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Übernahme der Macht

Macht und Verfassung

Wie war die Macht im deutschen politischen System verteilt? Wie viel Macht lag im Deutschen Reich beim Kaiser? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zunächst die Verfassung vom 16. April 1871 näher betrachten, die die politischen Organe des Reiches und ihre Beziehung untereinander definiert. Die Reichsverfassung, die Wilhelm II. in seiner Thronrede vor dem Reichstag am 25. Juni 1888 »zu wahren und zu schirmen«1 schwor, war das Produkt eines komplexen, historischen Kompromisses. Nach dem überwiegend von Preußen errungenen Sieg über Frankreich 1870/71 bestand die Aufgabe der neuen deutschen Reichsverfassung darin, die Macht unter einer Vielzahl von Interessen aufzuteilen. Bismarck selbst war natürlich in erster Linie daran interessiert, den Einfluss Preußens zu festigen und auszudehnen. Doch mit diesem Programm konnte man aus nahe liegenden Gründen die anderen deutschen Staaten, insbesondere die großen deutschen Länder Baden, Württemberg und Bayern, natürlich nicht locken. Folglich musste ein Kompromiss gefunden werden zwischen den Ambitionen der souveränen Einheiten, die zusammengekommen waren, um das deutsche Reich zu bilden, und der Notwendigkeit einer zentralen, koordinierenden Exekutive.
Wie zu erwarten, war die daraus resultierende Verfassung ihrem Wesen nach ausgesprochen dezentral. Tatsächlich handelte es sich weniger um eine Verfassung im traditionellen Sinn als um einen Vertrag zwischen souveränen Territorien, die sich darauf geeinigt hatten, das deutsche Kaiserreich zu bilden.2 Im Einklang mit der Auffassung, dass das neue Reich eigentlich kaum mehr als eine Konföderation von Fürstentümern, also ein Fürstenbund war, tauschten die deutschen Länder auch weiterhin untereinander diplomatische Vertretungen aus – ein glücklicher Umstand, wie sich herausstellte, weil die von den Gesandten verfassten Berichte heute zu den besten Quellen zählen, die uns für die Erforschung des politischen Lebens im neuen Reich vorliegen. Nach derselben Logik entsandten ausländische Mächte nicht nur nach Berlin ihre Vertreter, sondern auch nach Dresden und München.
Der ausgeprägte Föderalismus der Verfassung von 1871 tritt noch deutlicher zutage, wenn man sie mit der gescheiterten Reichsverfassung vergleicht, welche die liberalen Juristen der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 entworfen hatten. Hatte die Frankfurter Verfassung einheitliche, politische Grundsätze für die Regierungen aller Einzelstaaten festgelegt, verzichtete das spätere Dokument darauf. Während die Frankfurter Verfassung die Schaffung einer »Reichsgewalt« vorsah, die sich von der Regierungsgewalt der Mitgliedstaaten unterschied, war nach der Verfassung von 1871 der Bundesrat das souveräne Organ, das sich aus »Vertretern der Mitglieder des Bundes« zusammensetzte. 3 Der Bundesrat entschied, welche Gesetzesinitiativen in den Reichstag eingebracht wurden, und ohne seine Zustimmung konnte kein Gesetz in Kraft treten; ferner hatte der Rat die Aufgabe, die Einhaltung der Reichsgesetze zu überwachen. Jedes Mitglied des Bundes hatte das Recht, Gesetzesvorlagen einzubringen und sie im Rat diskutieren zu lassen. Die Verfassung von 1871 kündigte in Artikel 8 sogar an, dass der Bundesrat aus den eigenen Mitgliedern eine Reihe »dauernder Ausschüsse« bilden werde, die unter anderem für die Ressorts Außenpolitik, Heer und Befestigungsanlagen sowie Marine zuständig waren.
Die dezidiert föderative Ausrichtung der Verfassung hatte unweigerlich wichtige Folgen für die Stellung des Kaisers. Die Autoren der Verfassung gaben sich eindeutig alle Mühe, die Vollmachten des kaiserlichen Amtes nicht auf eine Weise hervorzuheben, dass sie die föderalistischen Empfindlichkeiten beeinträchtigt hätten. Auch hier ist ein Vergleich mit der Frankfurter Verfassung aufschlussreich. Während das ältere Dokument einen Abschnitt mit der Überschrift »Reichsoberhaupt« enthält, hat die Verfassung von 1871 keine entsprechende Rubrik. Stattdessen werden die Vollmachten des Kaisers in Abschnitt IV festgelegt, der sich mit dem Präsidium des Bundes und des Bundesrates befasst. Während die Verfassung von 1849 ganz klar feststellt: »Der Kaiser erklärt Krieg und schließt Frieden«, fügt das spätere Dokument hinzu, dass der Kaiser die Zustimmung des Bundesrates benötigt, um Krieg zu erklären, mit Ausnahme von Fällen, in denen das Reichsgebiet angegriffen wird. Während die Frankfurter Verfassung dem Kaiser das Recht einräumt, beide Kammern des Parlaments aufzulösen (Artikel 79), legt die Reichsverfassung von 1871 in Artikel 24 fest, dass der Bundesrat die Vollmacht habe den Reichstag aufzulösen, aber die Zustimmung des Kaisers einholen müsse. In Artikel 14 wird vereinbart, dass sich der Bundesrat jederzeit selbst einberufen kann, sofern sich ein Drittel der Mitglieder dafür ausspricht. Kurzum, der Kaiser erschien 1871 als ein deutscher Fürst unter anderen, als primus inter pares, dessen Befugnisse sich aus seiner Sonderstellung in dem Bund ableiteten, statt aus einem Anspruch auf direkte Herrschaft über das Reichsgebiet. Daraus folgte auch, dass der offizielle Titel nicht »Kaiser von Deutschland« lautete, wie Kaiser Wilhelm I. es vorgezogen hätte, sondern »Deutscher Kaiser«. Einem nicht eingeweihten Leser der Verfassung von 1871 konnte man es durchaus nachsehen, wenn er zu dem Schluss gelangte, dass im deutschen Kaiserreich der Bundesrat der eigentliche Sitz nicht nur der Souveränität, sondern auch der politischen Macht war.
Doch Verfassungen haben häufig wenig mit der politischen Realität zu tun – man denke nur an die »Verfassungen« der Staaten des Ostblocks nach 1945 -, und die Reichsverfassung von 1871 bildete hier keine Ausnahme. Ungeachtet der vielen Zugeständnisse, die dem Prinzip des Föderalismus auf dem Papier gemacht wurden, hatten die meisten Entwicklungen der deutschen Politik im Laufe der folgenden Jahrzehnte in der Praxis die Tendenz, die föderale Autorität zu untergraben, die dem Bundesrat verliehen worden war. Auch wenn Reichskanzler Bismarck hartnäckig erklärte, dass Deutschland ein »Fürstenbund« sei und bleibe, übte der Rat nie die ihm laut Verfassung zustehenden Vollmachten aus. Dafür gab es verschiedene Gründe. Der wichtigste und naheliegendste Grund war schlichtweg die überwältigende Dominanz Preußens, in militärischer wie in territorialer Hinsicht. In dem Bund genoss der Staat Preußen mit 65 Prozent der Landesfläche und 62 Prozent der Bevölkerung de facto eine Vormachtstellung. Das preußische Heer stellte die süddeutschen Armeen in den Schatten. Der König von Preußen war gemäß Artikel 63 der Verfassung in seiner Funktion als deutscher Kaiser gleichzeitig der Oberbefehlshaber der Reichstruppen. Und laut Artikel 61 war »in dem ganzen Reiche die gesamte Preußische Militärgesetzgebung ungesäumt einzuführen«. Das führte sämtliche Ansprüche des Bundes ad absurdum, militärische Angelegenheiten über einen »dauernden Ausschuss« zu regeln. Mit Ausnahme der hanseatischen Stadtstaaten Hamburg, Lübeck und Bremen gehörten die kleineren Fürstentümer in Mittel- und Norddeutschland einer preußischen Klientel an, die bei Bedarf jederzeit unter Druck gesetzt werden konnte. Da Preußen selbst schon 17 der 58 Stimmen im Rat hatte, war es folglich so gut wie unmöglich, dass sich eine Koalition anderer Staaten herausbildete, die einen preußischen Antrag ablehnen konnte.
Auf jeden Fall war es äußerst unwahrscheinlich, dass der Bundesrat jemals die politische Bühne in Deutschland so sehr dominieren würde, wie die Föderalisten es sich erhofft hatten. Bismarck weigerte sich als Kanzler, dem Rat eine öffentliche Rolle einzuräumen, die sich mit der besonderen Zuständigkeit der preußischen Krone und seiner Person als ihrem ersten Diener überschnitt. Zum Beispiel sorgte er dafür, dass der »Ausschuss für die auswärtigen Angelegenheiten« ungeachtet der Bestimmungen in Artikel 8 der Verfassung nur auf dem Papier Bestand hatte. Überdies fehlte dem Bundesrat ein geeigneter Verwaltungsapparat, um Gesetze auszuarbeiten. Somit war er auf die preußische Bürokratie angewiesen, mit dem Ergebnis, dass der Bundesrat verstärkt die Funktion eines Gremiums zur Prüfung von Gesetzesvorlagen übernahm, welche zuvor das preußische Staatsministerium formuliert und diskutiert hatte. Eine vergleichbare Verwässerung der Autorität lässt sich beobachten, wenn man die Rolle, die der Rat bei den Auflösungen des Reichstags von 1878, 1887, 1893 und 1906 spielte, miteinander vergleicht. Der Rat ergriff bei all diesen Anlässen nicht etwa selbst die Initiative, sondern wurde zu einem immer willfährigeren Instrument der Reichspolitik.4 Die untergeordnete Rolle spiegelte sich sogar in der politischen Architektur Berlins wieder: Da der Bundesrat kein eigenes Gebäude hatte, wurde er in der Reichskanzlei untergebracht.
