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Übernahme der Macht
Macht und Verfassung
Wie war die Macht im deutschen politischen System
verteilt? Wie viel Macht lag im Deutschen Reich beim Kaiser? Um
diese Fragen zu beantworten, müssen wir zunächst die Verfassung vom
16. April 1871 näher betrachten, die die politischen Organe des
Reiches und ihre Beziehung untereinander definiert. Die
Reichsverfassung, die Wilhelm II. in seiner Thronrede vor dem
Reichstag am 25. Juni 1888 »zu wahren und zu schirmen«1 schwor, war das Produkt eines komplexen,
historischen Kompromisses. Nach dem überwiegend von Preußen
errungenen Sieg über Frankreich 1870/71 bestand die Aufgabe der
neuen deutschen Reichsverfassung darin, die Macht unter einer
Vielzahl von Interessen aufzuteilen. Bismarck selbst war natürlich
in erster Linie daran interessiert, den Einfluss Preußens zu
festigen und auszudehnen. Doch mit diesem Programm konnte man aus
nahe liegenden Gründen die anderen deutschen Staaten, insbesondere
die großen deutschen Länder Baden, Württemberg und Bayern,
natürlich nicht locken. Folglich musste ein Kompromiss gefunden
werden zwischen den Ambitionen der souveränen Einheiten, die
zusammengekommen waren, um das deutsche Reich zu bilden, und der
Notwendigkeit einer zentralen, koordinierenden Exekutive.
Wie zu erwarten, war die daraus resultierende
Verfassung ihrem Wesen nach ausgesprochen dezentral. Tatsächlich
handelte es sich weniger um eine Verfassung im traditionellen Sinn
als um einen Vertrag zwischen souveränen Territorien, die sich
darauf geeinigt hatten, das deutsche Kaiserreich zu
bilden.2 Im Einklang mit der
Auffassung, dass das neue Reich eigentlich
kaum mehr als eine Konföderation von Fürstentümern, also ein
Fürstenbund war, tauschten die deutschen
Länder auch weiterhin untereinander diplomatische Vertretungen aus
– ein glücklicher Umstand, wie sich herausstellte, weil die von den
Gesandten verfassten Berichte heute zu den besten Quellen zählen,
die uns für die Erforschung des politischen Lebens im neuen Reich
vorliegen. Nach derselben Logik entsandten ausländische Mächte
nicht nur nach Berlin ihre Vertreter, sondern auch nach Dresden und
München.
Der ausgeprägte Föderalismus der Verfassung von
1871 tritt noch deutlicher zutage, wenn man sie mit der
gescheiterten Reichsverfassung vergleicht, welche die liberalen
Juristen der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 entworfen
hatten. Hatte die Frankfurter Verfassung einheitliche, politische
Grundsätze für die Regierungen aller Einzelstaaten festgelegt,
verzichtete das spätere Dokument darauf. Während die Frankfurter
Verfassung die Schaffung einer »Reichsgewalt« vorsah, die sich von
der Regierungsgewalt der Mitgliedstaaten unterschied, war nach der
Verfassung von 1871 der Bundesrat das souveräne Organ, das sich aus
»Vertretern der Mitglieder des Bundes« zusammensetzte. 3 Der Bundesrat entschied, welche
Gesetzesinitiativen in den Reichstag eingebracht wurden, und ohne
seine Zustimmung konnte kein Gesetz in Kraft treten; ferner hatte
der Rat die Aufgabe, die Einhaltung der Reichsgesetze zu
überwachen. Jedes Mitglied des Bundes hatte das Recht,
Gesetzesvorlagen einzubringen und sie im Rat diskutieren zu lassen.
Die Verfassung von 1871 kündigte in Artikel 8 sogar an, dass der
Bundesrat aus den eigenen Mitgliedern eine Reihe »dauernder
Ausschüsse« bilden werde, die unter anderem für die Ressorts
Außenpolitik, Heer und Befestigungsanlagen sowie Marine zuständig
waren.
Die dezidiert föderative Ausrichtung der
Verfassung hatte unweigerlich wichtige Folgen für die Stellung des
Kaisers. Die Autoren der Verfassung gaben sich eindeutig alle Mühe,
die Vollmachten des kaiserlichen Amtes nicht auf eine Weise
hervorzuheben, dass sie die föderalistischen Empfindlichkeiten
beeinträchtigt
hätten. Auch hier ist ein Vergleich mit der Frankfurter Verfassung
aufschlussreich. Während das ältere Dokument einen Abschnitt mit
der Überschrift »Reichsoberhaupt« enthält, hat die Verfassung von
1871 keine entsprechende Rubrik. Stattdessen werden die Vollmachten
des Kaisers in Abschnitt IV festgelegt, der sich mit dem Präsidium
des Bundes und des Bundesrates befasst. Während die Verfassung von
1849 ganz klar feststellt: »Der Kaiser erklärt Krieg und schließt
Frieden«, fügt das spätere Dokument hinzu, dass der Kaiser die
Zustimmung des Bundesrates benötigt, um Krieg zu erklären, mit
Ausnahme von Fällen, in denen das Reichsgebiet angegriffen wird.
Während die Frankfurter Verfassung dem Kaiser das Recht einräumt,
beide Kammern des Parlaments aufzulösen (Artikel 79), legt die
Reichsverfassung von 1871 in Artikel 24 fest, dass der Bundesrat
die Vollmacht habe den Reichstag aufzulösen, aber die Zustimmung
des Kaisers einholen müsse. In Artikel 14 wird vereinbart, dass
sich der Bundesrat jederzeit selbst einberufen kann, sofern sich
ein Drittel der Mitglieder dafür ausspricht. Kurzum, der Kaiser
erschien 1871 als ein deutscher Fürst unter anderen, als primus inter pares, dessen Befugnisse sich aus
seiner Sonderstellung in dem Bund ableiteten, statt aus einem
Anspruch auf direkte Herrschaft über das Reichsgebiet. Daraus
folgte auch, dass der offizielle Titel nicht »Kaiser von
Deutschland« lautete, wie Kaiser Wilhelm I. es vorgezogen hätte,
sondern »Deutscher Kaiser«. Einem nicht eingeweihten Leser der
Verfassung von 1871 konnte man es durchaus nachsehen, wenn er zu
dem Schluss gelangte, dass im deutschen Kaiserreich der Bundesrat
der eigentliche Sitz nicht nur der Souveränität, sondern auch der
politischen Macht war.
Doch Verfassungen haben häufig wenig mit der
politischen Realität zu tun – man denke nur an die »Verfassungen«
der Staaten des Ostblocks nach 1945 -, und die Reichsverfassung von
1871 bildete hier keine Ausnahme. Ungeachtet der vielen
Zugeständnisse, die dem Prinzip des Föderalismus auf dem Papier
gemacht wurden, hatten die meisten Entwicklungen der deutschen
Politik
im Laufe der folgenden Jahrzehnte in der Praxis die Tendenz, die
föderale Autorität zu untergraben, die dem Bundesrat verliehen
worden war. Auch wenn Reichskanzler Bismarck hartnäckig erklärte,
dass Deutschland ein »Fürstenbund« sei und bleibe, übte der Rat nie
die ihm laut Verfassung zustehenden Vollmachten aus. Dafür gab es
verschiedene Gründe. Der wichtigste und naheliegendste Grund war
schlichtweg die überwältigende Dominanz Preußens, in militärischer
wie in territorialer Hinsicht. In dem Bund genoss der Staat Preußen
mit 65 Prozent der Landesfläche und 62 Prozent der Bevölkerung de
facto eine Vormachtstellung. Das preußische Heer stellte die
süddeutschen Armeen in den Schatten. Der König von Preußen war
gemäß Artikel 63 der Verfassung in seiner Funktion als deutscher
Kaiser gleichzeitig der Oberbefehlshaber der Reichstruppen. Und
laut Artikel 61 war »in dem ganzen Reiche die gesamte Preußische
Militärgesetzgebung ungesäumt einzuführen«. Das führte sämtliche
Ansprüche des Bundes ad absurdum, militärische Angelegenheiten über
einen »dauernden Ausschuss« zu regeln. Mit Ausnahme der
hanseatischen Stadtstaaten Hamburg, Lübeck und Bremen gehörten die
kleineren Fürstentümer in Mittel- und Norddeutschland einer
preußischen Klientel an, die bei Bedarf jederzeit unter Druck
gesetzt werden konnte. Da Preußen selbst schon 17 der 58 Stimmen im
Rat hatte, war es folglich so gut wie unmöglich, dass sich eine
Koalition anderer Staaten herausbildete, die einen preußischen
Antrag ablehnen konnte.
Auf jeden Fall war es äußerst unwahrscheinlich,
dass der Bundesrat jemals die politische Bühne in Deutschland so
sehr dominieren würde, wie die Föderalisten es sich erhofft hatten.
Bismarck weigerte sich als Kanzler, dem Rat eine öffentliche Rolle
einzuräumen, die sich mit der besonderen Zuständigkeit der
preußischen Krone und seiner Person als ihrem ersten Diener
überschnitt. Zum Beispiel sorgte er dafür, dass der »Ausschuss für
die auswärtigen Angelegenheiten« ungeachtet der Bestimmungen in
Artikel 8 der Verfassung nur auf dem Papier Bestand hatte. Überdies
fehlte dem Bundesrat ein geeigneter Verwaltungsapparat,
um Gesetze auszuarbeiten. Somit war er auf die preußische
Bürokratie angewiesen, mit dem Ergebnis, dass der Bundesrat
verstärkt die Funktion eines Gremiums zur Prüfung von
Gesetzesvorlagen übernahm, welche zuvor das preußische
Staatsministerium formuliert und diskutiert hatte. Eine
vergleichbare Verwässerung der Autorität lässt sich beobachten,
wenn man die Rolle, die der Rat bei den Auflösungen des Reichstags
von 1878, 1887, 1893 und 1906 spielte, miteinander vergleicht. Der
Rat ergriff bei all diesen Anlässen nicht etwa selbst die
Initiative, sondern wurde zu einem immer willfährigeren Instrument
der Reichspolitik.4 Die untergeordnete
Rolle spiegelte sich sogar in der politischen Architektur Berlins
wieder: Da der Bundesrat kein eigenes Gebäude hatte, wurde er in
der Reichskanzlei untergebracht.
