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Im Alleingang
Das erste Jahrzehnt der Herrschaft Wilhelms II. nach dem Abschied von Bismarck fiel mit einer Phase massiver innenpolitischer Unruhen in Deutschland zusammen. Die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren eine »Ära der Reizbarkeit« und der »politischen Nervosität«, des »verschärften Konflikts zwischen Regierung und Reichstag«.1 Sie waren außerdem das Jahrzehnt der kaiserlichen Herrschaft, in dem sich Wilhelm persönlich am stärksten in die Politik einschaltete. Vor allem in diesem Zeitraum lotete er das Machtpotenzial seines Amtes aus. Wilhelm begann die neunziger Jahre mit dem festen Entschluss, in seiner eigenen Person die volle Macht zu vereinen, die Bismarck besessen hatte. In der Tat war er sich seiner Fähigkeit, das deutsche politische System zu lenken, so sicher, dass er Caprivi direkt sagte, er solle seine Amtszeit als Übergangslösung betrachten; das Kanzleramt selbst werde schon bald überflüssig werden.2 Die politischen Initiativen des Kaisers, die Ambitionen, die mit ihnen verbunden waren, die Reaktionen, mit denen sie aufgenommen wurden, die Reibungen, die sie verursachten sowie die Zwänge, denen sie unterworfen wurden, sind Gegenstand dieses Kapitels. Zunächst wenden wir uns jedoch kurz den Veränderungen zu, die sich in der deutschen Politik nach 1890 vollzogen.

Die nervösen Neunziger

»Wir leben in einem Übergangszustande!«, erklärte Wilhelm im Februar 1892 vor dem Brandenburgischen Landtag. »Wir gehen durch bewegte und anregende Tage hindurch [...]«3 Im Rückblick fällt es leicht, dieses Urteil voll und ganz zu unterstützen. Der beispiellose Erfolg der Sozialdemokratischen Partei bei den Wahlen vom Februar 1890 gab das Signal zum Beginn einer neuen Ära in der deutschen Politik. Das alte Sozialistengesetz, das eine juristische Basis für die Unterdrückung sozialdemokratischer Vereinigungen und Publikationen sowie für die Ausweisung der wichtigsten »Agitatoren« bot, war theoretisch noch in Kraft, wurde aber in der Praxis kaum noch beachtet. Die Sozialdemokraten konnten mehr oder weniger frei um die Wähler werben.4 Mit 19,7 Prozent der landesweiten Stimmen (das Doppelte des vorigen Ergebnisses) erfuhr die SPD nun eine stärkere Unterstützung in der Bevölkerung als alle anderen Parteien – allerdings erhielt sie wegen der Wahlkreisgrenzen, die städtische Arbeiterbezirke benachteiligten, nur 8,8 Prozent der Sitze im Reichstag. Das Ergebnis der SPD erschütterte das gesamte politische Spektrum. Es war qualitativ ebenso wie auch quantitativ geradezu revolutionär: Wie Jonathan Sperber nachgewiesen hat, warb die SPD zum ersten Mal eine beträchtliche Zahl von Wählern anderer, »bürgerlicher« Parteien ab.5 Ein Ringen um die Vorherrschaft im Reichstag hatte begonnen, das mit den Wahlen von 1912 seinen Höhepunkt erreichen sollte, in denen über ein Drittel der Deutschen der SPD ihre Stimme gaben.
Ein beträchtlicher Block sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichstag wiederum stärkte massiv die Position des Zentrums, der Partei der deutschen Katholiken, deren loyale Wählerschaft in den südlichen und westlichen Regionen des Reichs in den hitzigen Auseinandersetzungen des Kulturkampfs der siebziger Jahre geschmiedet worden war. Unter den neuen Voraussetzungen, die die Wahl von 1890 geschaffen hatte, war es schwieriger als je zuvor, Gesetze durch den Reichstag zu bringen, ohne sich zuvor die Unterstützung des Zentrums zu sichern. Doch die Stimmen des Zentrums waren häufig nur auf Kosten äußerst umstrittener Zugeständnisse bezüglich katholischer Institutionen oder hinsichtlich der allgemeinen Kultur in Deutschland zu bekommen. Die Frage, wie man die Unterstützung des Zentrums gewann, ohne sich die protestantischen, »nationalen« Parteien (Konservative und Liberale) zum Feind zu machen, zählte zu den Hauptproblemen der verschiedenen Regierungen während Wilhelms Herrschaft.
