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Schluss
»Ich bin dafür, den Kaiser zu hängen«, verkündete der Labour-Abgeordnete George Barnes auf einer Wahlkampfveranstaltung im November 1918 in Netherton.1 Am Ende des Ersten Weltkriegs war Wilhelm II. der Gegenstand eines regelrechten Massenhasses. Die Plakate der alliierten Kriegspropaganda stellten ihn als bestialisches, blutrünstiges Monstrum dar, das sich über die Körper vergewaltigter, belgischer Frauen beugt oder wie ein Affe vor brennenden Bibliotheken auf und ab hüpft und sich über die Zerstörung der Zivilisation freut. Gelehrte Traktate mit einer wahren Fülle von Fußnoten wurden gedruckt, um der gebildeteren Öffentlichkeit zu beweisen, dass der Kaiser die Hauptschuld an den Gräueltaten trug, die Europa seit 1914 heimgesucht hatten. »Letzten Endes«, hieß es in einer dieser Studien im Jahr 1917, »ist der deutsche Kaiser […] der verantwortliche Urheber des Unheils, das die Welt bedrückt«; eine andere sprach von seiner »vollständigen und unmittelbaren Verantwortung« für die Katastrophe von 1914-1918.2 Da wundert es nicht, dass so viele in den Ruf einstimmten, diesen »Feind der menschlichen Rasse« zu hängen.3
Selbst im Deutschen Reich, dem Reich, dass Wilhelm II. 30 Jahre lang regiert hatte, folgte auf seinen Sturz eine wahre Flut von Verunglimpfungen. Der letzte deutsche Kaiser wurde als »Psychopath« bezeichnet, der seine Untertanen in die Katastrophe geführt hatte. Die eigennützigen Memoiren bekannter Persönlichkeiten, die unter ihm gedient hatten, trugen nicht dazu bei, dieses Bild aufzubessern. »Jede neue Publikation macht das Bild dieses Schwächlings, Feiglings, brutalen Strebers und Bramarbas, dieses Hohlkopfs und Aufschneiders, der Deutschland ins Unglück gestürzt hat, noch abstoßender«, schrieb Harry Graf Kessler im Jahr 1928. »Nicht ein Zug ist an ihm, der Sympathie oder Mitleid erregen könnte; er ist restlos verächtlich.«4
Fast neun Jahrzehnte nach Kriegsende sind die Emotionen, die solche Urteile bedingten, verblasst, die Unmittelbarkeit der Erfahrung ist vorüber, aber unser Bild von Wilhelm II. bleibt dennoch überwiegend negativ. Jüngste Studien seiner Herrschaft charakterisieren ihn als »abscheulichen Herrscher« mit einer »inkohärenten, narzisstischen Persönlichkeit«, sprechen ihm einen »gestörten Geisteszustand« zu, bezeichnen ihn als einen »verletzenden« und »sadistischen« Klotz, der Gefallen an der Demütigung anderer fand und eine »kühle Entfremdung« von seinen Mitmenschen verspürte, als »ermüdend«, »geistesgestört«, als »in Eitelkeit und Selbstüberschätzung strotzender Narr«, als »Vorbote Hitlers«, das »Bindeglied« zwischen dem vornehmen Chauvinismus des Kaiserreiches und dem vernichtenden Hass von Auschwitz, als einen Mann, der »das furchtbarste Übel erblickte und es als das Werk Gottes erklärte« – kurzum: »die Nemesis der Weltgeschichte«.5
Der spöttische, verunglimpfende, ja sogar verteufelnde Tonfall vieler historiographischer Kommentare zu Wilhelm zählt zu den prägnantesten und auffälligsten Merkmalen auf diesem Gebiet. Man braucht kein Fürsprecher einer Rehabilitierung zu sein, um zu spüren, dass diese Sprache ein wenig überzogen und fehl am Platze ist. Das ist so, als würde Wilhelm zur Symbolfigur für etwas gemacht, das über seine Person hinausreicht und größer ist als er selbst: die Massenzerstörung des Ersten Weltkriegs, die Gräuel des Zweiten, die Katastrophe und Schande einer ganzen Nation. Dieses Buch hat keineswegs die Absicht, den letzten Kaiser zu »rehabilitieren«. Er bleibt, nach meiner Lesart, ein intelligenter Mensch, ausgestattet allerdings mit einem schlechten Urteilsvermögen, der zu taktlosen Ausbrüchen und kurzlebigen Begeisterungen tendierte, eine ängstliche, zur Panik neigende Gestalt, die häufig impulsiv aus einem Gefühl der Schwäche und Bedrohung heraus handelte. Indem seine Äußerungen und Handlungen in den zugehörigen Kontext eingebettet werden, trachtet die Studie danach, Verunglimpfung und Verständnis wieder in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen.