Das Primat Preußens wurde durch die Schwäche der
Verwaltungseinrichtungen auf Reichsebene noch untermauert. Eine Art
Reichsverwaltung kristallisierte sich zwar in den siebziger Jahren
heraus, als neue Departements eingerichtet wurden, um die wachsende
Flut an Reichsangelegenheiten zu bewältigen, und ihre Bedeutung für
die Vorbereitung von Gesetzesinitiativen nahm während der gesamten
wilhelminischen Ära zu, doch sie blieb in die preußische
Machtstruktur eingebunden und auf sie angewiesen. Die Leiter der
Reichsämter (Auswärtige Angelegenheiten, Innenpolitik, Justiz,
Postwesen, Eisenbahn, Schatzamt) waren keine Minister im
eigentlichen Sinn, sondern Staatssekretäre von untergeordnetem
Rang, die direkt dem Reichskanzler unterstellt waren. Die
preußische Bürokratie war größer als die des Reichs, und daran
änderte sich auch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nichts;
zudem stammten die meisten Beamten in der Reichsverwaltung zugleich
aus Preußen.
Aus Sicht derjenigen, von denen erwartet wurde,
dass sie das deutsche System mit Leben erfüllten, brachte dieser
preußisch/ kaiserliche Dualismus gravierende Probleme in der
politischen Verwaltung mit sich. Trotz der Vorrangstellung des
größten Mitgliedstaates war es für die preußische Regierung
unmöglich,
die Politik in Preußen selbst ohne den Blick auf die Situation im
ganzen Reich zu formulieren. Der offensichtlichste Grund hierfür
war der Umstand, dass der preußische Ministerpräsident während des
Kaiserreichs zumeist gleichzeitig Reichskanzler war. Somit war er
zwei Legislativen gegenüber verantwortlich: dem preußischen Landtag
und dem Reichstag. Die beiden Organe waren nicht nur institutionell
verschieden, sondern hoben sich auch politisch stark voneinander
ab. Der Reichstag wurde auf der Basis eines allgemeinen
Männerwahlrechts gewählt und beherbergte eine bunte Palette von
Parteien, welche die erhebliche regionale, konfessionelle,
ethnische und sozioökonomische Vielfalt des deutschen Volkes
repräsentierte. Der preußische Landtag hingegen wurde nach einem
Dreiklassenwahlrecht gewählt, das die Grundbesitzer massiv
begünstigte und so die Vorherrschaft konservativer und
rechtsliberaler Kräfte gewährleistete. Da Entwicklungen in Preußen
die Haltung der Parteien im Reichstag beeinflussen konnten und
umgekehrt, fiel dem Kanzler die schwierige Aufgabe zu, die
Prioritäten der sehr verschiedenen Legislativen
auszubalancieren.
Von 1871 bis 1890 hatte mit Otto von
Bismarck-Schönhausen eine überragende Persönlichkeit den Vorsitz
über dieses einzigartig komplexe, politische System. Die Wurzeln
für Bismarcks dominante Stellung lagen nicht zuletzt in der
wirksamen Kombination preußischer und reichsdeutscher Ämter unter
seiner Kontrolle. Als Reichskanzler übte er direkte Autorität über
die kaiserlichen Staatssekretäre aus; als preußischer
Ministerpräsident leitete er die Debatten des preußischen
Ministeriums; als preußischer Außenminister war er zuständig für
die Vergabe der 17 Stimmen Preußens im Bundesrat.5 Diese strategische Stellung entlang der
Trennlinie zwischen dem Reich und seinem dominierenden
Mitgliedsstaat gab den Ausschlag für seinen politischen Einfluss.
Wenn man jemals seine preußischen Wurzeln ausreißen und aus ihm
allein einen Reichsminister machen wolle, sagte Bismarck einmal vor
dem Reichstag, dann sei er ebenso machtlos wie jeder
andere.6 An diesem Dreh- und Angelpunkt
des »unvollendeten Föderalismus« Deutschlands hatte Bismarck so
gut wie alle Aspekte der Regierungspolitik in Preußen und im
Kaiserreich unter Kontrolle.7
Doch mit der Ämterhäufung allein lässt sich die
auf einzigartige Weise dominierende Stellung Bismarcks im deutschen
Reich nach 1871 nicht erklären. Ebenso wichtig war sein Status als
Architekt der Kriege der nationalen Einigung, sein Ansehen als
Außenminister mit einem beispiellosen Geschick und Urteilsvermögen,
seine unerreichte Fähigkeit, innenpolitische Widersacher
auszutricksen und einzuschüchtern, seine Gabe, die öffentliche
Meinung zu instrumentalisieren und seine Gewandtheit im Umgang mit
seinem königlichen Herrn. »Man muss dabei gewesen sein, um bezeugen
zu können, welche Herrschaft dieser Mann […] über die gesamte
Mitwelt ausgeübt hat«, erinnerte sich der linksliberale Politiker
Ludwig Bamberger. »Es gab eine Zeit, in der man in Deutschland
nicht zu sagen wagte, wie weit sein Wille reiche.« Nicht nur habe
»seine Macht so bombenfest« gestanden, »dass Alles vor ihm
zitterte«. Vielmehr habe er sogar »die Bahnen bestimmt, in denen
sich die Institutionen, die Gesetze und, was noch wichtiger ist,
die Geister bewegen«. Zeitgenossen aller politischer Couleur
sprachen wahlweise von Bismarcks »Alleinherrschaft«, seinem
»Absolutismus« oder der »Diktatur«, die ein »allmächtiger«,
pommerscher »Jupiter« ausübte. In der Tat hat selbst Hans-Ulrich
Wehler, ein Historiker, der für gewöhnlich nicht zu
»personalistischen« Erklärungsansätzen neigt, das Webersche Konzept
der »charismatischen Herrschaft« heraufbeschworen, um der Fülle von
Autorität gerecht zu werden, die nicht auf die Herkunft des
Kanzlers, die Ämter und die Werte, für die er stand, reduziert
werden kann.8 Ob dieser Begriff zu
Recht auf Bismarck angewandt werden kann, ist von den Kritikern
Wehlers in Frage gestellt worden, aber die außergewöhnliche,
politische Macht und öffentliche Prominenz Bismarcks stehen außer
Zweifel.9
Was bedeutete dies alles nun für den deutschen
Kaiser? Mit Blick auf seine Stellung nach der streng monarchischen
Verfassung
Preußens und der de facto unangefochtenen Dominanz der preußischen
Exekutive innerhalb des Reichs, hatte die preußischdeutsche Krone
potenziell eine enorme Macht. Der Kaiser schlug eine Brücke
zwischen der Reichsregierung und dem mächtigsten Bundesstaat, und
zwar in einem strengeren und persönlicheren Sinn als der Kanzler,
der jederzeit von seinem Amt zurücktreten konnte. Nach Artikel 18
der Verfassung war der Kaiser befugt, Reichsbeamte zu ernennen und
zu entlassen; das galt nach der preußischen Verfassung auch für die
einflussreiche, preußische Bürokratie. Er war Oberbefehlshaber des
Heeres und der Marine im Krieg und im Frieden mit der Vollmacht,
Personen zu ernennen und zu entlassen (Artikel 53 und 63). Seine
Zustimmung war für die Verabschiedung preußischer und – über den
Einfluss seiner Vertreter im Bundesrat – reichsdeutscher Gesetze
erforderlich. Und er verfügte in der Form ziviler und militärischer
Kabinette über Stabstrukturen, die ihm persönlich dienten und nicht
dem Parlament Rechenschaft ablegen mussten, und damit über eine
eigene institutionelle Machtbasis. Dominic Lieven hat diesen
weitverzweigten Apparat, der immense Mengen an Schreibarbeit
bewältigte, mit der völlig andersartigen Situation in Russland
verglichen, wo der Zar, der weder ein persönliches Sekretariat noch
einen Privatsekretär hatte, noch selbst die Umschläge abstempelte
und mit Bediensteten und Ministern mittels handschriftlicher
Notizen kommunizierte.10
Als Kriegsherr der Ära der nationalen Einigung
hatte Wilhelm I. einzigartiges, persönliches Ansehen genossen.
Solange das System jedoch so eigenständig vom Kanzler gelenkt
wurde, bot sich zwangsläufig kaum eine Gelegenheit, das politische
Potenzial der preußisch-kaiserlichen Krone auszuloten. Es wäre
falsch zu behaupten, dass Wilhelm I. eine bedeutungslose Figur
gewesen sei. Sein ostdeutscher Biograf Karl-Heinz Börner hat davor
gewarnt, den ersten Kaiser als eine »Schattenfigur im System des
deutschen Bonapartismus« zu betrachten.11 Er behauptete sich gelegentlich gegen Bismarck,
und er hielt sich stets über die Entwicklungen in allen Feldern der
Politik auf dem Laufenden.
Bis zum Ende seiner Herrschaft hielt Wilhelm I. daran fest, dass
ihm die letzte Entscheidung zustehe. Ein königliches Dekret von
1882 an das preußische Staatsministerium betonte, dass der König
das Recht habe, »die Regierung und die Politik Preußens nach
eigenem Ermessen zu leiten«. Handlungen der Regierung waren
letztlich Handlungen des (preußischen) Königs, »aus dessen
Entschließung sie hervorgehen und der seine Willensmeinung durch
sie verfassungsmäßig ausdrückt«.12
Dennoch liegt es auf der Hand, dass sich ein
Mann mit Bismarcks beispiellosem Geschick bei der Manipulierung des
schwer fassbaren kaiserlichen und preußischen Systems so gut wie
unverzichtbar für den Kaiser machen konnte. In der Regel haben auch
die Historiker, die sich mit der Beziehung zwischen den beiden
Männern befassten, die Fähigkeit Bismarcks herausgestrichen, den
Kaiser in den meisten wichtigen Fragen zur Zustimmung zu drängen,
zu erpressen oder zu überreden. Wilhelm I. fand sich häufig mit
politischen Schritten ab, die eigentlich seinem Instinkt
widersprachen. Er hatte den Krieg gegen Österreich nicht gewollt,
ihm missfiel die liberale Tendenz der deutschen Politik in dem
Jahrzehnt nach 1871, und er missbilligte Bismarcks politischen
Feldzug gegen die Katholiken. Wenn es zur direkten Konfrontation
kam, spielte Bismarck das volle Charisma seiner Persönlichkeit aus
und verlieh seinen Argumenten mit Tränen, Wutanfällen und
Rücktrittsdrohungen Nachdruck. Eben diese Szenen waren dem Kaiser
schier unerträglich und veranlassten ihn zu der berühmten
Beobachtung: »Es ist schwer, unter Bismarck Kaiser zu sein.«
Vermutlich war es keine falsche Bescheidenheit, wenn Wilhelm I. bei
anderer Gelegenheit bemerkte, dass er »wichtiger als ich«
sei.13
Das Kräfteverhältnis zwischen Kanzler und
Kaiser/König darf nicht isoliert von den anderen, institutionellen
Machtzentren betrachtet werden; es hing von einer Reihe äußerer
Faktoren ab, von denen die Haltung der Mehrheit im Reichstag wohl
der wichtigste war. Ein Kanzler mit einer starken parlamentarischen
Unterstützung konnte mit dem Monarchen aus einer entsprechend
starken Position heraus verhandeln. Ein feindlich gesinnter
Reichstag hingegen minderte die Wirkung des Kanzlers als
politischer Lenker und verstärkte seine Abhängigkeit vom Souverän,
wie Bismarck in den Jahren 1881-1886 feststellen musste. Es ist
kein Zufall, dass Bismarcks Absetzung unter Wilhelm II. genau zu
dem Zeitpunkt erfolgte, als Bismarcks »Kartell« bei den
Reichstagswahlen vom Februar 1890 die Mehrheit verloren
hatte.