Das Primat Preußens wurde durch die Schwäche der Verwaltungseinrichtungen auf Reichsebene noch untermauert. Eine Art Reichsverwaltung kristallisierte sich zwar in den siebziger Jahren heraus, als neue Departements eingerichtet wurden, um die wachsende Flut an Reichsangelegenheiten zu bewältigen, und ihre Bedeutung für die Vorbereitung von Gesetzesinitiativen nahm während der gesamten wilhelminischen Ära zu, doch sie blieb in die preußische Machtstruktur eingebunden und auf sie angewiesen. Die Leiter der Reichsämter (Auswärtige Angelegenheiten, Innenpolitik, Justiz, Postwesen, Eisenbahn, Schatzamt) waren keine Minister im eigentlichen Sinn, sondern Staatssekretäre von untergeordnetem Rang, die direkt dem Reichskanzler unterstellt waren. Die preußische Bürokratie war größer als die des Reichs, und daran änderte sich auch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nichts; zudem stammten die meisten Beamten in der Reichsverwaltung zugleich aus Preußen.
Aus Sicht derjenigen, von denen erwartet wurde, dass sie das deutsche System mit Leben erfüllten, brachte dieser preußisch/ kaiserliche Dualismus gravierende Probleme in der politischen Verwaltung mit sich. Trotz der Vorrangstellung des größten Mitgliedstaates war es für die preußische Regierung unmöglich, die Politik in Preußen selbst ohne den Blick auf die Situation im ganzen Reich zu formulieren. Der offensichtlichste Grund hierfür war der Umstand, dass der preußische Ministerpräsident während des Kaiserreichs zumeist gleichzeitig Reichskanzler war. Somit war er zwei Legislativen gegenüber verantwortlich: dem preußischen Landtag und dem Reichstag. Die beiden Organe waren nicht nur institutionell verschieden, sondern hoben sich auch politisch stark voneinander ab. Der Reichstag wurde auf der Basis eines allgemeinen Männerwahlrechts gewählt und beherbergte eine bunte Palette von Parteien, welche die erhebliche regionale, konfessionelle, ethnische und sozioökonomische Vielfalt des deutschen Volkes repräsentierte. Der preußische Landtag hingegen wurde nach einem Dreiklassenwahlrecht gewählt, das die Grundbesitzer massiv begünstigte und so die Vorherrschaft konservativer und rechtsliberaler Kräfte gewährleistete. Da Entwicklungen in Preußen die Haltung der Parteien im Reichstag beeinflussen konnten und umgekehrt, fiel dem Kanzler die schwierige Aufgabe zu, die Prioritäten der sehr verschiedenen Legislativen auszubalancieren.
Von 1871 bis 1890 hatte mit Otto von Bismarck-Schönhausen eine überragende Persönlichkeit den Vorsitz über dieses einzigartig komplexe, politische System. Die Wurzeln für Bismarcks dominante Stellung lagen nicht zuletzt in der wirksamen Kombination preußischer und reichsdeutscher Ämter unter seiner Kontrolle. Als Reichskanzler übte er direkte Autorität über die kaiserlichen Staatssekretäre aus; als preußischer Ministerpräsident leitete er die Debatten des preußischen Ministeriums; als preußischer Außenminister war er zuständig für die Vergabe der 17 Stimmen Preußens im Bundesrat.5 Diese strategische Stellung entlang der Trennlinie zwischen dem Reich und seinem dominierenden Mitgliedsstaat gab den Ausschlag für seinen politischen Einfluss. Wenn man jemals seine preußischen Wurzeln ausreißen und aus ihm allein einen Reichsminister machen wolle, sagte Bismarck einmal vor dem Reichstag, dann sei er ebenso machtlos wie jeder andere.6 An diesem Dreh- und Angelpunkt des »unvollendeten Föderalismus« Deutschlands hatte Bismarck so gut wie alle Aspekte der Regierungspolitik in Preußen und im Kaiserreich unter Kontrolle.7
Doch mit der Ämterhäufung allein lässt sich die auf einzigartige Weise dominierende Stellung Bismarcks im deutschen Reich nach 1871 nicht erklären. Ebenso wichtig war sein Status als Architekt der Kriege der nationalen Einigung, sein Ansehen als Außenminister mit einem beispiellosen Geschick und Urteilsvermögen, seine unerreichte Fähigkeit, innenpolitische Widersacher auszutricksen und einzuschüchtern, seine Gabe, die öffentliche Meinung zu instrumentalisieren und seine Gewandtheit im Umgang mit seinem königlichen Herrn. »Man muss dabei gewesen sein, um bezeugen zu können, welche Herrschaft dieser Mann […] über die gesamte Mitwelt ausgeübt hat«, erinnerte sich der linksliberale Politiker Ludwig Bamberger. »Es gab eine Zeit, in der man in Deutschland nicht zu sagen wagte, wie weit sein Wille reiche.« Nicht nur habe »seine Macht so bombenfest« gestanden, »dass Alles vor ihm zitterte«. Vielmehr habe er sogar »die Bahnen bestimmt, in denen sich die Institutionen, die Gesetze und, was noch wichtiger ist, die Geister bewegen«. Zeitgenossen aller politischer Couleur sprachen wahlweise von Bismarcks »Alleinherrschaft«, seinem »Absolutismus« oder der »Diktatur«, die ein »allmächtiger«, pommerscher »Jupiter« ausübte. In der Tat hat selbst Hans-Ulrich Wehler, ein Historiker, der für gewöhnlich nicht zu »personalistischen« Erklärungsansätzen neigt, das Webersche Konzept der »charismatischen Herrschaft« heraufbeschworen, um der Fülle von Autorität gerecht zu werden, die nicht auf die Herkunft des Kanzlers, die Ämter und die Werte, für die er stand, reduziert werden kann.8 Ob dieser Begriff zu Recht auf Bismarck angewandt werden kann, ist von den Kritikern Wehlers in Frage gestellt worden, aber die außergewöhnliche, politische Macht und öffentliche Prominenz Bismarcks stehen außer Zweifel.9
Was bedeutete dies alles nun für den deutschen Kaiser? Mit Blick auf seine Stellung nach der streng monarchischen Verfassung Preußens und der de facto unangefochtenen Dominanz der preußischen Exekutive innerhalb des Reichs, hatte die preußischdeutsche Krone potenziell eine enorme Macht. Der Kaiser schlug eine Brücke zwischen der Reichsregierung und dem mächtigsten Bundesstaat, und zwar in einem strengeren und persönlicheren Sinn als der Kanzler, der jederzeit von seinem Amt zurücktreten konnte. Nach Artikel 18 der Verfassung war der Kaiser befugt, Reichsbeamte zu ernennen und zu entlassen; das galt nach der preußischen Verfassung auch für die einflussreiche, preußische Bürokratie. Er war Oberbefehlshaber des Heeres und der Marine im Krieg und im Frieden mit der Vollmacht, Personen zu ernennen und zu entlassen (Artikel 53 und 63). Seine Zustimmung war für die Verabschiedung preußischer und – über den Einfluss seiner Vertreter im Bundesrat – reichsdeutscher Gesetze erforderlich. Und er verfügte in der Form ziviler und militärischer Kabinette über Stabstrukturen, die ihm persönlich dienten und nicht dem Parlament Rechenschaft ablegen mussten, und damit über eine eigene institutionelle Machtbasis. Dominic Lieven hat diesen weitverzweigten Apparat, der immense Mengen an Schreibarbeit bewältigte, mit der völlig andersartigen Situation in Russland verglichen, wo der Zar, der weder ein persönliches Sekretariat noch einen Privatsekretär hatte, noch selbst die Umschläge abstempelte und mit Bediensteten und Ministern mittels handschriftlicher Notizen kommunizierte.10
Als Kriegsherr der Ära der nationalen Einigung hatte Wilhelm I. einzigartiges, persönliches Ansehen genossen. Solange das System jedoch so eigenständig vom Kanzler gelenkt wurde, bot sich zwangsläufig kaum eine Gelegenheit, das politische Potenzial der preußisch-kaiserlichen Krone auszuloten. Es wäre falsch zu behaupten, dass Wilhelm I. eine bedeutungslose Figur gewesen sei. Sein ostdeutscher Biograf Karl-Heinz Börner hat davor gewarnt, den ersten Kaiser als eine »Schattenfigur im System des deutschen Bonapartismus« zu betrachten.11 Er behauptete sich gelegentlich gegen Bismarck, und er hielt sich stets über die Entwicklungen in allen Feldern der Politik auf dem Laufenden. Bis zum Ende seiner Herrschaft hielt Wilhelm I. daran fest, dass ihm die letzte Entscheidung zustehe. Ein königliches Dekret von 1882 an das preußische Staatsministerium betonte, dass der König das Recht habe, »die Regierung und die Politik Preußens nach eigenem Ermessen zu leiten«. Handlungen der Regierung waren letztlich Handlungen des (preußischen) Königs, »aus dessen Entschließung sie hervorgehen und der seine Willensmeinung durch sie verfassungsmäßig ausdrückt«.12
Dennoch liegt es auf der Hand, dass sich ein Mann mit Bismarcks beispiellosem Geschick bei der Manipulierung des schwer fassbaren kaiserlichen und preußischen Systems so gut wie unverzichtbar für den Kaiser machen konnte. In der Regel haben auch die Historiker, die sich mit der Beziehung zwischen den beiden Männern befassten, die Fähigkeit Bismarcks herausgestrichen, den Kaiser in den meisten wichtigen Fragen zur Zustimmung zu drängen, zu erpressen oder zu überreden. Wilhelm I. fand sich häufig mit politischen Schritten ab, die eigentlich seinem Instinkt widersprachen. Er hatte den Krieg gegen Österreich nicht gewollt, ihm missfiel die liberale Tendenz der deutschen Politik in dem Jahrzehnt nach 1871, und er missbilligte Bismarcks politischen Feldzug gegen die Katholiken. Wenn es zur direkten Konfrontation kam, spielte Bismarck das volle Charisma seiner Persönlichkeit aus und verlieh seinen Argumenten mit Tränen, Wutanfällen und Rücktrittsdrohungen Nachdruck. Eben diese Szenen waren dem Kaiser schier unerträglich und veranlassten ihn zu der berühmten Beobachtung: »Es ist schwer, unter Bismarck Kaiser zu sein.« Vermutlich war es keine falsche Bescheidenheit, wenn Wilhelm I. bei anderer Gelegenheit bemerkte, dass er »wichtiger als ich« sei.13
Das Kräfteverhältnis zwischen Kanzler und Kaiser/König darf nicht isoliert von den anderen, institutionellen Machtzentren betrachtet werden; es hing von einer Reihe äußerer Faktoren ab, von denen die Haltung der Mehrheit im Reichstag wohl der wichtigste war. Ein Kanzler mit einer starken parlamentarischen Unterstützung konnte mit dem Monarchen aus einer entsprechend starken Position heraus verhandeln. Ein feindlich gesinnter Reichstag hingegen minderte die Wirkung des Kanzlers als politischer Lenker und verstärkte seine Abhängigkeit vom Souverän, wie Bismarck in den Jahren 1881-1886 feststellen musste. Es ist kein Zufall, dass Bismarcks Absetzung unter Wilhelm II. genau zu dem Zeitpunkt erfolgte, als Bismarcks »Kartell« bei den Reichstagswahlen vom Februar 1890 die Mehrheit verloren hatte.