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Gesagten ziehen? Wilhelms Auffassung von Macht und ihrer Anwendung war keineswegs das absonderliche Hirngespinst eines gestörten Verstandes. Sie wurde geprägt zum einen von einem familiären Hintergrund, der durch machtpolitische Auseinandersetzungen auf einzigartige Weise erschüttert worden war, und zum anderen von Bismarck, dem Titanen, der Wilhelms politische Erziehung so massiv überschattete.
Aufgrund der spezifischen Unbestimmtheit der deutschen Verfassung war unter besonderen Umständen eine Machtkonzentration in der Hand des Souverän möglich, gleichzeitig wurde aber auch die Machtverteilung gefördert. Ganz allgemein erhellt die Studie den schwer fassbaren Charakter der Regierungsgewalt, die nach Bismarck im Rahmen der deutschen Verfassung ausgeübt wurde, ihr Potenzial, unerwartet die Seiten zu wechseln, insbesondere im Kontext der zentralen Beziehung zwischen dem Kaiser auf der einen und »seinen« Kanzlern und Generälen auf der anderen.
Indem sich Wilhelm von Bismarck trennte, lernte er viele Machtinstrumente einzusetzen, die ihm der Reichsverfassung zufolge zur Verfügung standen, und entwickelte ein rudimentäres, politisches Programm, das die schlichtende soziale und kulturelle Mission des Throns mit den großen Aufgaben und Herausforderungen der nationalen Konsolidierung verknüpfte. Außerhalb der eigentlichen Domäne der Politik assoziierte sich Wilhelm konsequent mit den aktuellsten Errungenschaften der Technik, Wissenschaft und Industrie, umgab sich mit Männern aus diesen Kreisen und half damit, ein neuartiges, elitäres Milieu zu schaffen, in dem sonst voneinander getrennte Gesellschaftsgruppen miteinander in Kontakt kommen konnten. In diesem Sinn hatte er vielleicht doch den Anspruch, ein »Herr der Mitte« zu sein, wie Nicolaus Sombart feststellt.
Doch der Kaiser war trotz vieler tatkräftiger Einmischungen in die Politik außerstande, dieses Programm auf nennenswerte Weise zu realisieren oder seinen Willen auch nur konsequent der Exekutive aufzuzwingen. Selbst die Ernennung von »Günstlingen« auf Schlüsselposten bewirkte nicht unbedingt eine Vermehrung seiner Macht. Das lag zum Teil daran, dass die kaiserlichen »Pöstcheninhaber«, sobald sie einmal ihre Pfründe sicher hatten, dazu neigten, eigene Wege zu gehen. Das grundlegendere Problem war jedoch die völlige Unfähigkeit des Kaisers, ein eigenes konzises politisches Programm zu entwickeln oder durchzuhalten. Die These eines »Königsmechanismus‘«, die Röhl als ausgewogenere Alternative zum »persönlichen Regiment« anregte (ein Begriff, den er von Norbert Elias‘Analyse des absolutistischen Hofes von Ludwig XIV. entlehnte), bleibt somit problematisch, weil sie auf politischer Ebene nur funktionieren kann, wenn die Ziele des Monarchen allen bekannt sind und von seinen Höflingen vorausgeahnt werden können. Aber davon konnte bei Wilhelm II. kaum die Rede sein, weil seine Ziele von einem Moment zum nächsten eine dramatische Kehrtwende machen konnten. Er griff Ideen auf, begeisterte sich für sie, wurde ihrer müde oder verlor den Mut, und ließ sie wieder fallen. In der einen Woche schäumte er vor Wut über den Zaren, in der nächsten schwärmte er in den höchsten Tönen von ihm. Er reagierte heftig auf Beleidigungen oder Provokationen, geriet aber bei einer drohenden echten Auseinandersetzung oder einem Konflikt in Panik. Dies alles heißt keineswegs, dass der Kaiser unbedeutend gewesen wäre. Vielmehr lässt es darauf schließen, dass seine Bedeutung weniger in der Durchsetzung eines autokratischen Willens lag als in dem chronischen Versagen der Führung. Selbst auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik waren seine Einmischungen, so wichtig sie für sich genommen waren, zu spontan und zu kurzfristig, um ein stimmiges Programm zu bilden.