Der Reichstag war nach dem Bundesrat und der
preußischdeutschen Krone die dritte Säule der Reichsverfassung.
Während der Bundesrat die weitreichende Autonomie der
Mitgliedsstaaten symbolisierte, repräsentierte der Reichstag die
männliche Wählerschaft des deutschen Nationalstaats. Da die
Vertreter im Bundesrat von Fürsten oder Königen berufen wurden,
repräsentierte der Rat das dynastische Prinzip; der Reichstag
hingegen, der alle drei Jahre (nach 1885 alle fünf Jahre) nach dem
allgemeinen, freien Männerwahlrecht neu gewählt wurde, zählte
damals zu den demokratischsten Legislativen auf dem europäischen
Kontinent. Die Zustimmung des Reichstags war für das Inkrafttreten
von Gesetzesvorlagen erforderlich, und er hatte das Recht, selbst
Gesetzesinitiativen einzubringen, auch wenn manche Lehrbücher das
Gegenteil behaupten. Über das Recht, den Reichshaushalt zu prüfen
und zu verabschieden, hatte er ein geeignetes Druckmittel für die
Verhandlungen mit der Exekutive in der Hand und konnte ihre
Ambitionen kritisch prüfen. Andererseits war die Macht des
Reichstags, die politischen Ergebnisse zu bestimmen, stark durch
die Tatsache eingeschränkt, dass der Kanzler für sein Amt nicht auf
die Unterstützung der Mehrheit angewiesen war. Das deutsche
Parlament hatte damals im Gegensatz zum britischen nicht die Macht,
Regierungen über ein Misstrauensvotum abzusetzen. Der Unterschied
wurde durch eine bezeichnende Abweichung beim Zeremoniell
symbolisch ausgedrückt: Während der britische Souverän zur
Eröffnung des neuen Parlaments ins Unterhaus kam (und noch heute
kommt), wurden die Abgeordneten zum deutschen Reichstag für
dieselbe Zeremonie in den Palast einberufen.
Der Reichstag enthielt eine vielschichtige
Palette von Parteien. Die Verabschiedung von Gesetzesvorlagen durch
das Parlament entwickelte sich zur wohl anspruchsvollsten und
mühsamsten Aufgabe für den Reichskanzler (die noch dadurch
erschwert wurde, dass er die Interessen des preußischen und des
deutschen Parlaments ausbalancieren musste). Und selbst wenn die
Macht des Reichstags, Einfluss auf die politische Agenda zu nehmen,
eingeschränkt war, sind sich die Historiker doch weitgehend einig,
dass die wilhelminische Ära eine »wachsende Legitimität der
parlamentarischen Politik« erlebte, wie David Blackbourn
ausführt.14 Ein wichtiger Faktor bei
dieser Entwicklung war die Bestimmung unter Artikel 22 der
Reichsverfassung, dass die öffentlichen Sitzungen des Reichstags
stets wahrheitsgemäß veröffentlicht werden mussten. Das gestattete
es einigen Rednern im Parlament, als landesweit bekannte
Persönlichkeiten hervorzutreten, und erlaubte es der politisch
interessierten Öffentlichkeit, an den großen, aktuellen Debatten –
zumindest als Zuschauer – teilzunehmen. Weitere Hinweise auf die
wachsende Autorität des Parlaments liefert die anschwellende Flut
von Angelegenheiten, die in den Ausschüssen des Reichstags erledigt
wurden, und die wachsende Bedeutung der Parteiführer und Experten
aus den Fraktionen für den Entscheidungsprozess.
Welche allgemeinen Schlussfolgerungen kann man
aus diesem knappen Überblick über das deutsche Reichssystem ziehen?
Es war, wie einige renommierte Analysten bemerkten, ein »System
umgangener Entscheidungen«, eine »unvollendete« Verfassung oder ein
»unvollendeter Föderalismus«. Wegen der lose und schlecht
koordinierten Beziehung zwischen den verschiedenen Machtzentren und
des evolutionären Charakters des Systems tun sich Historiker
schwer, die genaue Verteilung der Macht zu beschreiben. Während ein
Historiker etwa die These vertritt, die wilhelminische Ära habe die
allmähliche »Parlamentarisierung« der preußisch-deutschen
Verfassung erlebt, heben andere wiederum die »bonapartistische
Diktatur« oder den »autoritären«
Charakter des Regimes hervor.15 Es ist
zu betonen, dass es sich um ein System handelte, das ständig in
Bewegung war und immer wieder neu verhandelt wurde, das von
Unschlüssigkeit und Widersprüchlichkeit charakterisiert wurde sowie
von wechselnden Machtverteilungen unter den wichtigsten Ämtern und
Institutionen. Das hatte unweigerlich Folgen für die Rolle des
Kaisers/Königs. Wie würde sich sein Amt nach dem Abtritt des
Kanzlers entwickeln? Bismarck war es mit Mühe gelungen, dem
schwerfälligen Apparat der deutschen Verfassung seinen Willen
aufzuzwingen. Würde dem jungen Kaiser, der großspurig ankündigte,
er werde sein eigener Kanzler sein, dies ebenfalls gelingen?
Kaiser gegen Kanzler
Noch vor Wilhelms Thronbesteigung lag es für
scharfsinnige Beobachter, die beide Männer kannten, auf der Hand,
dass das Miteinander zwischen dem jungen Kaiser und dem 73-jährigen
Kanzler nicht einfach werden würde. Das sei eine Frage der
Persönlichkeit, bemerkte Graf Waldersee im Gespräch mit Holstein im
November 1887. Der betagte, herrschende Kaiser schere sich nicht um
sein Image, und es störe ihn nicht, wenn er in der öffentlichen
Meinung von Bismarck in den Schatten gestellt werde. »Prinz Wilhelm
als Kaiser aber wird dastehen wollen wie der Mann, welcher selber
regiert – darum glaube ich nicht, dass es lange geht mit ihm und
dem Kanzler.«16 Gewiss ließen schon die
Konflikte im Herbst 1887 nichts Gutes ahnen. Auf die Affäre um
Stoecker folgte ein nicht ganz so öffentlicher, aber schädlicher
Streit zwischen Wilhelm und Bismarck um eine Erklärung, die der
Prinz den Herrschern der Bundesstaaten nach der Thronbesteigung
zukommen lassen wollte. Bismarck nahm sowohl an dem Zeitpunkt
Anstoß als auch an dem Inhalt des Dokuments und konnte Wilhelm
überreden, es zu verbrennen.17 Und der
Winter 1887/88 brachte, wie gezeigt, weitere Auseinandersetzungen
über die Außenpolitik.
Trotz dieser unheilvollen Vorzeichen folgte auf
die Thronbesteigung am 15. Juni 1888 eine Phase ruhiger Kooperation
zwischen dem betagten Kanzler und dem neuen Monarchen. Es gelang
ihnen, sich in einer Reihe wichtiger Personalentscheidungen zu
einigen. Wilhelm und Bismarck waren gemeinsam bei parlamentarischen
Abendessen für regierungsfreundliche Fraktionen im Reichstag zu
sehen. Hofprediger Stoecker wurde in einem nüchternen Ultimatum des
Kaisers aufgefordert, sich zwischen politischer Aktivität und dem
geistlichen Amt zu entscheiden. (Bismarck hatte schon seit langem
erklärt, dass die Kombination des Hofpredigeramtes mit politischer
Agitation gefährlich und inakzeptabel sei.) Wilhelm brach sogar mit
der Tradition, indem er sich im offiziellen Regierungsorgan, dem
Reichsanzeiger, von der
Bismarck-feindlichen Agitation der ultrakonservativen Presse
distanzierte, die Schmähreden der Kreuzzeitung verurteilte und erklärte: »Seine
Majestät gestatten keiner Partei, sich das Ansehen zu geben, als
besäße sie das kaiserliche Ohr.«18 Das
Ganze war ein ermutigendes, öffentliches Signal für das Engagement
des Kaisers für das liberal-konservative »Kartell« im Reichstag,
das Bismarck bei den Wahlen von 1887 geschmiedet hatte. Das
Liebäugeln mit klerikalen und ultrakonservativen Elementen, das den
Kanzler während der Stoecker-Affäre so alarmiert hatte, gehörte der
Vergangenheit an. Bismarck war ein besserer Höfling, als er selbst
wagte zuzugeben, und schloss einen unerwarteten Waffenstillstand
mit seinem ehemaligen Gegner, dem gewieften Grafen Waldersee,
dessen Einfluss auf Wilhelm zu diesem Zeitpunkt den Höhepunkt
erreicht hatte. Als man Wilhelm nahe legte, er solle sein Augenmerk
darauf richten, eigene »kaiserliche Ideen« zu entwickeln,
protestierte der neue Monarch entschieden: »Es ist doch zu dumm,
wenn die Leute gar nicht begreifen wollen, dass die junge und die
alte Generation vortrefflich zusammenwirken können. Getrennte Ideen
des Kaisers und des Kanzlers existieren gar nicht.«19
Doch die Harmonie sollte nicht lange anhalten.