Der Reichstag war nach dem Bundesrat und der preußischdeutschen Krone die dritte Säule der Reichsverfassung. Während der Bundesrat die weitreichende Autonomie der Mitgliedsstaaten symbolisierte, repräsentierte der Reichstag die männliche Wählerschaft des deutschen Nationalstaats. Da die Vertreter im Bundesrat von Fürsten oder Königen berufen wurden, repräsentierte der Rat das dynastische Prinzip; der Reichstag hingegen, der alle drei Jahre (nach 1885 alle fünf Jahre) nach dem allgemeinen, freien Männerwahlrecht neu gewählt wurde, zählte damals zu den demokratischsten Legislativen auf dem europäischen Kontinent. Die Zustimmung des Reichstags war für das Inkrafttreten von Gesetzesvorlagen erforderlich, und er hatte das Recht, selbst Gesetzesinitiativen einzubringen, auch wenn manche Lehrbücher das Gegenteil behaupten. Über das Recht, den Reichshaushalt zu prüfen und zu verabschieden, hatte er ein geeignetes Druckmittel für die Verhandlungen mit der Exekutive in der Hand und konnte ihre Ambitionen kritisch prüfen. Andererseits war die Macht des Reichstags, die politischen Ergebnisse zu bestimmen, stark durch die Tatsache eingeschränkt, dass der Kanzler für sein Amt nicht auf die Unterstützung der Mehrheit angewiesen war. Das deutsche Parlament hatte damals im Gegensatz zum britischen nicht die Macht, Regierungen über ein Misstrauensvotum abzusetzen. Der Unterschied wurde durch eine bezeichnende Abweichung beim Zeremoniell symbolisch ausgedrückt: Während der britische Souverän zur Eröffnung des neuen Parlaments ins Unterhaus kam (und noch heute kommt), wurden die Abgeordneten zum deutschen Reichstag für dieselbe Zeremonie in den Palast einberufen.
Der Reichstag enthielt eine vielschichtige Palette von Parteien. Die Verabschiedung von Gesetzesvorlagen durch das Parlament entwickelte sich zur wohl anspruchsvollsten und mühsamsten Aufgabe für den Reichskanzler (die noch dadurch erschwert wurde, dass er die Interessen des preußischen und des deutschen Parlaments ausbalancieren musste). Und selbst wenn die Macht des Reichstags, Einfluss auf die politische Agenda zu nehmen, eingeschränkt war, sind sich die Historiker doch weitgehend einig, dass die wilhelminische Ära eine »wachsende Legitimität der parlamentarischen Politik« erlebte, wie David Blackbourn ausführt.14 Ein wichtiger Faktor bei dieser Entwicklung war die Bestimmung unter Artikel 22 der Reichsverfassung, dass die öffentlichen Sitzungen des Reichstags stets wahrheitsgemäß veröffentlicht werden mussten. Das gestattete es einigen Rednern im Parlament, als landesweit bekannte Persönlichkeiten hervorzutreten, und erlaubte es der politisch interessierten Öffentlichkeit, an den großen, aktuellen Debatten – zumindest als Zuschauer – teilzunehmen. Weitere Hinweise auf die wachsende Autorität des Parlaments liefert die anschwellende Flut von Angelegenheiten, die in den Ausschüssen des Reichstags erledigt wurden, und die wachsende Bedeutung der Parteiführer und Experten aus den Fraktionen für den Entscheidungsprozess.
 
Welche allgemeinen Schlussfolgerungen kann man aus diesem knappen Überblick über das deutsche Reichssystem ziehen? Es war, wie einige renommierte Analysten bemerkten, ein »System umgangener Entscheidungen«, eine »unvollendete« Verfassung oder ein »unvollendeter Föderalismus«. Wegen der lose und schlecht koordinierten Beziehung zwischen den verschiedenen Machtzentren und des evolutionären Charakters des Systems tun sich Historiker schwer, die genaue Verteilung der Macht zu beschreiben. Während ein Historiker etwa die These vertritt, die wilhelminische Ära habe die allmähliche »Parlamentarisierung« der preußisch-deutschen Verfassung erlebt, heben andere wiederum die »bonapartistische Diktatur« oder den »autoritären« Charakter des Regimes hervor.15 Es ist zu betonen, dass es sich um ein System handelte, das ständig in Bewegung war und immer wieder neu verhandelt wurde, das von Unschlüssigkeit und Widersprüchlichkeit charakterisiert wurde sowie von wechselnden Machtverteilungen unter den wichtigsten Ämtern und Institutionen. Das hatte unweigerlich Folgen für die Rolle des Kaisers/Königs. Wie würde sich sein Amt nach dem Abtritt des Kanzlers entwickeln? Bismarck war es mit Mühe gelungen, dem schwerfälligen Apparat der deutschen Verfassung seinen Willen aufzuzwingen. Würde dem jungen Kaiser, der großspurig ankündigte, er werde sein eigener Kanzler sein, dies ebenfalls gelingen?

Kaiser gegen Kanzler

Noch vor Wilhelms Thronbesteigung lag es für scharfsinnige Beobachter, die beide Männer kannten, auf der Hand, dass das Miteinander zwischen dem jungen Kaiser und dem 73-jährigen Kanzler nicht einfach werden würde. Das sei eine Frage der Persönlichkeit, bemerkte Graf Waldersee im Gespräch mit Holstein im November 1887. Der betagte, herrschende Kaiser schere sich nicht um sein Image, und es störe ihn nicht, wenn er in der öffentlichen Meinung von Bismarck in den Schatten gestellt werde. »Prinz Wilhelm als Kaiser aber wird dastehen wollen wie der Mann, welcher selber regiert – darum glaube ich nicht, dass es lange geht mit ihm und dem Kanzler.«16 Gewiss ließen schon die Konflikte im Herbst 1887 nichts Gutes ahnen. Auf die Affäre um Stoecker folgte ein nicht ganz so öffentlicher, aber schädlicher Streit zwischen Wilhelm und Bismarck um eine Erklärung, die der Prinz den Herrschern der Bundesstaaten nach der Thronbesteigung zukommen lassen wollte. Bismarck nahm sowohl an dem Zeitpunkt Anstoß als auch an dem Inhalt des Dokuments und konnte Wilhelm überreden, es zu verbrennen.17 Und der Winter 1887/88 brachte, wie gezeigt, weitere Auseinandersetzungen über die Außenpolitik.
Trotz dieser unheilvollen Vorzeichen folgte auf die Thronbesteigung am 15. Juni 1888 eine Phase ruhiger Kooperation zwischen dem betagten Kanzler und dem neuen Monarchen. Es gelang ihnen, sich in einer Reihe wichtiger Personalentscheidungen zu einigen. Wilhelm und Bismarck waren gemeinsam bei parlamentarischen Abendessen für regierungsfreundliche Fraktionen im Reichstag zu sehen. Hofprediger Stoecker wurde in einem nüchternen Ultimatum des Kaisers aufgefordert, sich zwischen politischer Aktivität und dem geistlichen Amt zu entscheiden. (Bismarck hatte schon seit langem erklärt, dass die Kombination des Hofpredigeramtes mit politischer Agitation gefährlich und inakzeptabel sei.) Wilhelm brach sogar mit der Tradition, indem er sich im offiziellen Regierungsorgan, dem Reichsanzeiger, von der Bismarck-feindlichen Agitation der ultrakonservativen Presse distanzierte, die Schmähreden der Kreuzzeitung verurteilte und erklärte: »Seine Majestät gestatten keiner Partei, sich das Ansehen zu geben, als besäße sie das kaiserliche Ohr.«18 Das Ganze war ein ermutigendes, öffentliches Signal für das Engagement des Kaisers für das liberal-konservative »Kartell« im Reichstag, das Bismarck bei den Wahlen von 1887 geschmiedet hatte. Das Liebäugeln mit klerikalen und ultrakonservativen Elementen, das den Kanzler während der Stoecker-Affäre so alarmiert hatte, gehörte der Vergangenheit an. Bismarck war ein besserer Höfling, als er selbst wagte zuzugeben, und schloss einen unerwarteten Waffenstillstand mit seinem ehemaligen Gegner, dem gewieften Grafen Waldersee, dessen Einfluss auf Wilhelm zu diesem Zeitpunkt den Höhepunkt erreicht hatte. Als man Wilhelm nahe legte, er solle sein Augenmerk darauf richten, eigene »kaiserliche Ideen« zu entwickeln, protestierte der neue Monarch entschieden: »Es ist doch zu dumm, wenn die Leute gar nicht begreifen wollen, dass die junge und die alte Generation vortrefflich zusammenwirken können. Getrennte Ideen des Kaisers und des Kanzlers existieren gar nicht.«19
Doch die Harmonie sollte nicht lange anhalten. Es stellte sich schon bald heraus, dass die beiden Männer sehr unterschiedliche Ansichten auf Schlüsselfeldern der Innenpolitik hatten. Die wohl wichtigste Frage betraf die Rolle des Staates bei der Regelung der Arbeitsverhältnisse im deutschen Reich. Wilhelm saß kaum zehn Monate auf dem Thron, als die deutsche Volkswirtschaft von einer massiven Streikwelle erschüttert wurde. Die Streiks begannen Anfang Mai 1889 im nördlichen Ruhrgebiet, dem Kernland des deutschen Bergbaus und der Schwerindustrie, und breiteten sich über das ganze Ruhrgebiet bis nach Aachen, ins Saarland, nach Sachsen und Schlesien aus. Mitte Mai waren 86 Prozent der Industriearbeiter an der Ruhr in Streik getreten. Es kam zu blutigen Zusammenstößen zwischen Streikenden und Regierungstruppen. Im Anschluss daran schwelten die Unruhen fast ein Jahr lang weiter, immer wieder kam es zu Unterbrechungen der Produktion und Gewaltausbrüchen.