Noch beunruhigender war eine Radikalisierung des Stils und der Methoden der politischen Rechten Anfang der neunziger Jahre. Mit ihrem ausgesprochenen, ritualisierten Monarchismus (es war Brauch, Parteiversammlungen mit einem ohrenbetäubenden »Heil!« auf den Kaiser zu schließen) wurden die Konservativen als eine Art königliche »Hauspartei« angesehen. Im Dezember 1892 tat sich jedoch ein Graben zwischen den Gemäßigten und den Rechten innerhalb der Führung der Konservativen Partei auf – inzwischen die größte »Regierungspartei«. Die rechten Aktivisten forderten, dass die Partei »demagogischer« werde und »die Stimme des Volkes« aufgreife, um die Unterstützung der großen ländlichen Wählerschaft zu gewinnen. In einer hitzigen Debatte setzten die Rechten sich durch und erreichten die Aufnahme antisemitischer und antikapitalistischer Klauseln in das Parteiprogramm. Das war ein alarmierendes Zeichen dafür, dass antisemitische Agitatoren in unterentwickelten ländlichen Regionen bereits großen Einfluss gewonnen hatten.6 Mit Blick auf eine ländliche Wählerschaft, die von Missernten, niedrigen Preisen und steigender Verschuldung schwer gebeutelt war, schloss sich die Partei mit dem 1893 gegründeten Bund der Landwirte zusammen. Der Bund kanalisierte mit einem geradezu spektakulären Erfolg den Unmut auf dem Dorfe in politisches Handeln. Mit einer Mitgliedschaft von mehr als 300 000 Bauern im Jahr 1913 wurde er zum politischen Motor der Konservativen Partei, dominierte ihre Organisationen, finanzierte Pamphlete und Bücher, koordinierte Wahlkämpfe und setzte die Regierung unter Druck, eine bauernfreundliche Politik zu verfolgen. Das Resultat war ein neues Markenzeichen rechter Politik: konsequenter, radikaler, populistischer und eher zur Opposition neigend als seine Vorläufer.7
Mit anderen Worten, die neunziger Jahre brachten nicht nur eine Verkleinerung der parlamentarischen Unterstützung für die Regierung mit sich, sondern auch einen tieferen Wandel im Wesen und Stil der Politik. In einer klassischen Studie der wilhelminischen Parteien stellt Thomas Nipperdey die »Honoratiorenpolitik« der Bismarck-Ära der »Massenpolitik« gegenüber, die danach zur Norm wurde. Unter Bismarck wurden Parteien überwiegend von selbstrekrutierenden Mitgliedern lokaler Eliten, also Honoratioren, dominiert, die für die Kandidatur bei bestimmten Wahlen lose Vereinigungen bildeten. Die zentralen Institutionen der Partei und die Disziplin waren schwach, der Wahlkampf farblos und Massenagitation so gut wie unbekannt. Nach den Wahlen vom Februar 1890 sollte jedoch eine neuartige Parteienorganisation zunehmend die politische Bühne beherrschen. Gestützt auf eine große, Beitrag zahlende Mitgliederzahl oder verbündet mit starken Lobbygruppen waren die neuen Parteien Organisationen, die ein ständiges Personal beschäftigten und eine Palette neuer Techniken wie Kundgebungen, Demonstrationen und Agitation einsetzten, um die Wähler zu mobilisieren. 8 Diese Sichtweise ist gelegentlich auch angefochten worden, aber aktuelle Studien unterstützen und untermauern tendenziell Nipperdeys Interpretation. Sie bezeichnen die neunziger Jahre als »wichtigen Moment des ständigen Wechsels«, in dem das liberal dominierte, politische Spektrum der Bismarck-Ära »einer komplexeren und zersplitterteren Palette von Kräften« Platz machte.9
Diese Veränderungen auf organisatorischer Ebene wurden durch den allgemeinen Wandel in der politischen Kultur noch unterstrichen: Die Ausbreitung von Lobbygruppen und ihr zunehmender Einfluss auf Parteiorganisationen führten zu einer Fragmentierung und zu einem Wechselspiel des politischen Diskurses, so dass in manchen Fällen etwa die Wortwahl und die Argumente der radikalen Agrarvertreter und der Sozialdemokraten kaum voneinander zu unterscheiden waren.10 Die neunziger Jahre erlebten außerdem eine Verschärfung im Ton der kritischen öffentlichen Sphäre. Das lässt sich natürlich nur schwer mit Zahlen belegen, aber Debatten im Reichstag, die Kritik in der Presse und politische Diskussionen waren insgesamt derber und fundamentaler in ihrer Opposition gegen die bestehende Ordnung. Auch der Umgang mit der Person des Staatsoberhaupts