Weder während der Kanzlerschaft Bülows noch während Bethmann Hollwegs Amtszeit unternahm Wilhelm den Versuch, einen ähnlichen Einfluss auf die Politik zu erlangen, wie er ihn in den neunziger Jahren angestrebt hatte. Es dürfte zu weit gehen, Bernhard von Bülow das Ziel einer dauerhaften Parlamentarisierung der deutschen Politik zu unterstellen, aber er war gewiss nicht das gefügige »Werkzeug« des Herrscherwillens, das durch das Bülowsche Pseudokonzept eines »persönlichen Regiments im guten Sinne« impliziert wurde. Was Wilhelms Interventionen auf dem Feld der Außenpolitik betraf, so beschäftigten sie mit Sicherheit die Männer in der Wilhelmstraße massiv, aber sie waren längst nicht so schädlich, wie häufig behauptet wurde. Auf jeden Fall trugen sie kaum dazu bei, den Kurs der auswärtigen Beziehungen zu gestalten. Dynastische Bande und Korrespondenz nützten in dieser Beziehung wenig. Viel wichtiger war hingegen Wilhelms Anteil an dem raschen Ausbau der deutschen Flotte, doch der Zusammenhang zwischen dem Flottenprogramm und der Verschlechterung der englisch-deutschen Beziehungen sollte nicht überbetont werden. Weder der ziellose Imperialismus deutscher »Weltpolitik«, noch der Bau von Schiffen waren schuld am Ausbruch des Krieges im Jahr 1914.
Im Kontext der Krise im Vorfeld des Konflikts wirft die Studie ein Licht auf den friedfertigen Charakter der Interventionen Wilhelms in der Balkanfrage. Wilhelm betrachtete den Balkan von 1912 an keineswegs als willkommenen Vorwand für einen Konflikt zwischen den Mittelmächten und einer oder mehrerer Großmächte. Seine Unterstützung für den österreichischen Bündnispartner von 1895 an war auch nicht in einem Sinn bedingungslos, dass sie eine existenzielle Bedrohung für die Unabhängigkeit des deutschen Reiches und den Frieden Europas dargestellt hätte. Und Wilhelms Aktionen vom 5. Juli 1914 (der »Blankoscheck«) kamen keineswegs einer Vorwegnahme der österreichischen Absichten gleich und hatten auch nicht den Zweck, den Ausbruch eines Präventivkrieges zu erleichtern, in dem das Deutsche Reich die relative Abnahme der militärischen Bereitschaft wieder umkehren konnte. Tatsächlich sollten wir vermutlich die Versicherungen ernst nehmen, die Wilhelm schon am 25. Juni 1888 anlässlich der Reichstagseröffnung abgegeben hatte: »In der auswärtigen Politik bin ich entschlossen, Frieden zu halten mit jedermann, so viel an mir liegt. Deutschland bedarf weder neuen Kriegsruhmes noch irgendwelcher Eroberungen, nachdem es sich die Berechtigung, als einige und unabhängige Nation zu bestehen, endgültig erkämpft hat.«6
Wilhelms öffentliche Äußerungen projizierten und konsolidierten seine Autorität nicht in der Weise, wie er es sich gewünscht hätte, und trugen stärker als alles andere dazu bei, seinem Ansehen zu schaden. Die Kaiserreden waren in manchen Fällen taktlos und unbesonnen, aber es wäre falsch, die Aufregung um die Reden allein auf die persönlichen Mängel des Kaisers zurückzuführen. Die Vielzahl von Titeln und Funktionen, die der preußisch-deutsche König und Kaiser in einer Personalunion in sich vereinte, brachte es mit sich, dass Wilhelm verschiedene Rollen für eine Palette unterschiedlicher Gruppen besetzte. Dass Wilhelm es nicht schaffte, die sich daraus ergebenden Spannungen aufzulösen, und dass dieses Versagen eine so verheerende Wirkung im öffentlichen Leben des Reiches hatte, lag ebenso sehr an der gespaltenen, politischen Kultur in Deutschland wie an der Unstimmigkeit seiner Persönlichkeit.7
Ungeachtet des nominellen Oberbefehls wurde der Kaiser von einer aktiven Rolle bei der strategischen oder operativen Planung der deutschen Kriegsanstrengungen ausgeschlossen. Aufgrund seiner Stellung am konstitutionellen Scharnier zwischen militärischen und zivilen Behörden – wie sich bereits in den letzten Vorkriegsjahren in aller Schärfe gezeigt hatte – war jedoch dafür gesorgt, dass er bei einigen der wichtigsten Entscheidungen, die von der deutschen Führung nach Juli 1914 getroffen wurden, eine zentrale Rolle spielte. Viele schwierige Monate lang nahm er Falkenhayn gegen eine sich ausweitende Kampagne in Schutz. Viel klarer als der sonst so weitsichtige Bethmann Hollweg erkannte Wilhelm die Gefahr, die Hindenburg personifizierte. Der Kaiser zählte zu den letzten, die dem Druck stand hielten und sich einem uneingeschränkten U-Bootkrieg entgegenstellten. Die Erklärung desselben stellt die wohl verhängnisvollste Entscheidung des deutschen Oberkommandos dar. Dies alles darf jedoch nicht von dem grundlegenden Versagen des Kaisers ablenken, sich als echte Führungspersönlichkeit auszuzeichnen. Wilhelm nahm eine Position im Herzen der deutschen Verfassung ein – er stand im Brennpunkt des Systems. Diese Position hätte man dazu nutzen können, eine kohärente und zielgerichtete Strategie zu entwickeln. Wilhelms Versagen in dieser Beziehung erklärt nicht zuletzt, weshalb es so lange dauerte, bis das Verhältnis zwischen Ost- und Westfront geklärt wurde, weshalb die Seekriegsund die Heeresleitung so schlecht koordiniert wurden und weshalb es sich als unmöglich erwies, einen nennenswerten Dialog zwischen Diplomatie und Friedensplänen für die Zeit nach dem Krieg auf der einen Seite und der militärischen Strategie auf der anderen herzustellen.