Die Haltung des Kanzlers in der Arbeiterfrage 1889/90 war das Endspiel seiner Karriere und versinnbildlicht die Vielschichtigkeit seiner Vorgehensweise als Politiker. Auf Sitzungen des Kabinetts und des Kronrats sowie in Privataudienzen beim Kaiser vertrat Bismarck die Ansicht, dass ein staatliches Eingreifen zugunsten der Arbeiter nur den Sozialdemokraten Auftrieb geben und die Konkurrenzfähigkeit der preußischen Industrie auf internationalen Märkten schwächen werde. Eine Regulierung der Frauen- und Kinderarbeit, gesetzliche Verankerung der Sonntagsruhe und Festlegung einer Obergrenze für die wöchentlichen Arbeitsstunden werde zudem, so argumentierte der Kanzler ein wenig hinterlistig, die Freiheit der Beschäftigten einschränken, so viel und wann immer er oder sie es wünschten zu arbeiten.20 Bismarck liebäugelte allem Anschein nach heimlich bereits mit einer ganzen Palette von Optionen. Er vertrat schon seit langem die Auffassung, dass harte Repressionsmaßnahmen das einzige Mittel seien, mit dem der Staat der Herausforderung durch die sozialdemokratische Bewegung entgegentreten könne. Wenn man zuließ, dass die Streiks und Unruhen anhielten, ohne dass der Staat massiv eingriff, dann würde das den Widerstand des Reichstags gegen die neuen und schärferen antisozialistischen Gesetze schwächen, für die der Kanzler sich einsetzte (die alten Sozialistengesetze sollten im September 1889 auslaufen). Falls diese Taktik scheitern sollte, blieb noch die extreme Option eines Staatsstreichs mit dem Risiko, einen Bürgerkrieg auszulösen. Unter so schwierigen und unberechenbaren Rahmenbedingungen war absehbar, dass Bismarck möglicherweise als die einzige Persönlichkeit hervortreten würde, die imstande war, das Staatsschiff auf Kurs zu halten, genau wie er es während der preußischen Verfassungskrise 1862 getan hatte.21
Im Gegensatz zu Bismarck, der die Habgier der Arbeiter und die Sozialdemokratie für die aktuellen Unruhen verantwortlich machte, war Wilhelm der Meinung, dass das Kapital, nicht die Arbeiter die Hauptlast der Verantwortung trug und deshalb auch die Kosten für die Wiederherstellung des sozialen Friedens auf sich nehmen müsse. Wilhelm hatte nur rudimentäre, volkswirtschaftliche Kenntnisse, aber er wusste, dass der Auftragsboom, der von einem Konjunkturaufschwung seit 1887 eingeleitet worden war, die Gewinne der Bergwerkbesitzer und die Erwartungen ihrer Arbeiter gesteigert hatte. Am 11. Mai, nur vier Tage nachdem er erstmals über die Unruhen informiert worden war, befahl er dem Oberpräsidenten von Westfalen, die Geschäftsführer und Direktoren der Kohleunternehmen zu »zwingen«, die Löhne zu erhöhen; man sollte ihnen mit dem Abzug sämtlicher Regierungstruppen in der Region drohen, falls sie sich weigern sollten. »Wenn dann die Villen der reichen Besitzer und Directoren in Brand gesteckt, ihre Gärten zertreten würden, dann würden sie schon klein werden«, erklärte er am 12. Mai auf einer Kabinettsitzung, zu der er unangekündigt erschienen war, um seine Ansichten darzulegen.22 Im November hörte der preußische Landwirtschaftsminister Robert Lucius von Ballhausen, wie Wilhelm sagte: »Da müsse noch ungeheuer viel geschehen, er [der Kaiser] müsse verhindern können, dass das Kapital die Arbeiter aussauge«, denn die meisten Industriellen »beuteten sie [die Arbeiter] rücksichtslos aus und ruinierten sie«.23
Wilhelm war der Meinung, letztlich sei es Aufgabe des Souveräns, bei solchen Streitigkeiten zu vermitteln, immerhin seien die deutschen Arbeiter »seine Untertanen« mit einem rechtmäßigen Anspruch auf seine Fürsorge. Mitte Mai 1889 empfing er Delegationen der Bergarbeiter und der Minenbesitzer und warnte beide Seiten, allzu hohe Forderungen an die Gegenseite zu stellen. Es war eine beispiellose Geste, die ihm überraschend Respekt von breiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit einbrachte und dazu beitrug, den Weg für eine Verhandlungslösung zu ebnen.24 Der Kaiser bestand während des ganzen Jahres 1889 darauf, die Regierung müsse dafür Sorge tragen, dass die Löhne erhöht und die Rechte der Arbeiter (Sonntagsruhe, Beschränkung der Wochenarbeitszeit und der Frauen- und Kinderarbeit) gesetzlich geschützt wurden. »Er [der Kaiser] betrachte es als seine Pflicht«, erklärte er nach der Rückkehr von einer Reise nach Konstantinopel im November, »sich hier einzumischen und dafür zu sorgen, dass keine Streiks und Bedrückung der Leute erfolge.«25
Historiker betrachteten Wilhelms Initiativen auf diesem Feld bislang überwiegend skeptisch, sah man doch in seinem Interesse an der sozialen Frage nur einen Deckmantel für andere weniger hochfliegende Pläne, etwa für das Streben des Monarchen nach Popularität oder seinen illusorischen Wunsch, nach dem Vorbild Friedrichs des Großen ein »König der Bettler« zu sein. Es lohnt sich, die betreffende Passage aus Lamar Cecils ausgezeichneter Biografie – die für die gesamte Literatur repräsentativ ist – ausführlich zu zitieren:
 
Humanitäre Instinkte, die seinem Charakter völlig fehlten, bildeten keineswegs die Basis für seine Sorge um die armen Arbeiter. Gerade in der Jugend wies Wilhelms Charakter eine gewisse Kälte auf, die häufig von jenen beobachtet wurde, die ihn gut kannten, und sie zeigte sich mit besonderer Brutalität in der völligen Gefühllosigkeit, mit der er sich der Personen entledigte, die einst seine Freunde oder Diener gewesen waren. Es ist kaum denkbar, dass ein Mann, der bekanntermaßen so gefühllos gegenüber Personen war, die ihm nahe gestanden hatten, ein deutlich größeres Mitgefühl gegenüber seinen Untertanen insgesamt empfand. Kaiserin Friedrich, deren wohltätige Arbeit für die Unterdrückten aufrichtig war, zweifelte daran, dass ihr Sohn sich jemals wirklich um die Armen und ihre Probleme scherte.26
 
Mehrere Aspekte dieses Auszugs können nicht kommentarlos stehen bleiben. Mit Blick auf die gestörte Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist selbstverständlich bei jeder Darstellung der wahren Motive ihres Sohnes durch die Kaiserinwitwe große Skepsis angebracht. Außerdem ist es überaus problematisch zu implizieren, dass ein Eintreten für staatliche Interventionen im sozialen Bereich auf einer persönlichen »Wärme« basieren muss, damit es als aufrichtig gelten kann. Man muss hier unterscheiden zwischen der mitfühlenden Philanthropie von Wilhelms Mutter – in der sich die viktorianischen, liberalen Empfindlichkeiten um die Mitte des 19. Jahrhunderts spiegelten – und dem völlig andersartigen, staatlichen Paternalismus der protektionistischen Ära, der Wilhelms Weltanschauung prägte. Im letzten Jahrzehnt der Amtszeit Bismarcks als Kanzler war im deutschen Reich unter seiner Aufsicht das wohl fortschrittlichste System der sozialen Sicherung in ganz Europa eingeführt worden; und bei der Thronbesteigung hatte Wilhelm in seiner Antrittsrede vor dem Reichstag versprochen, das Programm der sozialen Gesetzgebung zu übernehmen, das Bismarck und sein Großvater 1881 eingeführt hatten.27
Wilhelm war somit ironischerweise Bismarcks (allzu) begeisterter Schüler, wenn er sich mit dem Kanzler um die Grenzen der staatlichen Vorsorge in der Sphäre der Arbeitsverhältnisse stritt. Georg Hinzpeter hatte als sein Hauslehrer konsequent die soziale Verantwortung des Monarchen betont (im Jahr 1889 wurde Hinzpeter zu einem der wichtigsten Berater des Kaisers in der Arbeiterfrage). Darüber hinaus wurde Wilhelm von Hans Hermann von Berlepsch beeinflusst, dem preußischen Handelsminister von 1890 bis 1896, dessen Ansichten zur Arbeitspolitik das reform-konservative Konzept einer gewissermaßen »sozialen Monarchie« verkörperten, die etwa durch die aktive Vermittlung des Souveräns in sozialen Fragen charakterisiert wurde.28 Wilhelms Initiativen auf diesem Feld hatten folglich ihren Ursprung in seiner eigenen Biografie und in der politischen Ökonomie des deutschen Kaiserreichs am Ende des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls darf man den Streit nicht dahingehend interpretieren, dass er allein durch die persönliche Initiative des Monarchen ausgelöst worden wäre. Die beispiellose Streikwelle von 1889/90 hatte die preußischen Behörden geschockt und verwirrt. Die Auseinandersetzungen um die Frage, wie man mit den Arbeiterunruhen umgehen solle, beschränkten sich keineswegs auf die politische Exekutive; sie zogen sich, wie Otto Pflanze zeigt, quer durch den gesamten Verwaltungsapparat. In der Provinz ebenso wie in Berlin fiel es den Beamten schwer, sich auf die Ursachen des Problems oder die geeigneten Maßnahmen zu einigen.29 Zudem war es kein rein deutsches Problem. Ganz ähnliche Meinungsverschiedenheiten waren bei der Reaktion der russischen Verwaltung auf Arbeiterunruhen in den neunziger Jahren zu beobachten. Auch hier verlief die Trennlinie zwischen den einen, die wie Innenminister Sergej Subatow die Monarchie und den Staat drängten, durch die Verteidigung der Arbeiterrechte die Loyalität des Proletariats zu gewinnen, und denjenigen, die den kapitalistischen Sektor schützen wollten.30