verschärfte und veränderte sich in einer Weise, wie es unter Wilhelm I. undenkbar gewesen wäre. Dieser letzte Punkt ist für die Zwecke unserer Untersuchung am wichtigsten. Generell kann man sagen, dass der Regierung allmählich die Kontrolle über die öffentliche Sphäre entglitt. Das war zum Teil eine Folge von Bismarcks Abschied aus der Politik. Dem Ex-Kanzler war es durch eine verzweigte, geheime Organisation, die aus dem konfiszierten Staatsschatz der Hannoverschen Krone finanziert wurde, gelungen, einen Einfluss auf die Presseberichterstattung auszuüben, der bis weit ins Hinterland reichte. Kein einziger seiner Nachfolger erlangte hingegen jemals eine so starke Macht über die öffentliche Debatte wie Bismarck.11
Die neue Kräfteverteilung unter den Parteien sorgte in hohen politischen Kreisen für Unruhe, insbesondere in dem kleinen Kreis jener, die Wilhelm II. am nächsten standen. Zu den beständigsten Themen in John Röhls maßgeblicher Edition der politischen Korrespondenz des Intimus Wilhelms, Graf Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, zählt die Sorge um den Einfluss, den die Zentrumspartei in der neuen, politischen Konstellation ausüben werde. Das Zentrum galt als Trojanisches Pferd eines drohenden ultramontanen Katholizismus mit einem rückwärts gewandten, partikularistischen Programm in kulturellen Fragen und einer engstirnig »römischen« Außenpolitik, welche die Einheit des Reiches von innen untergraben und seine internationalen Verpflichtungen kompromittieren werde.12 Friedrich von Holstein – eine weitere Schlüsselfigur unter den Beratern des neuen Kaisers – warnte, dass Zugeständnisse an das Zentrum die partikularistischen Kräfte bis zu einem Punkt stärken würden, an dem sich das Reich unter dem Druck der inneren, konfessionellen Spannungen buchstäblich auflösen werde.13 Diese Ängste wurden in regelmäßigen Abständen Wilhelm selbst vorgetragen. Letzten Endes lag es auf der Hand, dass sich der Kaiser und seine Minister in irgendeiner Form mit der einflussreichen Partei der deutschen Katholiken arrangieren mussten. Doch die Beziehung der Regierung zum Zentrum blieb ein ständiger Zankapfel zwischen einem Kaiser, der von Zugeständnissen nichts mehr wissen wollte, und einem Kanzler, der mit dem Landtag und dem Reichstag verhandeln musste.
Ein weiterer, und in mancher Hinsicht größerer Anlass zur Sorge für den Kreis um Wilhelm waren die grundlegenden Veränderungen innerhalb der konservativen Partei. Der wachsende Extremismus und die Kompromisslosigkeit der konservativen Forderungen hatten zur Folge, dass ihre Unterstützung nur zu einem Preis zu bekommen war, den die Regierung (geschweige denn andere Parteien und die Wähler) nicht bereit war zu zahlen. Außerdem wurden die Konservativen durch das Aufkommen eigenständiger und einflussreicher Splittergruppen innerhalb der Partei und der Wählerschaft zu einem unberechenbaren Bündnispartner. Wie Holstein im April 1897 notierte, waren die Konservativen unzuverlässige Partner für die Regierung, weil sie sich »in Agrarier, Bauernbündler, Christlich-Soziale, Antisemiten aufgelöst« hätten, mit dem Ergebnis, dass es »einen kompakten konservativen Wahlkörper nicht mehr« gebe.14 Wilhelms Auseinandersetzungen mit den Konservativen sollten zu den erbittertsten seiner Herrschaft zählen.
Was machte Wilhelm nun aus dieser Ausgangslage? Wie sah sein politisches Programm aus? Die Beantwortung dieser Fragen ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wilhelm sprach häufig über verschiedene Themen, aber mit kohärenten, programmatischen Aussagen tat er sich schwer. Es mangelte ihm an der intellektuellen Distanz und synoptischen Vision, die einen Politiker dazu befähigen, disparate Dinge miteinander in Einklang zu bringen, gemeinsame Themen zu erkennen, die Implikationen zu analysieren und vernünftige, allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Lust an der Machtausübung zählte zu den grundlegenden, treibenden Kräften hinter seinem politischen Verhalten. Aber wurde dieser Machthunger in den Dienst einer bestimmten »politischen Linie« gestellt oder erschöpfte er sich in demonstrativen, planlosen Akten der Selbstbehauptung?