Wilhelm II. beschleunigte dramatisch den Legitimitätsverlust der Monarchie als deutscher, politischer Institution und verlieh dadurch, wenn auch indirekt, der Suche nach einem »Führer aus dem Volk« eine erhöhte Dringlichkeit, nach einem Führer, der durch seinen Erfolg und massenhaften Zuspruch legitimiert wurde. Was die alten, konservativen Eliten betraf, so hemmten die unrühmlichen Umstände von Wilhelms Abschied jede weitere Identifikation mit dem letzten Inhaber des deutschen Throns. Aus dem Monarchismus entwickelte sich deshalb nie ein ideologischer Rahmen, der imstande gewesen wäre, dem Konservatismus nach dem Krieg eine kohärente und solide, politische Plattform zu bieten. Adlige, insbesondere der jüngeren Generation, kehrten dem persönlichen Monarchismus ihrer Väter und Vorväter den Rücken und wandten sich einer diffusen Vorstellung von einem Volkstribun zu, der das Vakuum füllen würde, das durch die Defizite und schließlich die Flucht des Monarchen geschaffen worden war. Ein charakteristischer Ausdruck dieser Sehnsucht findet sich in den Tagebucheinträgen von Andreas Graf von Bernstorff, dem Spross einer alten Familie, die zahlreiche angesehene Diener des preußischen Throns hervorgebracht hatte: »Uns kann nur ein Diktator noch helfen, der mit eisernem Besen zwischen dieses ganze internationale Schmarotzer-Gesindel fährt. Hätten wir doch, wie die Italiener, einen Mussolini!«8
Die Herrschaft dieses Kaisers wurde aus verschiedenen Formen der Macht gewoben. Wilhelm verfügte über die Mittel, politische Initiativen zu starten – allerdings nicht ihre Umsetzung zu gewährleisten. Er hatte die Vollmacht, viele zentrale Ämter zu besetzen – war aber außerstande, seine Kandidaten zu lenken, sobald sie im Amt waren. Schließlich genoss er das Privileg einer einzigartig prominenten Stellung im öffentlichen Leben – war aber außerstande, die Darstellungen seiner Person zu kontrollieren. Die instabile Beziehung zwischen diesen verschiedenen Machtformen, die sich zum Teil gegenseitig unterminierten, stellte Wilhelm vor Rätsel, welche er nie ganz zu lösen im Stande war. Die gravierendsten Probleme im System – das veraltete, preußische Wahlrecht und die ungeklärte Stellung des Militärs, das teils außerhalb der Verfassung stand – wurden nie in Angriff genommen. Unter diesem Kaiser entwickelte sich das Amt, das die Schaffung einer stärkeren Legislative und die Ausreifung einer dynamischen, politischen Kultur in Europa hätte fördern können, stattdessen zu einem Zerrspiegel, der der Nation vorgehalten wurde, einem Spiegel, in dem die beunruhigendsten Merkmale der misslichen Lage Deutschlands auf geradezu groteske Weise verzerrt erschienen: Reformstau, politische, konfessionelle und sozioökonomische Zersplitterung, das Missverhältnis zwischen Macht und Kultur, die anormale Stellung des Militärs, die nagende Ungewissheit, welchen Platz dieses Land in der Welt einnehmen würde.