Wilhelm widersetzte sich in der Arbeiterfrage auch deshalb Bismarck, weil er die Gefahren, welche die Politik des äußersten Risikos barg, die der Kanzler betrieb, erkannte und fürchtete. Bismarck war bereit, wenn er es für notwendig hielt, eine so große Ausweitung der Streiks in Kauf zu nehmen, bis Deutschland an den Rand eines Bürgerkriegs gedrängt würde. Eine Alternative sah er darin, ein inakzeptabel strenges Sozialistengesetz in den Reichstag einzubringen und sich anschließend, nach mehrfachen Auflösungen des Parlaments, an die Spitze eines Verfassungsbruchs (oder Staatsstreichs) nach dem Muster von 1862 zu stellen. Falls es so weit gekommen wäre, hätte kaum ein Zweifel daran bestanden, dass sich der erfahrene Staatsmann als der dominante Partner in der Beziehung zwischen Kanzler und Kaiser entpuppt hätte. Wilhelm schreckte vor einer so gewagten Strategie zurück – wer wollte ihm dies verdenken? Bereits am 19. Mai 1889 vertraute er seinem Freund Philipp Eulenburg, dem preußischen Gesandten in Braunschweig, an, dass er »furchtbare Schwierigkeiten« mit Bismarck wegen der Angelegenheit einer »Verfassungsänderung« habe. Bei einem späteren Treffen mit Eulenburg am 13. Januar 1890 berichtete er, dass Bismarcks Unnachgiebigkeit in der Frage des Sozialistengesetzes einen politischen Konflikt von solchen Ausmaßen herbeizuführen drohe, dass einzig und allein ein Staatsstreich helfen könne:
 
Er, der Kaiser, sei in einer ganz entsetzlichen Lage, denn seine Regierung mit einer Art von Revolution, Schießen und sonstigen Gewaltmaßregeln zu beginnen hielte er für bedenklich. […] Ich habe […] den Wunsch, dem Volke, und besonders den Arbeitern meinen guten Willen zu zeigen und ihnen zu helfen, nicht aber die Absicht, auf sie zu schießen!31
 
Der Streit zwischen Kaiser und Kanzler war zugleich eine Auseinandersetzung um Regierungsmethoden sowie um die Machtverteilung innerhalb der Reichsexekutive. Bismarck war nicht nur über Wilhelms politische Maßnahmen entsetzt, sondern auch über die Art und Weise, wie der neue Kaiser angefangen hatte, sich in die Regierungsgeschäfte einzumischen. Am 6. und 7. Mai 1889, als dem Kaiser die ersten Meldungen von den Unruhen im Ruhrgebiet zu Ohren kamen, forderte er nachdrücklich Berichte von den Beamten vor Ort an, die direkt an ihn geschickt werden sollten. Seine Anweisungen an den Oberpräsidenten von Westfalen vom 11. Mai wurden ohne Bismarcks Wissen abgeschickt. Für derartige Initiativen hatte es in der praktischen Reichspolitik unter Wilhelm I. keinen Präzedenzfall gegeben, und Bismarck beantwortete sie recht brüsk. Er schickte eine eisige Nachricht an Oberpräsident Robert Eduard von Hagemeister von Westfalen und warnte ihn, dass die Regierung nicht die Verantwortung für Maßnahmen übernehmen könne, die von Verwaltungsbeamten ohne die Einwilligung der ihnen vorgesetzten Minister getroffen worden seien. Im Juni 1889 traf Bismarck über den Innenminister Ernst Herrfurth (einen von Wilhelm berufenen Minister) Vorkehrungen, um eine weitere unabhängige Initiative des Monarchen zu verhindern. Er riet Herrfurth, keine Berichte direkt an den Kaiser zu schicken, damit Seine Majestät sich nicht genötigt fühle, Entscheidungen ohne die zuständigen Berater und ohne fachkundigen Ratschlag zu treffen.32
Die Einmischung des Kaisers in den administrativen Ablauf während der Arbeiterunruhen kam einer direkten Herausforderung der Autorität Bismarcks als preußischer Ministerpräsident gleich. Innerhalb Preußens, dessen Verwaltung sich mit den Streiks und zugehörigen Unruhen konfrontiert sah, wurde das Recht des Ministerpräsidenten, die Politik zu koordinieren, durch eine Kabinettsorder definiert, die König Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1852 erlassen hatte und seither nicht aufgehoben worden war. Der Erlass sollte Ordnung und Einheitlichkeit in die Regierungsgeschäfte bringen; in diesem Sinne wurde bestimmt: »Über alle Verhaltensmaßregeln von Wichtigkeit […] hat sich der betreffende Departementschef vorher, mündlich oder schriftlich, mit dem Ministerpräsidenten zu verständigen.« Sämtliche Berichte, die von Verwaltungsdirektoren an den Monarchen geschickt wurden, mussten zuerst dem Ministerpräsidenten zur Kommentierung vorgelegt werden, dem auch das Recht vorbehalten war, bei allen Treffen zwischen entsprechenden Beamten und dem Monarchen anwesend zu sein.33 Ob die Kommunikation des Kaisers mit untergeordneten Beamten im Jahr 1889 tatsächlich ein Verfassungsbruch war, wie Bismarck später behaupten sollte, ist äußerst zweifelhaft; allerdings stellten sie mit Sicherheit einen Bruch mit der bisherigen, preußischen Praxis dar.
Abgesehen davon wurde Bismarcks Zugriff auf die Macht auch von dem Kreis inoffizieller Berater in Frage gestellt, der sich nunmehr um die Person des Kaisers herausbildete. Unter ihnen waren der ehemalige Hauslehrer Georg Hinzpeter, der Industrielle Graf Hugo Douglas, der Hofmaler und ehemalige Bergbaubeamte August von Heyden, der enge Freund des Kaisers Philipp Fürst von Eulenburg und Hertefeld und der Ehrfurcht gebietende Friedrich von Holstein, ein Ressortleiter im Auswärtigen Amt, der privilegierten Zugang zu den internen Überlegungen der Bismarck-Fraktion hatte. Sie hielten den Monarchen über Entwicklungen auf dem Laufenden, bestärkten ihn in seiner Entschlossenheit, informierten ihn über neue Vorschläge zur Politik und koordinierten die politische Unterstützung für seine Initiativen in der Arbeiterfrage. Zum großen Teil war es diesen und anderen Anhängern zu verdanken, dass Wilhelm bei Kabinettsdebatten neben dem gefürchteten Kanzler bestehen konnte, sich kundig zu den aktuellen Ereignissen äußerte und die politischen Optionen mit beeindruckender Gewandtheit und Selbstsicherheit auslotete.
Bismarck ließ in seinen Memoiren kein gutes Haar an diesen Personen und bezeichnete zum Beispiel von Heyden als einen Mann, der unter Künstlern vielleicht als Bergbauexperte durchgehen werde und umgekehrt unter Bergbaubeamten als Künstler. Nach seinem Abschied aus dem Amt schürte Bismarck unablässig Pressegerüchte über die mysteriösen »Hintermänner«, die einen so unverhältnismäßig starken Einfluss auf die höchste Regierungsgewalt ausübten. In Wirklichkeit war der Einfluss »unverantwortlicher« Personen, die dem Monarchen nahe standen, jedoch institutionell in der preußischen Machtstruktur durch die Funktion der zivilen und militärischen Kabinette verankert. Jedenfalls war der Umstand, dass Außenstehende das Ohr des Königs hatten, schon seit langem ein charakteristisches Merkmal des Hoflebens in Preußen. In seinen Memoiren verglich Bismarck die neuen Berater des Kaisers mit der »Coterie von ehrgeizigen Strebern«, die zur Zeit der Thronbesteigung Wilhelms I. entstanden war und »bei demselben [dem Monarchen] das Missverhältnis zwischen edlen Intentionen und mangelhafter Kenntnis des praktischen Lebens ausgebeutet hatte«.34 Tatsächlich ist häufig zu beobachten, dass höfische Systeme generell zur Herausbildung solcher Beratercliquen neigen, die eine Alternative zu offiziellen Kanälen präsentieren und damit dazu beitragen, dass der Monarch seine Autonomie erfolgreich wahrt.35 In solchen Situationen gibt nicht der offizielle Rang oder Zuständigkeitsbereich den Ausschlag, sondern die Nähe zum Monarchen. Wie der politische Theoretiker Carl Schmitt ausführte, ist der daraus resultierende Wettstreit um Einfluss und Gunst ein zentrales Problem des Verfassungsrechts, denn wer immer den Machthaber instruiert oder informiert, hat bereits an der Macht teil, unabhängig davon ob er der zuständige, zeichnungsberechtigte Minister ist.36 Wenn die Entstehung eines außerkonstitutionellen Beraterkreises um Wilhelm II. so viel Aufmerksamkeit unter den Zeitgenossen erregte, so lag das nicht zuletzt an dem außergewöhnlich starken Einfluss, den Bismarck bislang in der Exekutive ausgeübt hatte. Während der beiden vorhergehenden Herrschaften hatte er über sein de facto Machtmonopol in der zivilen Sphäre das »Vorzimmer der Macht« um die Person des Monarchen weitgehend unterdrückt.