Es stellte sich schon bald heraus, dass die beiden Männer sehr
unterschiedliche
Ansichten auf Schlüsselfeldern der Innenpolitik hatten. Die wohl
wichtigste Frage betraf die Rolle des Staates bei der Regelung der
Arbeitsverhältnisse im deutschen Reich. Wilhelm saß kaum zehn
Monate auf dem Thron, als die deutsche Volkswirtschaft von einer
massiven Streikwelle erschüttert wurde. Die Streiks begannen Anfang
Mai 1889 im nördlichen Ruhrgebiet, dem Kernland des deutschen
Bergbaus und der Schwerindustrie, und breiteten sich über das ganze
Ruhrgebiet bis nach Aachen, ins Saarland, nach Sachsen und
Schlesien aus. Mitte Mai waren 86 Prozent der Industriearbeiter an
der Ruhr in Streik getreten. Es kam zu blutigen Zusammenstößen
zwischen Streikenden und Regierungstruppen. Im Anschluss daran
schwelten die Unruhen fast ein Jahr lang weiter, immer wieder kam
es zu Unterbrechungen der Produktion und Gewaltausbrüchen.
Die Haltung des Kanzlers in der Arbeiterfrage
1889/90 war das Endspiel seiner Karriere und versinnbildlicht die
Vielschichtigkeit seiner Vorgehensweise als Politiker. Auf
Sitzungen des Kabinetts und des Kronrats sowie in Privataudienzen
beim Kaiser vertrat Bismarck die Ansicht, dass ein staatliches
Eingreifen zugunsten der Arbeiter nur den Sozialdemokraten Auftrieb
geben und die Konkurrenzfähigkeit der preußischen Industrie auf
internationalen Märkten schwächen werde. Eine Regulierung der
Frauen- und Kinderarbeit, gesetzliche Verankerung der Sonntagsruhe
und Festlegung einer Obergrenze für die wöchentlichen
Arbeitsstunden werde zudem, so argumentierte der Kanzler ein wenig
hinterlistig, die Freiheit der Beschäftigten einschränken, so viel
und wann immer er oder sie es wünschten zu arbeiten.20 Bismarck liebäugelte allem Anschein nach
heimlich bereits mit einer ganzen Palette von Optionen. Er vertrat
schon seit langem die Auffassung, dass harte Repressionsmaßnahmen
das einzige Mittel seien, mit dem der Staat der Herausforderung
durch die sozialdemokratische Bewegung entgegentreten könne. Wenn
man zuließ, dass die Streiks und Unruhen anhielten, ohne dass der
Staat massiv eingriff, dann würde das den Widerstand des Reichstags
gegen die neuen und schärferen antisozialistischen
Gesetze schwächen, für die der Kanzler sich einsetzte (die alten
Sozialistengesetze sollten im September 1889 auslaufen). Falls
diese Taktik scheitern sollte, blieb noch die extreme Option eines
Staatsstreichs mit dem Risiko, einen Bürgerkrieg auszulösen. Unter
so schwierigen und unberechenbaren Rahmenbedingungen war absehbar,
dass Bismarck möglicherweise als die einzige Persönlichkeit
hervortreten würde, die imstande war, das Staatsschiff auf Kurs zu
halten, genau wie er es während der preußischen Verfassungskrise
1862 getan hatte.21
Im Gegensatz zu Bismarck, der die Habgier der
Arbeiter und die Sozialdemokratie für die aktuellen Unruhen
verantwortlich machte, war Wilhelm der Meinung, dass das Kapital,
nicht die Arbeiter die Hauptlast der Verantwortung trug und deshalb
auch die Kosten für die Wiederherstellung des sozialen Friedens auf
sich nehmen müsse. Wilhelm hatte nur rudimentäre,
volkswirtschaftliche Kenntnisse, aber er wusste, dass der
Auftragsboom, der von einem Konjunkturaufschwung seit 1887
eingeleitet worden war, die Gewinne der Bergwerkbesitzer und die
Erwartungen ihrer Arbeiter gesteigert hatte. Am 11. Mai, nur vier
Tage nachdem er erstmals über die Unruhen informiert worden war,
befahl er dem Oberpräsidenten von Westfalen, die Geschäftsführer
und Direktoren der Kohleunternehmen zu »zwingen«, die Löhne zu
erhöhen; man sollte ihnen mit dem Abzug sämtlicher
Regierungstruppen in der Region drohen, falls sie sich weigern
sollten. »Wenn dann die Villen der reichen Besitzer und Directoren
in Brand gesteckt, ihre Gärten zertreten würden, dann würden sie
schon klein werden«, erklärte er am 12. Mai auf einer
Kabinettsitzung, zu der er unangekündigt erschienen war, um seine
Ansichten darzulegen.22 Im November
hörte der preußische Landwirtschaftsminister Robert Lucius von
Ballhausen, wie Wilhelm sagte: »Da müsse noch ungeheuer viel
geschehen, er [der Kaiser] müsse verhindern können, dass das
Kapital die Arbeiter aussauge«, denn die meisten Industriellen
»beuteten sie [die Arbeiter] rücksichtslos aus und ruinierten
sie«.23
Wilhelm war der Meinung, letztlich sei es
Aufgabe des Souveräns, bei solchen Streitigkeiten zu vermitteln,
immerhin seien die deutschen Arbeiter »seine Untertanen« mit einem
rechtmäßigen Anspruch auf seine Fürsorge. Mitte Mai 1889 empfing er
Delegationen der Bergarbeiter und der Minenbesitzer und warnte
beide Seiten, allzu hohe Forderungen an die Gegenseite zu stellen.
Es war eine beispiellose Geste, die ihm überraschend Respekt von
breiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit einbrachte und dazu
beitrug, den Weg für eine Verhandlungslösung zu ebnen.24 Der Kaiser bestand während des ganzen Jahres
1889 darauf, die Regierung müsse dafür Sorge tragen, dass die Löhne
erhöht und die Rechte der Arbeiter (Sonntagsruhe, Beschränkung der
Wochenarbeitszeit und der Frauen- und Kinderarbeit) gesetzlich
geschützt wurden. »Er [der Kaiser] betrachte es als seine Pflicht«,
erklärte er nach der Rückkehr von einer Reise nach Konstantinopel
im November, »sich hier einzumischen und dafür zu sorgen, dass
keine Streiks und Bedrückung der Leute erfolge.«25
Historiker betrachteten Wilhelms Initiativen auf
diesem Feld bislang überwiegend skeptisch, sah man doch in seinem
Interesse an der sozialen Frage nur einen Deckmantel für andere
weniger hochfliegende Pläne, etwa für das Streben des Monarchen
nach Popularität oder seinen illusorischen Wunsch, nach dem Vorbild
Friedrichs des Großen ein »König der Bettler« zu sein. Es lohnt
sich, die betreffende Passage aus Lamar Cecils ausgezeichneter
Biografie – die für die gesamte Literatur repräsentativ ist –
ausführlich zu zitieren:
Humanitäre Instinkte, die seinem Charakter völlig
fehlten, bildeten keineswegs die Basis für seine Sorge um die armen
Arbeiter. Gerade in der Jugend wies Wilhelms Charakter eine gewisse
Kälte auf, die häufig von jenen beobachtet wurde, die ihn gut
kannten, und sie zeigte sich mit besonderer Brutalität in der
völligen Gefühllosigkeit, mit der er sich der Personen entledigte,
die einst seine Freunde oder Diener gewesen waren. Es ist kaum
denkbar, dass ein Mann, der bekanntermaßen so gefühllos gegenüber
Personen war, die ihm nahe gestanden hatten, ein deutlich größeres
Mitgefühl gegenüber seinen
Untertanen insgesamt empfand. Kaiserin Friedrich, deren wohltätige
Arbeit für die Unterdrückten aufrichtig war, zweifelte daran, dass
ihr Sohn sich jemals wirklich um die Armen und ihre Probleme
scherte.26
Mehrere Aspekte dieses Auszugs können nicht
kommentarlos stehen bleiben. Mit Blick auf die gestörte Beziehung
zwischen Mutter und Sohn ist selbstverständlich bei jeder
Darstellung der wahren Motive ihres Sohnes durch die Kaiserinwitwe
große Skepsis angebracht. Außerdem ist es überaus problematisch zu
implizieren, dass ein Eintreten für staatliche Interventionen im
sozialen Bereich auf einer persönlichen »Wärme« basieren muss,
damit es als aufrichtig gelten kann. Man muss hier unterscheiden
zwischen der mitfühlenden Philanthropie von Wilhelms Mutter – in
der sich die viktorianischen, liberalen Empfindlichkeiten um die
Mitte des 19. Jahrhunderts spiegelten – und dem völlig
andersartigen, staatlichen Paternalismus der protektionistischen
Ära, der Wilhelms Weltanschauung prägte. Im letzten Jahrzehnt der
Amtszeit Bismarcks als Kanzler war im deutschen Reich unter seiner
Aufsicht das wohl fortschrittlichste System der sozialen Sicherung
in ganz Europa eingeführt worden; und bei der Thronbesteigung hatte
Wilhelm in seiner Antrittsrede vor dem Reichstag versprochen, das
Programm der sozialen Gesetzgebung zu übernehmen, das Bismarck und
sein Großvater 1881 eingeführt hatten.27
Wilhelm war somit ironischerweise Bismarcks
(allzu) begeisterter Schüler, wenn er sich mit dem Kanzler um die
Grenzen der staatlichen Vorsorge in der Sphäre der
Arbeitsverhältnisse stritt. Georg Hinzpeter hatte als sein
Hauslehrer konsequent die soziale Verantwortung des Monarchen
betont (im Jahr 1889 wurde Hinzpeter zu einem der wichtigsten
Berater des Kaisers in der Arbeiterfrage). Darüber hinaus wurde
Wilhelm von Hans Hermann von Berlepsch beeinflusst, dem preußischen
Handelsminister von 1890 bis 1896, dessen Ansichten zur
Arbeitspolitik das reform-konservative Konzept einer gewissermaßen
»sozialen Monarchie« verkörperten, die etwa durch die aktive
Vermittlung
des Souveräns in sozialen Fragen charakterisiert wurde.28 Wilhelms Initiativen auf diesem Feld hatten
folglich ihren Ursprung in seiner eigenen Biografie und in der
politischen Ökonomie des deutschen Kaiserreichs am Ende des 19.
