzentriert,
die der Kaiser in der Technikgeschichte der Wilhelminischen Ära
einnahm.
Dennoch scheiden sich an der Persönlichkeit
Wilhelm II. noch heute die Geister. Für John Röhl ist er immer noch
die »Nemesis der Weltgeschichte«, das »Bindeglied« zwischen dem
Wilhelminischen Kaiserreich und Auschwitz, gar der »Vorbote Adolf
Hitlers«. Für Nicolaus Sombart hingegen ist Wilhelm II. der
wohlwollende und charismatische Praktiker einer universalen
Monarchie; von der anthropologischen Theorie durchdrungen, feiert
Sombart in seiner ein wenig sonderlichen, aber aufschlussreichen
Ehrenrettung den Kaiser als »Herrn der Mitte«, den man lieben muss,
wenn man ihn wirklich verstehen will. Nicht zuletzt dieses
Spannungsfeld der Interpretationen – ein ebenso ausgeprägtes
Kennzeichen der zeitgenössischen wie auch der historischen Debatte
– lenkte meine Aufmerksamkeit auf den deutschen Kaiser als
Forschungsgegenstand. Die komplexe Persönlichkeit dieses Monarchen,
seine Fähigkeit, mal schwülstig, dann wieder nachdenklich, brutal,
naiv, eloquent, berechnend oder auch taktlos aufzutreten, trug
zweifellos dazu bei, dass seine Herrschaft Raum für die
unterschiedlichsten Bewertungen lässt. Das faszinierendste Merkmal
der Kontroverse um diesen Mann und sein Auftreten im Amt ist mit
Sicherheit die Tendenz, den Kaiser als die Symbolfigur größerer,
historischer Zwänge zu betrachten. Für zeitgenössische Anhänger
personifizierte Wilhelm II. die Macht und die schillernde Energie
des deutschen Kaiserreiches in einem Zeitalter der
Großmachtpolitik. In dem ernüchterten Umfeld Nachkriegsdeutschlands
wurde »Wilhelm II.« – genau wie »Preußen« – zu einem Synonym für
die Irrungen Deutschlands auf dem Weg in die Moderne.
Das vorliegende Buch, das muss betont werden,
macht es sich keineswegs zur Aufgabe, den letzten deutschen Kaiser
zu
rehabilitieren. Aber es möchte Verunglimpfung und Verständnis
wieder in die richtige Balance bringen. Es fragt nach der sich
allmählich herauskristallisierenden Auffassung des Kaisers von
seiner eigenen Rolle, nach seinem Platz innerhalb des komplexen
Verfassungsgerüsts des kaiserlichen Deutschlands, seiner Fähigkeit,
die Innen- und Außenpolitik zu prägen, der Beziehung zu den Medien
und der Auswirkung des Kriegsausbruchs auf die Ausübung seiner
Prärogative als Souverän.
Die deutsche Ausgabe ist leicht überarbeitet
worden, so dass die wichtigsten Veröffentlichungen seit dem
Erscheinen der englischen Ausgabe im Jahr 2000 berücksichtigt
werden. Ich möchte an dieser Stelle Frau Dr. Heike Specht von der
Deutschen Verlags-Anstalt für ihre sorgfältige Betreuung der
deutschen Ausgabe, Herrn Norbert Juraschitz für die Übertragung aus
dem Englischen und dem St. Catharine’s College in Cambridge für die
Gesellschaft der liebenswürdigen Kollegen und einen friedlichen Ort
zum Nachdenken und Arbeiten danken.
Christopher Clark
Cambridge 2008