Im Januar 1890 sah sich Wilhelm wegen der Eskalation des Streits mit Bismarck gezwungen, die Optionen, die ihm nach der deutschen Reichsverfassung offenstanden, genauer auszuloten. In Anbetracht der dominierenden Stellung Bismarcks innerhalb der Exekutive war es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine Gesetzesvorlage ohne seine Kooperation einzubringen. Die preußische Regierung konnte gegen den Willen des Ministerpräsidenten und Handelsministers (beide Ämter hatte Bismarck inne) kein Gesetz zum Arbeiterschutz in den preußischen Landtag einbringen. Ebenso wenig konnte die preußische Delegation im Bundesrat gegen den Willen des preußischen Außenministers, der das Stimmverhalten dieser Delegation festlegte (wiederum Bismarck), ein solches Gesetz diesem Organ vorlegen. Ein Weg blieb jedoch bei der komplizierten preußisch-deutschen Verfassung: Wenn ein anderer Bundesfürst überredet werden konnte, einen Vorschlag nach den vom Kaiser vorgegebenen Linien in den Bundesrat einzubringen, dann konnte Bismarck nicht verhindern, dass der Vorschlag von den versammelten Vertretern auch diskutiert wurde.
Die Umstände der Thronbesteigung Wilhelms II. boten günstige Vorzeichen für eine solche Zusammenarbeit unter Monarchen. Fünf Tage vor der Antrittsrede hatte Wilhelms Onkel, Großherzog Friedrich von Baden, in einem Rundschreiben an die übrigen Staatsoberhäupter vorgeschlagen, dass sich die Monarchen persönlich um Wilhelm gruppierten, wenn er den Reichstag eröffnete, um zu bestätigen, dass »der Kaiser auch in ihrem Namen spricht, wenn er Friede verheißt und die Wohlfahrt des Reiches zu fördern gelobt«.37 Mehrere Monarchen waren jedenfalls geneigt, Wilhelms Ansichten zur Arbeiterfrage zu unterstützen, entweder weil staatliche Interventionen im Einklang mit ihren eigenen Ansichten in der Sozialpolitik standen oder (wie im Falle Sachsens) weil sie den Wettbewerbsnachteil der Arbeitsgesetze ausgleichen wollten, die in ihren eigenen Territorien bereits galten. Großherzog Friedrich betrachtete seinerseits offenbar die fürstliche Zusammenarbeit im Bundesrat als ein Mittel für die Wiederbelebung der verfassungsmäßigen Rolle der deutschen Staatsoberhäupter sowie für die Garantie einer »wirksameren Teilnahme der durch die Reichsverfassung berechtigten Staaten an den Entscheidungen der großen politischen Fragen bezüglich der Weltstellung des Reiches und dessen Machtentfaltung«38 – ein Anspruch, der letztlich nicht erfüllt werden sollte. Bis zum 15. Januar hatte sich – weitgehend auf Wilhelms Anregung hin, wenn man einem Bericht des österreichisch-ungarischen Botschafters Glauben schenken kann39 – um den Großherzog Friedrich von Baden, König Albrecht von Sachsen und Großherzog Carl Alexander von Weimar eine Gruppe von Staatsoberhäuptern gebildet. Sie kamen überein, dass die sächsische Delegation einen Antrag in den Bundesrat einbringen sollte. Bismarck gelang es in letzter Minute, diesen Schachzug mit Hilfe von Rücktrittsdrohungen zu verhindern, die er den fürstlichen Gesandten in Berlin persönlich überbrachte.40 Doch die Initiative verdeutlicht ansatzweise die Vielfalt und das Potenzial der konstitutionellen Instrumente, die einem Kaiser gemäß der deutschen Hybrid-Verfassung zur Verfügung standen, der entschlossen war, seinen politischen Einfluss auszudehnen.
Die gegenseitige Blockade hielt den ganzen Januar und Februar 1890 hindurch an. Eine von Wilhelm auf den 24. Januar einberufene Kronratsitzung wurde zum Schauplatz eines offenen Schlagabtausches zwischen dem Kaiser und seinem ersten Minister. Wilhelm hielt eine emotionsgeladene Rede und sprach von skrupellosen Kapitalisten, die ihre Arbeiter wie »Zitronen« ausgequetscht und auf dem »Kothaufen« liegen gelassen hätten. Anschließend zählte er seine Reformvorschläge auf, lehnte die Idee eines verschärften Sozialistengesetzes ab und verknüpfte seine eigenen Initiativen mit den sozialen Errungenschaften seiner Vorfahren. Bismarck gab keinen Fußbreit Boden preis, und die Minister, die von der drohenden Krise gelähmt waren, fügten sich entweder (bis auf wenige Ausnahmen) dem Kanzler oder blieben ganz bewusst neutral. Nach der Sitzung sagte Wilhelm dem Vernehmen nach zum Großherzog von Baden: »Die Minister sind ja nicht meine Minister, sie sind die Minister des Fürsten Bismarck.«41
Doch dem Kanzler gingen allmählich die Optionen aus. Am 25. Januar verwarf der Reichstag das Sozialistengesetz. Damit wurde die Handlungsfähigkeit des Bismarckschen »Kartells« in Frage gestellt. Am 4. Februar gab Wilhelm zwei öffentliche Erklärungen ab. Eine an den Kanzler gerichtete forderte diesen auf, eine europaweite Konferenz zur Arbeiterfrage in Berlin zu organisieren. Und die zweite an den preußischen Handelsminister (ebenfalls Bismarck) gab Anweisung, neue Gesetze zu Sozialversicherung, Arbeitsbedingungen und Arbeitervertretung auszuarbeiten. Bismarck redigierte die Erklärungen, um ihre öffentliche Wirkung abzuschwächen, und zeichnete sie nicht gegen, aber er konnte nicht verhindern, dass sie die öffentliche Meinung für die Seite des Kaisers einnahmen. In den folgenden Wochen versuchte er mit einer erstaunlich vielfältigen Palette von Maßnahmen, Wilhelm die Hände zu binden: Er stachelte die Schweizer an, auf einer parallelen Arbeiterkonferenz in Bern zu beharren, die das Projekt des Kaisers in Berlin in den Hintergrund drängen würde, wollte die Sachsen von dem Plan abbringen, dem Bundesrat einen Gesetzesentwurf vorzulegen, erklärte wiederholt die Absicht, von mehreren Ämtern zurückzutreten, verlegte sich bei Ministertreffen auf eine Blockadetaktik und erneuerte seine Kampagne für strengere Sozialistengesetze, selbst auf Kosten mehrfacher Auflösungen des Reichstags. Das waren die grotesken, letzten Winkelzüge eines brillanten, siebzigjährigen »Machtmenschen«, dessen Machthunger, wie Bismarck selbst zugegeben hatte, alles andere in ihm verbrannt hatte.
Bismarck verfügte noch über einen letzten, wichtigen Trumpf, nämlich seine Fähigkeit, einen Reichstag zu lenken, in dem sein Kartell immer noch eine, wenn auch knappe, Mehrheit hatte. Da die gesetzgeberischen Pläne Wilhelms auch eine deutliche Steigerung der Militärausgaben vorsahen, zögerte der Kaiser immer noch, sich von dem Kanzler zu trennen, solange er meinte, dass er dessen Unterstützung für die Verabschiedung der umstrittenen Vorschläge durch das Parlament benötige. Über seine parlamentarische Basis hatte Bismarck das Druckmittel, das er brauchte, um den Kaiser zur Unterstützung des Sozialistengesetzes zu bewegen, das ihm wiederum eine späte Genugtuung bescheren würde. Doch auch dieser Vorteil ging verloren, als das Ergebnis der Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 bekannt wurde. Das Kartell, das Bismarck 1887 mitgeschmiedet hatte, war nunmehr zerschlagen; der Reichstag wurde von Sozialdemokraten, Linksliberalen und Katholiken dominiert – mit anderen Worten, von den Parteien der Opposition oder den »Reichsfeinden«, wie Bismarck sie so häufig gebrandmarkt hatte.
Das Ende wurde durch zwei Episoden beschleunigt, welche die Vorrechte des kaiserlichen Amtes und die Vollmacht des Kaisers berührten, die Formulierung der Politik zu beeinflussen (oder zu steuern). Im März 1890 trat Bismarck unvermutet an Ludwig Windthorst, den parlamentarischen Führer der katholischen Zentrumspartei, heran. Die beiden Männer erörterten die Bedingungen, unter denen das Zentrum künftig bereit wäre, ihre Stimmen im Reichstag der Regierung zur Verfügung zu stellen. Unter anderem forderte Windthorst die Aufhebung mehrerer antikatholischer Gesetze wie die Vertreibung des Jesuiten-Ordens, die noch aus der Zeit des »Kulturkampfs« Bismarcks gegen die Katholiken in den siebziger Jahren stammten.
Ein Schritt auf die Katholiken zu war bei der Sitzverteilung im Reichstag durchaus vernünftig; mit 106 Sitzen verfügte das Zentrum über das größte Einzelkontingent an Sitzen. Bismarck hatte mit Blick auf das bevorstehende Militärgesetz möglicherweise die Absicht, dem Kaiser zu demonstrieren, dass er ihm als politischer Lenker im Reichstag immer noch gute Dienste leisten konnte. Doch im historischen Kontext vom März 1890 war das Treffen mit Windthorst äußerst unklug. Der Kaiser lehnte vehement sämtliche Zugeständnisse an das katholische Lager ab – der Rückruf des aus dem Land vertriebenen Ordens der Redemptoristen war ihm bereits im September 1889 vorgelegt und kategorisch zurückgewiesen worden.42 Er wurde von Personen in seinem Umfeld aufgestachelt, gegenüber den Katholiken hart zu bleiben. Während des ganzen Herbstes und Winters 1889 ermahnten Eulenburg, der Großherzog von Baden, Holstein und andere Wilhelm, sich vor allen Schritten Bismarcks zur Versöhnung der Katholiken zu hüten. Insbesondere Philipp Eulenburg warnte mehrmals, dass Zugeständnisse an die partikularistischen und ultramontanen Kräfte im deutschen Katholizismus die Integrität des Reiches gefährden würden.43 Die weite Verbreitung solcher Ängste erinnert auf frappierende Weise daran, wie zerbrechlich das Nationalbewusstsein in Deutschland fast zwei Jahrzehnte nach der Reichsgründung immer noch war. Das Treffen mit Windthorst hatte darüber hinaus eine katastrophale Wirkung auf den Rest der mehrheitlich protestantischen und antiklerikalen Regierungsfraktion im Reichstag. Proteste kamen von den Nationalliberalen und sogar von den gemäßigten »Freikonservativen«, die zuvor eingefleischte Bismarck-Anhänger gewesen waren. Bismarck war jetzt stärker isoliert als zu irgendeinem Zeitpunkt seit 1866.