Jahrhunderts. Jedenfalls darf man den Streit nicht dahingehend
interpretieren, dass er allein durch die persönliche Initiative des
Monarchen ausgelöst worden wäre. Die beispiellose Streikwelle von
1889/90 hatte die preußischen Behörden geschockt und verwirrt. Die
Auseinandersetzungen um die Frage, wie man mit den Arbeiterunruhen
umgehen solle, beschränkten sich keineswegs auf die politische
Exekutive; sie zogen sich, wie Otto Pflanze zeigt, quer durch den
gesamten Verwaltungsapparat. In der Provinz ebenso wie in Berlin
fiel es den Beamten schwer, sich auf die Ursachen des Problems oder
die geeigneten Maßnahmen zu einigen.29
Zudem war es kein rein deutsches Problem. Ganz ähnliche
Meinungsverschiedenheiten waren bei der Reaktion der russischen
Verwaltung auf Arbeiterunruhen in den neunziger Jahren zu
beobachten. Auch hier verlief die Trennlinie zwischen den einen,
die wie Innenminister Sergej Subatow die Monarchie und den Staat
drängten, durch die Verteidigung der Arbeiterrechte die Loyalität
des Proletariats zu gewinnen, und denjenigen, die den
kapitalistischen Sektor schützen wollten.30
Wilhelm widersetzte sich in der Arbeiterfrage
auch deshalb Bismarck, weil er die Gefahren, welche die Politik des
äußersten Risikos barg, die der Kanzler betrieb, erkannte und
fürchtete. Bismarck war bereit, wenn er es für notwendig hielt,
eine so große Ausweitung der Streiks in Kauf zu nehmen, bis
Deutschland an den Rand eines Bürgerkriegs gedrängt würde. Eine
Alternative sah er darin, ein inakzeptabel strenges
Sozialistengesetz in den Reichstag einzubringen und sich
anschließend, nach mehrfachen Auflösungen des Parlaments, an die
Spitze eines Verfassungsbruchs (oder Staatsstreichs) nach dem
Muster von 1862 zu stellen. Falls es so weit gekommen wäre, hätte
kaum ein Zweifel daran bestanden, dass sich der erfahrene
Staatsmann als der dominante Partner in der Beziehung zwischen
Kanzler und
Kaiser entpuppt hätte. Wilhelm schreckte vor einer so gewagten
Strategie zurück – wer wollte ihm dies verdenken? Bereits am 19.
Mai 1889 vertraute er seinem Freund Philipp Eulenburg, dem
preußischen Gesandten in Braunschweig, an, dass er »furchtbare
Schwierigkeiten« mit Bismarck wegen der Angelegenheit einer
»Verfassungsänderung« habe. Bei einem späteren Treffen mit
Eulenburg am 13. Januar 1890 berichtete er, dass Bismarcks
Unnachgiebigkeit in der Frage des Sozialistengesetzes einen
politischen Konflikt von solchen Ausmaßen herbeizuführen drohe,
dass einzig und allein ein Staatsstreich helfen könne:
Er, der Kaiser, sei in einer ganz entsetzlichen
Lage, denn seine Regierung mit einer Art von Revolution, Schießen
und sonstigen Gewaltmaßregeln zu beginnen hielte er für bedenklich.
[…] Ich habe […] den Wunsch, dem Volke, und besonders den Arbeitern
meinen guten Willen zu zeigen und ihnen zu helfen, nicht aber die
Absicht, auf sie zu schießen!31
Der Streit zwischen Kaiser und Kanzler war
zugleich eine Auseinandersetzung um Regierungsmethoden sowie um die
Machtverteilung innerhalb der Reichsexekutive. Bismarck war nicht
nur über Wilhelms politische Maßnahmen entsetzt, sondern auch über
die Art und Weise, wie der neue Kaiser angefangen hatte, sich in
die Regierungsgeschäfte einzumischen. Am 6. und 7. Mai 1889, als
dem Kaiser die ersten Meldungen von den Unruhen im Ruhrgebiet zu
Ohren kamen, forderte er nachdrücklich Berichte von den Beamten vor
Ort an, die direkt an ihn geschickt werden sollten. Seine
Anweisungen an den Oberpräsidenten von Westfalen vom 11. Mai wurden
ohne Bismarcks Wissen abgeschickt. Für derartige Initiativen hatte
es in der praktischen Reichspolitik unter Wilhelm I. keinen
Präzedenzfall gegeben, und Bismarck beantwortete sie recht brüsk.
Er schickte eine eisige Nachricht an Oberpräsident Robert Eduard
von Hagemeister von Westfalen und warnte ihn, dass die Regierung
nicht die Verantwortung für Maßnahmen übernehmen könne, die von
Verwaltungsbeamten ohne die Einwilligung der ihnen vorgesetzten
Minister getroffen
worden seien. Im Juni 1889 traf Bismarck über den Innenminister
Ernst Herrfurth (einen von Wilhelm berufenen Minister)
Vorkehrungen, um eine weitere unabhängige Initiative des Monarchen
zu verhindern. Er riet Herrfurth, keine Berichte direkt an den
Kaiser zu schicken, damit Seine Majestät sich nicht genötigt fühle,
Entscheidungen ohne die zuständigen Berater und ohne fachkundigen
Ratschlag zu treffen.32
Die Einmischung des Kaisers in den
administrativen Ablauf während der Arbeiterunruhen kam einer
direkten Herausforderung der Autorität Bismarcks als preußischer
Ministerpräsident gleich. Innerhalb Preußens, dessen Verwaltung
sich mit den Streiks und zugehörigen Unruhen konfrontiert sah,
wurde das Recht des Ministerpräsidenten, die Politik zu
koordinieren, durch eine Kabinettsorder definiert, die König
Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1852 erlassen hatte und seither nicht
aufgehoben worden war. Der Erlass sollte Ordnung und
Einheitlichkeit in die Regierungsgeschäfte bringen; in diesem Sinne
wurde bestimmt: »Über alle Verhaltensmaßregeln von Wichtigkeit […]
hat sich der betreffende Departementschef vorher, mündlich oder
schriftlich, mit dem Ministerpräsidenten zu verständigen.«
Sämtliche Berichte, die von Verwaltungsdirektoren an den Monarchen
geschickt wurden, mussten zuerst dem Ministerpräsidenten zur
Kommentierung vorgelegt werden, dem auch das Recht vorbehalten war,
bei allen Treffen zwischen entsprechenden Beamten und dem Monarchen
anwesend zu sein.33 Ob die
Kommunikation des Kaisers mit untergeordneten Beamten im Jahr 1889
tatsächlich ein Verfassungsbruch war, wie Bismarck später behaupten
sollte, ist äußerst zweifelhaft; allerdings stellten sie mit
Sicherheit einen Bruch mit der bisherigen, preußischen Praxis dar.
Abgesehen davon wurde Bismarcks Zugriff auf die
Macht auch von dem Kreis inoffizieller Berater in Frage gestellt,
der sich nunmehr um die Person des Kaisers herausbildete. Unter
ihnen waren der ehemalige Hauslehrer Georg Hinzpeter, der
Industrielle Graf Hugo Douglas, der Hofmaler und ehemalige
Bergbaubeamte August von Heyden, der enge Freund des Kaisers
Philipp Fürst von Eulenburg und Hertefeld und der Ehrfurcht
gebietende Friedrich von Holstein, ein Ressortleiter im Auswärtigen
Amt, der privilegierten Zugang zu den internen Überlegungen der
Bismarck-Fraktion hatte. Sie hielten den Monarchen über
Entwicklungen auf dem Laufenden, bestärkten ihn in seiner
Entschlossenheit, informierten ihn über neue Vorschläge zur Politik
und koordinierten die politische Unterstützung für seine
Initiativen in der Arbeiterfrage. Zum großen Teil war es diesen und
anderen Anhängern zu verdanken, dass Wilhelm bei Kabinettsdebatten
neben dem gefürchteten Kanzler bestehen konnte, sich kundig zu den
aktuellen Ereignissen äußerte und die politischen Optionen mit
beeindruckender Gewandtheit und Selbstsicherheit auslotete.
Bismarck ließ in seinen Memoiren kein gutes Haar
an diesen Personen und bezeichnete zum Beispiel von Heyden als
einen Mann, der unter Künstlern vielleicht als Bergbauexperte
durchgehen werde und umgekehrt unter Bergbaubeamten als Künstler.
Nach seinem Abschied aus dem Amt schürte Bismarck unablässig
Pressegerüchte über die mysteriösen »Hintermänner«, die einen so
unverhältnismäßig starken Einfluss auf die höchste Regierungsgewalt
ausübten. In Wirklichkeit war der Einfluss »unverantwortlicher«
Personen, die dem Monarchen nahe standen, jedoch institutionell in
der preußischen Machtstruktur durch die Funktion der zivilen und
militärischen Kabinette verankert. Jedenfalls war der Umstand, dass
Außenstehende das Ohr des Königs hatten, schon seit langem ein
charakteristisches Merkmal des Hoflebens in Preußen. In seinen
Memoiren verglich Bismarck die neuen Berater des Kaisers mit der
»Coterie von ehrgeizigen Strebern«, die zur Zeit der
Thronbesteigung Wilhelms I. entstanden war und »bei demselben [dem
Monarchen] das Missverhältnis zwischen edlen Intentionen und
mangelhafter Kenntnis des praktischen Lebens ausgebeutet
hatte«.34 Tatsächlich ist häufig zu
beobachten, dass höfische Systeme generell zur Herausbildung
solcher Beratercliquen neigen, die eine Alternative zu offiziellen
Kanälen präsentieren und damit dazu beitragen,
dass der Monarch seine Autonomie erfolgreich wahrt.35 In solchen Situationen gibt nicht der
offizielle Rang oder Zuständigkeitsbereich den Ausschlag, sondern
die Nähe zum Monarchen. Wie der politische Theoretiker Carl Schmitt
ausführte, ist der daraus resultierende Wettstreit um Einfluss und
Gunst ein zentrales Problem des Verfassungsrechts, denn wer immer
den Machthaber instruiert oder informiert, hat bereits an der Macht
teil, unabhängig davon ob er der zuständige, zeichnungsberechtigte
Minister ist.36 Wenn die Entstehung
eines außerkonstitutionellen Beraterkreises um Wilhelm II. so viel
Aufmerksamkeit unter den Zeitgenossen erregte, so lag das nicht
zuletzt an dem außergewöhnlich starken Einfluss, den Bismarck
bislang in der Exekutive ausgeübt hatte. Während der beiden
vorhergehenden Herrschaften hatte er über sein de facto
Machtmonopol in der zivilen Sphäre das »Vorzimmer der Macht« um die
Person des Monarchen weitgehend unterdrückt.
Im Januar 1890 sah sich Wilhelm wegen der
Eskalation des Streits mit Bismarck gezwungen, die Optionen, die
ihm nach der deutschen Reichsverfassung offenstanden, genauer
auszuloten. In Anbetracht der dominierenden Stellung Bismarcks
innerhalb der Exekutive war es schwierig, wenn nicht gar unmöglich,
eine Gesetzesvorlage ohne seine Kooperation einzubringen. Die
preußische Regierung konnte gegen den Willen des
Ministerpräsidenten und Handelsministers (beide Ämter hatte
Bismarck inne) kein Gesetz zum Arbeiterschutz in den preußischen
Landtag einbringen. Ebenso wenig konnte die preußische Delegation
im Bundesrat gegen den Willen des preußischen Außenministers, der
das Stimmverhalten dieser Delegation festlegte (wiederum Bismarck),
ein solches Gesetz diesem Organ vorlegen. Ein Weg blieb jedoch bei
der komplizierten preußisch-deutschen Verfassung: Wenn ein anderer
Bundesfürst überredet werden konnte, einen Vorschlag nach den vom
Kaiser vorgegebenen Linien in den Bundesrat einzubringen, dann
konnte Bismarck nicht verhindern, dass der Vorschlag von den
versammelten Vertretern auch diskutiert wurde.
Die Umstände der Thronbesteigung Wilhelms II.
boten günstige Vorzeichen für eine solche Zusammenarbeit unter
Monarchen. Fünf Tage vor der Antrittsrede hatte Wilhelms Onkel,
Großherzog Friedrich von Baden, in einem Rundschreiben an die
übrigen Staatsoberhäupter vorgeschlagen, dass sich die Monarchen
persönlich um Wilhelm gruppierten, wenn er den Reichstag eröffnete,
um zu bestätigen, dass »der Kaiser auch in ihrem Namen spricht,
wenn er Friede verheißt und die Wohlfahrt des Reiches zu fördern
gelobt«.37 Mehrere Monarchen waren
jedenfalls geneigt, Wilhelms Ansichten zur Arbeiterfrage zu
unterstützen, entweder weil staatliche Interventionen im Einklang
mit ihren eigenen Ansichten in der Sozialpolitik standen oder (wie
im Falle Sachsens) weil sie den Wettbewerbsnachteil der
Arbeitsgesetze ausgleichen wollten, die in ihren eigenen
Territorien bereits galten. Großherzog Friedrich betrachtete
seinerseits offenbar die fürstliche Zusammenarbeit im Bundesrat als
ein Mittel für die Wiederbelebung der verfassungsmäßigen Rolle der
deutschen Staatsoberhäupter sowie für die Garantie einer
»wirksameren Teilnahme der durch die Reichsverfassung berechtigten
Staaten an den Entscheidungen der großen politischen Fragen
bezüglich der Weltstellung des Reiches und dessen
Machtentfaltung«38 – ein Anspruch, der
letztlich nicht erfüllt werden sollte. Bis zum 15. Januar hatte
sich – weitgehend auf Wilhelms Anregung hin, wenn man einem Bericht
des österreichisch-ungarischen Botschafters Glauben schenken
kann39 – um den Großherzog Friedrich
von Baden, König Albrecht von Sachsen und Großherzog Carl Alexander
von Weimar eine Gruppe von Staatsoberhäuptern gebildet. Sie kamen
überein, dass die sächsische Delegation einen Antrag in den
Bundesrat einbringen sollte. Bismarck gelang es in letzter Minute,
diesen Schachzug mit Hilfe von Rücktrittsdrohungen zu verhindern,
die er den fürstlichen Gesandten in Berlin persönlich
überbrachte.40 Doch die Initiative
verdeutlicht ansatzweise die Vielfalt und das Potenzial der
konstitutionellen Instrumente, die einem Kaiser gemäß der deutschen
Hybrid-Verfassung zur Verfügung standen,
der entschlossen war, seinen politischen Einfluss
auszudehnen.
Die gegenseitige Blockade hielt den ganzen
Januar und Februar 1890 hindurch an. Eine von Wilhelm auf den 24.
Januar einberufene Kronratsitzung wurde zum Schauplatz eines
offenen Schlagabtausches zwischen dem Kaiser und seinem ersten
Minister. Wilhelm hielt eine emotionsgeladene Rede und sprach von
skrupellosen Kapitalisten, die ihre Arbeiter wie »Zitronen«
ausgequetscht und auf dem »Kothaufen« liegen gelassen hätten.
Anschließend zählte er seine Reformvorschläge auf, lehnte die Idee
eines verschärften Sozialistengesetzes ab und verknüpfte seine
eigenen Initiativen mit den sozialen Errungenschaften seiner
Vorfahren. Bismarck gab keinen Fußbreit Boden preis, und die
Minister, die von der drohenden Krise gelähmt waren, fügten sich
entweder (bis auf wenige Ausnahmen) dem Kanzler oder blieben ganz
bewusst neutral. Nach der Sitzung sagte Wilhelm dem Vernehmen nach
zum Großherzog von Baden: »Die Minister sind ja nicht meine
Minister, sie sind die Minister des Fürsten Bismarck.«41
Doch dem Kanzler gingen allmählich die Optionen
aus. Am 25. Januar verwarf der Reichstag das Sozialistengesetz.
Damit wurde die Handlungsfähigkeit des Bismarckschen »Kartells« in
Frage gestellt. Am 4. Februar gab Wilhelm zwei öffentliche
Erklärungen ab. Eine an den Kanzler gerichtete forderte diesen auf,
eine europaweite Konferenz zur Arbeiterfrage in Berlin zu
organisieren. Und die zweite an den preußischen Handelsminister
(ebenfalls Bismarck) gab Anweisung, neue Gesetze zu
Sozialversicherung, Arbeitsbedingungen und Arbeitervertretung
auszuarbeiten. Bismarck redigierte die Erklärungen, um ihre
öffentliche Wirkung abzuschwächen, und zeichnete sie nicht gegen,
aber er konnte nicht verhindern, dass sie die öffentliche Meinung
für die Seite des Kaisers einnahmen. In den folgenden Wochen
versuchte er mit einer erstaunlich vielfältigen Palette von
Maßnahmen, Wilhelm die Hände zu binden: Er stachelte die Schweizer
an, auf einer parallelen Arbeiterkonferenz in
Bern zu beharren, die das Projekt des Kaisers in Berlin in den
Hintergrund drängen würde, wollte die Sachsen von dem Plan
abbringen, dem Bundesrat einen Gesetzesentwurf vorzulegen, erklärte
wiederholt die Absicht, von mehreren Ämtern zurückzutreten,
verlegte sich bei Ministertreffen auf eine Blockadetaktik und
erneuerte seine Kampagne für strengere Sozialistengesetze, selbst
auf Kosten mehrfacher Auflösungen des Reichstags. Das waren die
grotesken, letzten Winkelzüge eines brillanten, siebzigjährigen
»Machtmenschen«, dessen Machthunger, wie Bismarck selbst zugegeben
hatte, alles andere in ihm verbrannt hatte.
Bismarck verfügte noch über einen letzten,
wichtigen Trumpf, nämlich seine Fähigkeit, einen Reichstag zu
lenken, in dem sein Kartell immer noch eine, wenn auch knappe,
Mehrheit hatte. Da die gesetzgeberischen Pläne Wilhelms auch eine
deutliche Steigerung der Militärausgaben vorsahen, zögerte der
Kaiser immer noch, sich von dem Kanzler zu trennen, solange er
meinte, dass er dessen Unterstützung für die Verabschiedung der
umstrittenen Vorschläge durch das Parlament benötige. Über seine
parlamentarische Basis hatte Bismarck das Druckmittel, das er
brauchte, um den Kaiser zur Unterstützung des Sozialistengesetzes
zu bewegen, das ihm wiederum eine späte Genugtuung bescheren würde.
Doch auch dieser Vorteil ging verloren, als das Ergebnis der
Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 bekannt wurde. Das Kartell,
das Bismarck 1887 mitgeschmiedet hatte, war nunmehr zerschlagen;
der Reichstag wurde von Sozialdemokraten, Linksliberalen und
Katholiken dominiert – mit anderen Worten, von den Parteien der
Opposition oder den »Reichsfeinden«, wie Bismarck sie so häufig
gebrandmarkt hatte.
Das Ende wurde durch zwei Episoden beschleunigt,
welche die Vorrechte des kaiserlichen Amtes und die Vollmacht des
Kaisers berührten, die Formulierung der Politik zu beeinflussen
(oder zu steuern). Im März 1890 trat Bismarck unvermutet an Ludwig
Windthorst, den parlamentarischen Führer der katholischen
Zentrumspartei, heran. Die beiden Männer erörterten die
Bedingungen, unter denen das Zentrum künftig bereit wäre,
ihre Stimmen im Reichstag der Regierung zur Verfügung zu stellen.
Unter anderem forderte Windthorst die Aufhebung mehrerer
antikatholischer Gesetze wie die Vertreibung des Jesuiten-Ordens,
die noch aus der Zeit des »Kulturkampfs« Bismarcks gegen die
Katholiken in den siebziger Jahren stammten.
Ein Schritt auf die Katholiken zu war bei der
Sitzverteilung im Reichstag durchaus vernünftig; mit 106 Sitzen
verfügte das Zentrum über das größte Einzelkontingent an Sitzen.
Bismarck hatte mit Blick auf das bevorstehende Militärgesetz
möglicherweise die Absicht, dem Kaiser zu demonstrieren, dass er
ihm als politischer Lenker im Reichstag immer noch gute Dienste
leisten konnte. Doch im historischen Kontext vom März 1890 war das
Treffen mit Windthorst äußerst unklug. Der Kaiser lehnte vehement
sämtliche Zugeständnisse an das katholische Lager ab – der Rückruf
des aus dem Land vertriebenen Ordens der Redemptoristen war ihm
bereits im September 1889 vorgelegt und kategorisch zurückgewiesen
worden.42 Er wurde von Personen in
seinem Umfeld aufgestachelt, gegenüber den Katholiken hart zu
bleiben. Während des ganzen Herbstes und Winters 1889 ermahnten
Eulenburg, der Großherzog von Baden, Holstein und andere Wilhelm,
sich vor allen Schritten Bismarcks zur Versöhnung der Katholiken zu
hüten. Insbesondere Philipp Eulenburg warnte mehrmals, dass
Zugeständnisse an die partikularistischen und ultramontanen Kräfte
im deutschen Katholizismus die Integrität des Reiches gefährden
würden.43 Die weite Verbreitung solcher
Ängste erinnert auf frappierende Weise daran, wie zerbrechlich das
Nationalbewusstsein in Deutschland fast zwei Jahrzehnte nach der
Reichsgründung immer noch war. Das Treffen mit Windthorst hatte
darüber hinaus eine katastrophale Wirkung auf den Rest der
mehrheitlich protestantischen und antiklerikalen Regierungsfraktion
im Reichstag. Proteste kamen von den Nationalliberalen und sogar
von den gemäßigten »Freikonservativen«, die zuvor eingefleischte
Bismarck-Anhänger gewesen waren. Bismarck war jetzt stärker
isoliert als zu irgendeinem Zeitpunkt seit 1866.