Da Wilhelm die Gunst der Stunde erkannte, suchte er geradezu die entscheidende Konfrontation. In einer zermürbenden Audienz am 15. März 1890 – morgens um 9.30 Uhr! – tadelte der Kaiser Bismarck, der noch nicht einmal gefrühstückt hatte, wegen des Treffens mit Windthorst. Er erklärte, der Kanzler habe nicht das Recht, ohne seine Erlaubnis mit Parteiführern zu verhandeln. Nur zwei Wochen zuvor, am 2. März, hatte Bismarck umgekehrt behauptet, Minister und andere Regierungsbeamte hätten kein Recht ohne ausdrückliche Erlaubnis des Kanzlers mit dem Kaiser zu kommunizieren, und hatte auf seine Vollmacht nach der bereits erwähnten Kabinettsorder von 1852 verwiesen. Doch der Kaiser verlangte nunmehr, dass ihm die Order nochmals vorgelegt werde, damit er sie aufheben konnte. Wenn man Wilhelms eigener Schilderung von dem Treffen Glauben schenken kann, so geriet Bismarck an diesem Punkt so sehr in Rage, dass der Kaiser instinktiv nach seinem Degen griff. Daraufhin wurde der alte Mann »weich und weinte«, während Wilhelm ihn – unbewegt durch die Krokodilstränen des Kanzlers – ansah.44 Drei Tage danach reichte Bismarck sein Rücktrittsgesuch ein.
 
Als Wilhelm II. im Jahr 1888 den Thron bestieg, glich das Amt des Kaisers einem Haus, in dem die meisten Zimmer noch nie bewohnt gewesen waren. Bis zum März 1890 hatte sich so manches geändert, und dieser Trend sollte sich in den folgenden Jahrzehnten fortsetzen. Der Thron war nicht länger wie unter Wilhelm I. nur der Sitz der Autorität, auf die die Regierungsgewalt sich stützte, sondern eine eigenständige politische Kraft. In den komplexen und schwierigen Verhandlungen um die Arbeiterfrage hatte sich der Thron erstmals als einer der Brennpunkte des Entscheidungsprozesses erwiesen. Bei jedem Schritt fand der Kaiser bereitwillige Verbündete, die ihm bei seiner Aufgabe zur Seite standen, und zwar nicht nur aus dem Umfeld eifriger Freunde und Berater, sondern aus einer breiteren Anhängerschaft innerhalb der Regierung, die von Bismarcks Herrschaft die Nase voll hatten und den wagemutigen Initiativen des neuen Monarchen Beifall spendeten. Mit dieser Unterstützung hatte Wilhelm ein Gesetzesprogramm entwickelt und durchgehalten, das in der deutschen Öffentlichkeit breite Unterstützung genoss. Die Arbeitergesetze, die im Zuge dieser Initiativen in den Jahren 1890-1892 in Kraft traten, schafften die Klagen der Arbeiter gewiss nicht völlig aus der Welt. Aber sie brachten einige Fortschritte auf den Gebieten der Sicherheit des Arbeitsplatzes, der Arbeitsbedingungen, des Jugendschutzes und der Schlichtung. Darüber hinaus blieb der Grundsatz, für den sie standen, nämlich dass »die Unternehmergewalt die Grenzen der durch den Staat vertretenen Interessen eben aller Gruppen zu achten hatte«, in den folgenden Jahrzehnten ein dominierendes Thema in der Sozialpolitik in Preußen und im Reich.45 Das Wichtigste war allerdings: Wilhelm hatte sich gegen einen politischen Koloss durchgesetzt und damit viele Haupthindernisse für die Machtausübung des Kaisers beseitigt. Auch als Mensch hatte Wilhelm viele zeitgenössische Beobachter mit seiner raschen Auffassungsgabe, seiner Selbstsicherheit und Beherrschtheit in der Diskussion beeindruckt. »Der Kaiser hat ausgezeichnet [der Staatsratssitzung betreffs der Arbeiterfrage] präsidiert«, bemerkte Friedrich von Holstein, »so dass alle Welt sich fragt, wo hat er das gelernt?«46
So weit so gut. Aber eine Reihe von Fragen blieb offen. Die Auseinandersetzung mit Bismarck hatte dem jungen Monarchen und seinen Helfershelfern, die sich auf die aktuellen Aufgaben konzentrierten, ein hohes Maß an Disziplin und Zielstrebigkeit abverlangt. Es war jedoch bereits klar, dass es den Kräften, die sich hinter dem Kaiser versammelt hatten, sowohl am nötigen Zusammenhalt als auch an administrativer Erfahrung und politischer Vision mangelte, um ihn langfristig zu stützen. Die Kabinettsorder von 1852 hatte den Zweck gehabt, eine einheitliche Linie und Disziplin in Regierungsangelegenheiten zu gewährleisten, indem dem Kanzler die Aufsichtsfunktion zugewiesen wurde. Falls diese Funktion nun langfristig abgeschafft werden sollte, wie Wilhelm allem Anschein nach in seiner letzten Auseinandersetzung mit Bismarck forderte, wer oder was würde dann an ihre Stelle treten? Schließlich könnte man hinzufügen, dass die Auseinandersetzungen von 1889/90 neben den positiven Errungenschaften auch einige unrühmliche Charaktereigenschaften des Kaisers hervortreten ließen: eine Tendenz, nicht den richtigen Ton zu treffen und über das Ziel hinauszuschießen, ein ungeduldiger Drang, alles auf einmal zu erledigen, eine Impulsivität, die ihm in den süddeutschen Bundesstaaten schon im Januar 1890 den Beinamen »Wilhelm der Plötzliche« eingetragen hatte. Und Zeitgenossen, die sich häufig in seinem Umfeld aufhielten, beobachteten eine gewisse persönliche Labilität an ihm. »Die Gesundheit des Kaisers ist vortrefflich«, vertraute Philipp von Eulenburg im Sommer 1889 Holstein an, »seine Unruhe unermesslich. Sein schwankendes Aussehen lässt leider auf eine gewisse nervöse Disposition schließen.«47

Banquos Geist: Bismarck im »Ruhestand«

Nach seinem erzwungenen Abschied im März 1890 traf man Bismarck nur selten in Berlin an, aber im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit blieb er noch lange präsent. In erster Linie betrachteten viele den Abgang des alten Kanzlers als Vorboten eines heilsamen Wandels, als »Ende der inneren Erstarrung«.48 Aber nur wenig später erlebte das Land einen dramatischen Stimmungsumschwung zugunsten des entlassenen Kanzlers. »Pilgerfahrten« zu seinem Landsitz bei Friedrichsruh kamen in Mode und es erreichte den alten Bismarck eine erstaunliche Menge an wohlwollenden Briefen. Am 1. April 1895 (seinem 80. Geburtstag) bekam er sage und schreibe 450 000 Briefe und Telegramme von Anhängern im ganzen deutschen Reich und darüber hinaus.49 Diese außerordentlich starke Resonanz spiegelte die tiefe Zuneigung wider, die viele Deutsche für den Exkanzler und Reichsgründer empfanden, aber sie hatte, wie Werner Pöls gezeigt hat, auch einen eindeutig politischen Nachklang.50
Bis Mitte der neunziger Jahre etablierte Bismarck sich als der wohl lautstärkste und kompetenteste Kritiker der Regierung. Die Verbindungen und das Fachwissen, die er beim Aufbau seiner berüchtigten »geheimen Presseorganisation« erworben hatte, wurden sinnvoll genutzt. Von Friedrichsruh aus beeinflusste und zum Teil auch finanziell unterstützte Zeitungen setzten dem neuen Kaiser und seinen wichtigsten Beamten mit einem Hagel beißender, kritischer Kommentare arg zu. Bismarcks Alterssitz wurde zum Brennpunkt einer losen Koalition von Abtrünnigen. Zu diesen zählten eingefleischte Bismarck-Anhänger, aber auch weitere Personen mit den unterschiedlichsten politischen Zielrichtungen, etwa der verärgerte, ultrakonservative Graf von Waldersee und der linksliberale Journalist Maximilian Harden, der später Schlüsselfiguren in Wilhelms Entourage erheblich schaden sollte.51 Bismarcks Agitation hatte den durchaus intendierten Effekt, dass der politische Dissens legitimiert wurde, den er selbst als Kanzler nie geduldet hatte. »Wir brauchen ein Gegengewicht«, erklärte er scheinheilig in einer Rede vom Sommer 1892, »und die freie Kritik halte ich für die monarchische Regierung für unentbehrlich.« Wie Philipp Eulenburg im Sommer 1895 beobachtete, war diese Pose Teil eines Plans, um Bismarck als »die Personifizierung des modernen Deutschland gegenüber Kaiser Wilhelm« auszugeben. »Er beschädigt ganz bewusst die Stellung des Kaisers, welche er selbst begründet hat.«52
Wilhelm und seine offiziellen wie auch inoffiziellen Berater waren über den »Donner aus Friedrichsruh« zutiefst beunruhigt. Sie hegten (weit hergeholte) Befürchtungen, dass Bismarck an der Spitze einer plebiszitären Bewegung nach Berlin »zurückkehren« würde. Da der Konflikt immer stärker als eine persönliche Auseinandersetzung zwischen dem Exkanzler und dem jungen Kaiser wahrgenommen wurde, hatte es den Anschein, als würde es Bismarck gelingen, die deutsche Öffentlichkeit gegen den Monarchen aufzubringen, insbesondere in den südlichen Fürstentümern, wo man der Meinung war, dass der Kanzler bei der nationalen Identitätsstiftung seit 1871 eine entscheidende Rolle gespielt hatte.53 In hohen Regierungskreisen war man gemeinhin – und nicht ohne Grund – der Auffassung, dass Bismarck zu denjenigen zählte, die in Deutschland und im Ausland Gerüchte streuten, der Kaiser sei psychisch instabil. Möglicherweise hielt sich Bismarck gar für befugt, den Inhalt geheimer Staatsdokumente nach außen sickern zu lassen, was er im Oktober 1896 auch tatsächlich tat, als er den Text des abgelaufenen, aber hochsensiblen Rückversicherungsvertrags mit Russland in den Hamburger Nachrichten veröffentlichte.54 Die Regierung reagierte auf diese Provokationen, indem sie über halboffizielle Organe die Behauptungen der Bismarckschen Presse dementierte; das Auswärtige Amt war so besorgt, dass es sogar versuchte, eine Zeitung aufzukaufen, an der ein Konsortium von Bismarck-Anhängern Interesse angemeldet hatte.