Da Wilhelm die Gunst der Stunde erkannte, suchte
er geradezu die entscheidende Konfrontation. In einer zermürbenden
Audienz am 15. März 1890 – morgens um 9.30 Uhr! – tadelte der
Kaiser Bismarck, der noch nicht einmal gefrühstückt hatte, wegen
des Treffens mit Windthorst. Er erklärte, der Kanzler habe nicht
das Recht, ohne seine Erlaubnis mit Parteiführern zu verhandeln.
Nur zwei Wochen zuvor, am 2. März, hatte Bismarck umgekehrt
behauptet, Minister und andere Regierungsbeamte hätten kein Recht
ohne ausdrückliche Erlaubnis des Kanzlers mit dem Kaiser zu
kommunizieren, und hatte auf seine Vollmacht nach der bereits
erwähnten Kabinettsorder von 1852 verwiesen. Doch der Kaiser
verlangte nunmehr, dass ihm die Order nochmals vorgelegt werde,
damit er sie aufheben konnte. Wenn man Wilhelms eigener Schilderung
von dem Treffen Glauben schenken kann, so geriet Bismarck an diesem
Punkt so sehr in Rage, dass der Kaiser instinktiv nach seinem Degen
griff. Daraufhin wurde der alte Mann »weich und weinte«, während
Wilhelm ihn – unbewegt durch die Krokodilstränen des Kanzlers –
ansah.44 Drei Tage danach reichte
Bismarck sein Rücktrittsgesuch ein.
Als Wilhelm II. im Jahr 1888 den Thron bestieg,
glich das Amt des Kaisers einem Haus, in dem die meisten Zimmer
noch nie bewohnt gewesen waren. Bis zum März 1890 hatte sich so
manches geändert, und dieser Trend sollte sich in den folgenden
Jahrzehnten fortsetzen. Der Thron war nicht länger wie unter
Wilhelm I. nur der Sitz der Autorität, auf die die Regierungsgewalt
sich stützte, sondern eine eigenständige politische Kraft. In den
komplexen und schwierigen Verhandlungen um die Arbeiterfrage hatte
sich der Thron erstmals als einer der Brennpunkte des
Entscheidungsprozesses erwiesen. Bei jedem Schritt fand der Kaiser
bereitwillige Verbündete, die ihm bei seiner Aufgabe zur Seite
standen, und zwar nicht nur aus dem Umfeld eifriger Freunde und
Berater, sondern aus einer breiteren Anhängerschaft innerhalb der
Regierung, die von Bismarcks Herrschaft
die Nase voll hatten und den wagemutigen Initiativen des neuen
Monarchen Beifall spendeten. Mit dieser Unterstützung hatte Wilhelm
ein Gesetzesprogramm entwickelt und durchgehalten, das in der
deutschen Öffentlichkeit breite Unterstützung genoss. Die
Arbeitergesetze, die im Zuge dieser Initiativen in den Jahren
1890-1892 in Kraft traten, schafften die Klagen der Arbeiter gewiss
nicht völlig aus der Welt. Aber sie brachten einige Fortschritte
auf den Gebieten der Sicherheit des Arbeitsplatzes, der
Arbeitsbedingungen, des Jugendschutzes und der Schlichtung. Darüber
hinaus blieb der Grundsatz, für den sie standen, nämlich dass »die
Unternehmergewalt die Grenzen der durch den Staat vertretenen
Interessen eben aller Gruppen zu achten hatte«, in den folgenden
Jahrzehnten ein dominierendes Thema in der Sozialpolitik in Preußen
und im Reich.45 Das Wichtigste war
allerdings: Wilhelm hatte sich gegen einen politischen Koloss
durchgesetzt und damit viele Haupthindernisse für die Machtausübung
des Kaisers beseitigt. Auch als Mensch hatte Wilhelm viele
zeitgenössische Beobachter mit seiner raschen Auffassungsgabe,
seiner Selbstsicherheit und Beherrschtheit in der Diskussion
beeindruckt. »Der Kaiser hat ausgezeichnet [der Staatsratssitzung
betreffs der Arbeiterfrage] präsidiert«, bemerkte Friedrich von
Holstein, »so dass alle Welt sich fragt, wo hat er das
gelernt?«46
So weit so gut. Aber eine Reihe von Fragen blieb
offen. Die Auseinandersetzung mit Bismarck hatte dem jungen
Monarchen und seinen Helfershelfern, die sich auf die aktuellen
Aufgaben konzentrierten, ein hohes Maß an Disziplin und
Zielstrebigkeit abverlangt. Es war jedoch bereits klar, dass es den
Kräften, die sich hinter dem Kaiser versammelt hatten, sowohl am
nötigen Zusammenhalt als auch an administrativer Erfahrung und
politischer Vision mangelte, um ihn langfristig zu stützen. Die
Kabinettsorder von 1852 hatte den Zweck gehabt, eine einheitliche
Linie und Disziplin in Regierungsangelegenheiten zu gewährleisten,
indem dem Kanzler die Aufsichtsfunktion zugewiesen wurde. Falls
diese Funktion nun langfristig abgeschafft werden
sollte, wie Wilhelm allem Anschein nach in seiner letzten
Auseinandersetzung mit Bismarck forderte, wer oder was würde dann
an ihre Stelle treten? Schließlich könnte man hinzufügen, dass die
Auseinandersetzungen von 1889/90 neben den positiven
Errungenschaften auch einige unrühmliche Charaktereigenschaften des
Kaisers hervortreten ließen: eine Tendenz, nicht den richtigen Ton
zu treffen und über das Ziel hinauszuschießen, ein ungeduldiger
Drang, alles auf einmal zu erledigen, eine Impulsivität, die ihm in
den süddeutschen Bundesstaaten schon im Januar 1890 den Beinamen
»Wilhelm der Plötzliche« eingetragen hatte. Und Zeitgenossen, die
sich häufig in seinem Umfeld aufhielten, beobachteten eine gewisse
persönliche Labilität an ihm. »Die Gesundheit des Kaisers ist
vortrefflich«, vertraute Philipp von Eulenburg im Sommer 1889
Holstein an, »seine Unruhe unermesslich. Sein schwankendes Aussehen
lässt leider auf eine gewisse nervöse Disposition
schließen.«47
Banquos Geist: Bismarck im »Ruhestand«
Nach seinem erzwungenen Abschied im März 1890
traf man Bismarck nur selten in Berlin an, aber im Bewusstsein der
deutschen Öffentlichkeit blieb er noch lange präsent. In erster
Linie betrachteten viele den Abgang des alten Kanzlers als Vorboten
eines heilsamen Wandels, als »Ende der inneren
Erstarrung«.48 Aber nur wenig später
erlebte das Land einen dramatischen Stimmungsumschwung zugunsten
des entlassenen Kanzlers. »Pilgerfahrten« zu seinem Landsitz bei
Friedrichsruh kamen in Mode und es erreichte den alten Bismarck
eine erstaunliche Menge an wohlwollenden Briefen. Am 1. April 1895
(seinem 80. Geburtstag) bekam er sage und schreibe 450 000 Briefe
und Telegramme von Anhängern im ganzen deutschen Reich und darüber
hinaus.49 Diese außerordentlich starke
Resonanz spiegelte die tiefe Zuneigung wider, die viele Deutsche
für den Exkanzler und Reichsgründer empfanden, aber sie hatte,
wie Werner Pöls gezeigt hat, auch einen eindeutig politischen
Nachklang.50
Bis Mitte der neunziger Jahre etablierte
Bismarck sich als der wohl lautstärkste und kompetenteste Kritiker
der Regierung. Die Verbindungen und das Fachwissen, die er beim
Aufbau seiner berüchtigten »geheimen Presseorganisation« erworben
hatte, wurden sinnvoll genutzt. Von Friedrichsruh aus beeinflusste
und zum Teil auch finanziell unterstützte Zeitungen setzten dem
neuen Kaiser und seinen wichtigsten Beamten mit einem Hagel
beißender, kritischer Kommentare arg zu. Bismarcks Alterssitz wurde
zum Brennpunkt einer losen Koalition von Abtrünnigen. Zu diesen
zählten eingefleischte Bismarck-Anhänger, aber auch weitere
Personen mit den unterschiedlichsten politischen Zielrichtungen,
etwa der verärgerte, ultrakonservative Graf von Waldersee und der
linksliberale Journalist Maximilian Harden, der später
Schlüsselfiguren in Wilhelms Entourage erheblich schaden
sollte.51 Bismarcks Agitation hatte den
durchaus intendierten Effekt, dass der politische Dissens
legitimiert wurde, den er selbst als Kanzler nie geduldet hatte.
»Wir brauchen ein Gegengewicht«, erklärte er scheinheilig in einer
Rede vom Sommer 1892, »und die freie Kritik halte ich für die
monarchische Regierung für unentbehrlich.« Wie Philipp Eulenburg im
Sommer 1895 beobachtete, war diese Pose Teil eines Plans, um
Bismarck als »die Personifizierung des modernen Deutschland
gegenüber Kaiser Wilhelm« auszugeben. »Er beschädigt ganz bewusst
die Stellung des Kaisers, welche er selbst begründet
hat.«52
Wilhelm und seine offiziellen wie auch
inoffiziellen Berater waren über den »Donner aus Friedrichsruh«
zutiefst beunruhigt. Sie hegten (weit hergeholte) Befürchtungen,
dass Bismarck an der Spitze einer plebiszitären Bewegung nach
Berlin »zurückkehren« würde. Da der Konflikt immer stärker als eine
persönliche Auseinandersetzung zwischen dem Exkanzler und dem
jungen Kaiser wahrgenommen wurde, hatte es den Anschein, als würde
es Bismarck gelingen, die deutsche Öffentlichkeit gegen den
Monarchen aufzubringen, insbesondere in den südlichen
Fürstentümern,
wo man der Meinung war, dass der Kanzler bei der nationalen
Identitätsstiftung seit 1871 eine entscheidende Rolle gespielt
hatte.53 In hohen Regierungskreisen war
man gemeinhin – und nicht ohne Grund – der Auffassung, dass
Bismarck zu denjenigen zählte, die in Deutschland und im Ausland
Gerüchte streuten, der Kaiser sei psychisch instabil.
Möglicherweise hielt sich Bismarck gar für befugt, den Inhalt
geheimer Staatsdokumente nach außen sickern zu lassen, was er im
Oktober 1896 auch tatsächlich tat, als er den Text des
abgelaufenen, aber hochsensiblen Rückversicherungsvertrags mit
Russland in den Hamburger Nachrichten
veröffentlichte.54 Die Regierung
reagierte auf diese Provokationen, indem sie über halboffizielle
Organe die Behauptungen der Bismarckschen Presse dementierte; das
Auswärtige Amt war so besorgt, dass es sogar versuchte, eine
Zeitung aufzukaufen, an der ein Konsortium von Bismarck-Anhängern
Interesse angemeldet hatte.
Welchen Effekt die Bismarck-Kampagne auf Wilhelm
persönlich hatte, kann man sich ohne weiteres ausmalen. Einige der
schädlichsten öffentlichen Äußerungen des jungen Kaisers Anfang der
neunziger Jahre sind darauf zurückzuführen, dass er angesichts der
Gefahr aus Friedrichsruh ein Gefühl der Verletzlichkeit empfand,
dass sich ein gewisser Verfolgungswahn bemerkbar machte. »Einer nur
ist Herr im Reiche, und der bin ich! Keinen anderen dulde ich«,
sagte er 1891 vor einer Versammlung rheinischer Industrieller, die
er im Verdacht hatte, Bismarck-freundliche und arbeiterfeindliche
Sympathien zu hegen.55 Derartige Patzer
waren natürlich für die Bismarcksche und oppositionelle Presse ein
gefundenes Fressen. Im privaten Kreis kam es zu Ausbrüchen, in
denen sich Zorn und Panik vermischten. Nachdem Wilhelm zu Ohren
gekommen war, dass Bismarck dem russischen Botschafter Pawel
Schuwalow mitgeteilt hatte, er sei aus Protest gegen die
antirussische Politik des Kaisers zurückgetreten, zog Wilhelm
mehrfach juristische Schritte unter dem Vorwurf des Hochverrats in
Erwägung. Das Reichsamt für Justiz leitete zu diesem Zweck sogar
eine vorläufige
Untersuchung ein.56 Im Sommer 1892
bereitete Bismarck sich wegen einer Familienhochzeit auf eine Reise
nach Wien vor. Wilhelm nahm dies zum Anlass, dem österreichischen
Kaiser einen Brief zu schreiben, und drängte ihn, diesem
»ungehorsamen Untertan« keine Audienz zu gewähren, solange er nicht
reuevoll zu Wilhelm gekommen sei und »peccavi« (Ich habe gesündigt) gesagt habe – diese
Boshaftigkeit verzieh die deutsche Öffentlichkeit, einem gut
informierten Beobachter zufolge, dem Kaiser nie.57 Im Urlaub im Herbst 1893 schäumte Wilhelm immer
noch vor Wut und sprach »von einem großen einstmaligen Strafgericht
[gegen Bismarck]«.58 Eine weithin
publik gemachte und äußerst theatralische Begegnung zwischen den
beiden Männern in Berlin im Januar 1894 ergab eher einen
Waffenstillstand als eine dauerhafte Versöhnung. Nachdem Bismarck
im Jahr 1896 den Inhalt des Rückversicherungsvertrags
veröffentlicht hatte, sprach Wilhelm erneut davon, den »alten bösen
Mann« in der Festung von Spandau einzusperren.59
Wilhelm empfand für den alten Mann recht
verwirrende und intensive Gefühle. »Wie habe ich den Fürsten
Bismarck geliebt!«, teilte er Philipp Eulenburg im Sommer 1896
während einer der alljährlichen Segeltörns in Skandinavien mit.
»Was habe ich ihm geopfert! Ich habe ihm mein Elternhaus zum Opfer
gebracht! Um seinetwillen bin ich durch Jahre meines Lebens
misshandelt worden, und ich habe es ertragen, weil ich ihn als den
lebendigen Ausdruck des preußischen Vaterlandes
empfand.«60 Solche Ausbrüche künden
nicht nur von Selbstmitleid und Selbstrechtfertigung; sie geben
einen Hinweis darauf, was es bedeutete, im Zeitalter eines Titans
der europäischen Geschichte aufzuwachsen. Wenn Bismarck weitgehend
den Platz von Wilhelms Vater innerhalb der politischen Loyalitäten
des Prinzen usurpiert hatte, so übte er einen entsprechend starken
Einfluss auf die politische Vorstellungskraft des neuen Kaisers
aus. Es ist in der Tat frappierend, wie häufig sich Wilhelm –
insbesondere in den neunziger Jahren – für politische Linien und
Haltungen aussprach, die ihrem Geist nach als »Bismarcksche« gelten
konnten.
Zum Beispiel hielt er das Kartell weiterhin für die solideste
Basis einer Regierung, selbst nachdem die Parteien des Kartells die
Fähigkeit verloren hatten, eine parlamentarische Mehrheit im
Reichstag zu bilden.61 Holstein war der
Meinung, dass einige persönliche Einmischungen des Kaisers in die
deutsche Diplomatie, die später diskutiert werden, in Wirklichkeit
Versuche waren, die Außenpolitik des Neuen Kurses mit Bismarckschen
Prioritäten in Einklang zu bringen.62
Wenn Wilhelm danach trachtete, seine eigene politische
Vorrangstellung zu festigen, so könnte man argumentieren, wollte er
in Wirklichkeit nur »die Fiktion des monarchischen Regiments«
buchstäblich umsetzen, welche die »Lebenslüge« des Bismarckschen
Systems gewesen war.63
Selbst das bekannte Liebäugeln Wilhelms mit
einem Staatsstreich nach mehrfachen Auflösungen des Reichstags
lässt sich mit Recht auf Bismarck zurückführen. Bei zahlreichen
Anlässen hatte der Kanzler laut über die Möglichkeit nachgedacht,
das Parlament zu schließen oder seine Vorrechte durch einen
Staatsstreich radikal zu beschneiden. Im folgenden Jahrzehnt drohte
Kaiser Wilhelm II. in einem ähnlichen Ton, »vor äußersten Maßnahmen
nicht zurückzuschrecken« und den Bundesrat wiederum als wahren Sitz
der exekutiven Gewalt einzusetzen, im Einklang mit »Bismarcks
Theorie« von der deutschen Verfassung. 64 Während eines kurzen Tauwetters in ihren
Beziehungen im Februar 1890 schärfte Bismarck Wilhelm ein, vor
einer Politik der Konfrontation nicht zurückzuschrecken, und nahm
ihm das Versprechen ab, »notfalls zu schießen«, wenn es sich als
unmöglich erweisen sollte, den Reichstag zur Räson zu bringen.
Kurzfristig lehnte Wilhelm, wie gezeigt, diese Option demonstrativ
ab, aber allem Anschein nach ließ er sich von der inneren Logik
überzeugen, auch wenn er sie aus taktischen Gründen
ablehnte.65 Sein törichtes
(unverschlüsseltes) Telegramm vom März 1890 an einen Gardeoffizier
in Berlin, in dem er die Truppen aufforderte, bei Zusammenstößen
mit streikenden Arbeitern vom Gewehre Gebrauch zu machen, zeigt
exemplarisch
Wilhelms Entschlossenheit, die Grundsätze seines Lehrmeisters
umzusetzen und sich als würdiger Nachfolger des Kanzlers zu
erweisen.
In einer polemischen Analyse der »Erbschaft
Bismarcks« beobachtete Max Weber, dass jene, die Bismarck
bewunderten, tendenziell weniger »die Großartigkeit seines feinen
und beherrschenden Geistes, sondern ausschließlich den Einschlag
von Gewaltsamkeit und List in seiner staatsmännischen Methode, das
scheinbar oder wirklich brutale daran« bewunderten.66 Nicht nur durch seine Proteste, sondern durch
sein ganzes Verhalten im Amt demonstrierte Wilhelm in den neunziger
Jahren, dass er ein Bismarckianer dieser Art war. Seine Weigerung,
Kritik seiner Entourage zu dulden (und die daraus folgende
Unterwürfigkeit und der Byzantinismus seines Milieus), ließen
einige gut unterrichtete Zeitgenossen Parallelen zu Bismarck
ziehen. »Wir haben darüber geklagt, dass Bismarck die Charaktere
unterdrückt«, schrieb Waldersee im Dezember 1890, »hier sehen wir
aber dasselbe, nur in stärkerer und gefährlicherer
Form.«67 Im Sommer 1892 warf Wilhelm
seinen Ministern vor, dass sie nicht so eilfertig seine Wünsche
ausführen würden, wie sie es noch unter dem ersten Kanzler
üblicherweise getan hatten. »Früher ging es in ernsten Fragen oft
in der Weise her, dass Bismarck den Gedanken, den er später mit
seiner Genialität zu vertreten beabsichtigte, anregte und sodann im
Ministerium die Möglichkeit der praktischen Durchführung besprach.
Da kam es denn, dass ein Minister erklärte: ›Ich mache
es.‹«68 Bei einem späteren Anlass
behauptete er nach einem öffentlichen Aufschrei der Empörung über
sein diktatorisches Benehmen, dass er endlich »die kolossale
Perfidie des alten Bismarck« begreife, der ihn ermuntert habe, »den
Absolutismus schärfer hervorzudrehen«.69 Anders ausgedrückt, als Wilhelm die Absicht
bekundet hatte, sein »eigener Kanzler« zu sein, da meinte er nicht
allein, dass er die politischen Funktionen des Amtes übernehmen
würde, sondern auch dass er sie nach dem Vorbild des Mannes ausüben
würde, der für eine ganze Generation Deutscher die Bedeutung
politischer
Macht definiert hatte. Der berühmte Konflikt zwischen Wilhelm und
Bismarck darf nicht blind machen für die Tatsache, dass die
Auffassung und Ausübung des Amtes durch den letzten deutschen
Kaiser der – wenn auch plumpe und illusorische – Versuch war, die
großen Errungenschaften des ersten deutschen Kanzlers zu
wiederholen.