Welchen Effekt die Bismarck-Kampagne auf Wilhelm persönlich hatte, kann man sich ohne weiteres ausmalen. Einige der schädlichsten öffentlichen Äußerungen des jungen Kaisers Anfang der neunziger Jahre sind darauf zurückzuführen, dass er angesichts der Gefahr aus Friedrichsruh ein Gefühl der Verletzlichkeit empfand, dass sich ein gewisser Verfolgungswahn bemerkbar machte. »Einer nur ist Herr im Reiche, und der bin ich! Keinen anderen dulde ich«, sagte er 1891 vor einer Versammlung rheinischer Industrieller, die er im Verdacht hatte, Bismarck-freundliche und arbeiterfeindliche Sympathien zu hegen.55 Derartige Patzer waren natürlich für die Bismarcksche und oppositionelle Presse ein gefundenes Fressen. Im privaten Kreis kam es zu Ausbrüchen, in denen sich Zorn und Panik vermischten. Nachdem Wilhelm zu Ohren gekommen war, dass Bismarck dem russischen Botschafter Pawel Schuwalow mitgeteilt hatte, er sei aus Protest gegen die antirussische Politik des Kaisers zurückgetreten, zog Wilhelm mehrfach juristische Schritte unter dem Vorwurf des Hochverrats in Erwägung. Das Reichsamt für Justiz leitete zu diesem Zweck sogar eine vorläufige Untersuchung ein.56 Im Sommer 1892 bereitete Bismarck sich wegen einer Familienhochzeit auf eine Reise nach Wien vor. Wilhelm nahm dies zum Anlass, dem österreichischen Kaiser einen Brief zu schreiben, und drängte ihn, diesem »ungehorsamen Untertan« keine Audienz zu gewähren, solange er nicht reuevoll zu Wilhelm gekommen sei und »peccavi« (Ich habe gesündigt) gesagt habe – diese Boshaftigkeit verzieh die deutsche Öffentlichkeit, einem gut informierten Beobachter zufolge, dem Kaiser nie.57 Im Urlaub im Herbst 1893 schäumte Wilhelm immer noch vor Wut und sprach »von einem großen einstmaligen Strafgericht [gegen Bismarck]«.58 Eine weithin publik gemachte und äußerst theatralische Begegnung zwischen den beiden Männern in Berlin im Januar 1894 ergab eher einen Waffenstillstand als eine dauerhafte Versöhnung. Nachdem Bismarck im Jahr 1896 den Inhalt des Rückversicherungsvertrags veröffentlicht hatte, sprach Wilhelm erneut davon, den »alten bösen Mann« in der Festung von Spandau einzusperren.59
Wilhelm empfand für den alten Mann recht verwirrende und intensive Gefühle. »Wie habe ich den Fürsten Bismarck geliebt!«, teilte er Philipp Eulenburg im Sommer 1896 während einer der alljährlichen Segeltörns in Skandinavien mit. »Was habe ich ihm geopfert! Ich habe ihm mein Elternhaus zum Opfer gebracht! Um seinetwillen bin ich durch Jahre meines Lebens misshandelt worden, und ich habe es ertragen, weil ich ihn als den lebendigen Ausdruck des preußischen Vaterlandes empfand.«60 Solche Ausbrüche künden nicht nur von Selbstmitleid und Selbstrechtfertigung; sie geben einen Hinweis darauf, was es bedeutete, im Zeitalter eines Titans der europäischen Geschichte aufzuwachsen. Wenn Bismarck weitgehend den Platz von Wilhelms Vater innerhalb der politischen Loyalitäten des Prinzen usurpiert hatte, so übte er einen entsprechend starken Einfluss auf die politische Vorstellungskraft des neuen Kaisers aus. Es ist in der Tat frappierend, wie häufig sich Wilhelm – insbesondere in den neunziger Jahren – für politische Linien und Haltungen aussprach, die ihrem Geist nach als »Bismarcksche« gelten konnten. Zum Beispiel hielt er das Kartell weiterhin für die solideste Basis einer Regierung, selbst nachdem die Parteien des Kartells die Fähigkeit verloren hatten, eine parlamentarische Mehrheit im Reichstag zu bilden.61 Holstein war der Meinung, dass einige persönliche Einmischungen des Kaisers in die deutsche Diplomatie, die später diskutiert werden, in Wirklichkeit Versuche waren, die Außenpolitik des Neuen Kurses mit Bismarckschen Prioritäten in Einklang zu bringen.62 Wenn Wilhelm danach trachtete, seine eigene politische Vorrangstellung zu festigen, so könnte man argumentieren, wollte er in Wirklichkeit nur »die Fiktion des monarchischen Regiments« buchstäblich umsetzen, welche die »Lebenslüge« des Bismarckschen Systems gewesen war.63
Selbst das bekannte Liebäugeln Wilhelms mit einem Staatsstreich nach mehrfachen Auflösungen des Reichstags lässt sich mit Recht auf Bismarck zurückführen. Bei zahlreichen Anlässen hatte der Kanzler laut über die Möglichkeit nachgedacht, das Parlament zu schließen oder seine Vorrechte durch einen Staatsstreich radikal zu beschneiden. Im folgenden Jahrzehnt drohte Kaiser Wilhelm II. in einem ähnlichen Ton, »vor äußersten Maßnahmen nicht zurückzuschrecken« und den Bundesrat wiederum als wahren Sitz der exekutiven Gewalt einzusetzen, im Einklang mit »Bismarcks Theorie« von der deutschen Verfassung. 64 Während eines kurzen Tauwetters in ihren Beziehungen im Februar 1890 schärfte Bismarck Wilhelm ein, vor einer Politik der Konfrontation nicht zurückzuschrecken, und nahm ihm das Versprechen ab, »notfalls zu schießen«, wenn es sich als unmöglich erweisen sollte, den Reichstag zur Räson zu bringen. Kurzfristig lehnte Wilhelm, wie gezeigt, diese Option demonstrativ ab, aber allem Anschein nach ließ er sich von der inneren Logik überzeugen, auch wenn er sie aus taktischen Gründen ablehnte.65 Sein törichtes (unverschlüsseltes) Telegramm vom März 1890 an einen Gardeoffizier in Berlin, in dem er die Truppen aufforderte, bei Zusammenstößen mit streikenden Arbeitern vom Gewehre Gebrauch zu machen, zeigt exemplarisch Wilhelms Entschlossenheit, die Grundsätze seines Lehrmeisters umzusetzen und sich als würdiger Nachfolger des Kanzlers zu erweisen.
In einer polemischen Analyse der »Erbschaft Bismarcks« beobachtete Max Weber, dass jene, die Bismarck bewunderten, tendenziell weniger »die Großartigkeit seines feinen und beherrschenden Geistes, sondern ausschließlich den Einschlag von Gewaltsamkeit und List in seiner staatsmännischen Methode, das scheinbar oder wirklich brutale daran« bewunderten.66 Nicht nur durch seine Proteste, sondern durch sein ganzes Verhalten im Amt demonstrierte Wilhelm in den neunziger Jahren, dass er ein Bismarckianer dieser Art war. Seine Weigerung, Kritik seiner Entourage zu dulden (und die daraus folgende Unterwürfigkeit und der Byzantinismus seines Milieus), ließen einige gut unterrichtete Zeitgenossen Parallelen zu Bismarck ziehen. »Wir haben darüber geklagt, dass Bismarck die Charaktere unterdrückt«, schrieb Waldersee im Dezember 1890, »hier sehen wir aber dasselbe, nur in stärkerer und gefährlicherer Form.«67 Im Sommer 1892 warf Wilhelm seinen Ministern vor, dass sie nicht so eilfertig seine Wünsche ausführen würden, wie sie es noch unter dem ersten Kanzler üblicherweise getan hatten. »Früher ging es in ernsten Fragen oft in der Weise her, dass Bismarck den Gedanken, den er später mit seiner Genialität zu vertreten beabsichtigte, anregte und sodann im Ministerium die Möglichkeit der praktischen Durchführung besprach. Da kam es denn, dass ein Minister erklärte: ›Ich mache es.‹«68 Bei einem späteren Anlass behauptete er nach einem öffentlichen Aufschrei der Empörung über sein diktatorisches Benehmen, dass er endlich »die kolossale Perfidie des alten Bismarck« begreife, der ihn ermuntert habe, »den Absolutismus schärfer hervorzudrehen«.69 Anders ausgedrückt, als Wilhelm die Absicht bekundet hatte, sein »eigener Kanzler« zu sein, da meinte er nicht allein, dass er die politischen Funktionen des Amtes übernehmen würde, sondern auch dass er sie nach dem Vorbild des Mannes ausüben würde, der für eine ganze Generation Deutscher die Bedeutung politischer Macht definiert hatte. Der berühmte Konflikt zwischen Wilhelm und Bismarck darf nicht blind machen für die Tatsache, dass die Auffassung und Ausübung des Amtes durch den letzten deutschen Kaiser der – wenn auch plumpe und illusorische – Versuch war, die großen Errungenschaften des ersten deutschen Kanzlers zu wiederholen.