Im Folgenden wird gezeigt, dass es in der Tat möglich ist, in den innenpolitischen Initiativen des Kaisers ein konsistentes – wenn auch wenig durchdachtes und schlecht artikuliertes – Ziel zu erkennen: nämlich die politisch »neutrale« Mitte in der deutschen Politik und Kultur zu integrieren und zu vergrößern, sowie seine Monarchie genau auf diese Basis zu stützen. Diese Mitte wurde durch die Merkmale definiert, die Wilhelm für die Kernpunkte des Konsenses unter der Mehrheit der anständigen und klar denkenden Deutschen hielt: Begeisterung für die deutsche »Nation« und ihre Sache, Misstrauen gegen partikularistische Elemente, Offenheit für technologische Neuerungen und Feindschaft gegen jede Form von Sozialismus. Wie Johannes Miquel, Finanzminister nach Bismarcks Abschied, im März 1890 notierte: Wilhelm betrachtete sich als »Vertreter einer Politik der Sammlung und Versöhnung, welche die Parteigegensätze vermindern und alle zur Mitarbeit bereiten Kreise vereinigen« wollte.15 Der Kaiser schickte sich an, dieses Ziel auf drei Wegen zu erreichen: die Schlichtung von Interessenkonflikten, die Sammlung der gemäßigten und konservativen Kräfte gegen die angeblichen Feinde der Gesellschaftsordnung und die Übernahme symbolträchtiger Projekte von nationaler Bedeutung durch den Monarchen.
Diese Verpflichtungen gründeten sich auf die feste Überzeugung von der transzendenten Qualität seines Amtes. Wilhelm machte kein Hehl aus seiner erstaunlich sakralen Auffassung von der Kaiserkrone – hier klang die exaltierte, politische Theologie Friedrich Wilhelms IV. nach. Wilhelms Glaube, er sei der von Gott berufene Vermittler zwischen Gott und seinen Untertanen, war von absolut zentraler Bedeutung für seine Ansicht, es sei die ureigenste Aufgabe des Kaisers, in seiner Person die auseinander laufenden Interessen der Regionen, Klassen und Konfessionen zu konzentrieren und miteinander zu versöhnen. Genau wie Friedrich Wilhelm IV. assoziierte auch Wilhelm II. seine öffentliche Funktion mit einem ökumenischen Verständnis des Christentums, das sämtliche historischen Konfessionen umfasste.16
Diese Vision der kaiserlichen Transzendenz hatte auch eine technokratische Dimension. Als Kind hatte Wilhelm die Begeisterung seiner Zeitgenossen für wissenschaftliche Neuerungen und Entdeckungen in einer Ära geteilt, als technische Wissensformen für einen wachsenden Massenmarkt der Kulturkonsumenten popularisiert wurden.17 Als Erwachsener interessierte er sich weiterhin stark für Wissenschaft und Technik. »Immer von Neuem muss man staunen«, schrieb 1904 ein hoher Regierungsbeamter, »welch ungewöhnliches Interesse der Kaiser für viele Anforderungen und Fortschritte hat. Heute sind es die Radiumstrahlen […] dann wieder die freie und voraussetzungslose wissenschaftliche Forschung und schließlich auch ganz besonders die Entwicklung der Maschinentechnik [...]«18 Tatsächlich konstituieren diese Interessen ein so zentrales und dauerhaftes Charakteristikum an Wilhelms Leben, dass man, mit Wolfgang König, von der »technischen Biographie« des Kaisers sprechen kann.19 Wilhelm interessierte sich sehr für die neue Rundfunktechnologie und hatte persönlich Anteil daran, dass in die Schiffe der deutschen Kriegsmarine Rundfunksender nach dem AEG Slaby-Arco-System eingebaut wurden. Er hegte außerdem eine große Begeisterung für die Flutprävention und den Bau von Dämmen und Deichen sowie für den wissenschaftlichen Ballonflug (insbesondere für meteorologische Zwecke). Er war beeindruckt von dem erhabenen Spektakel der neuen Luftschiffe und pflegte eine Zeitlang enge, öffentliche Kontakte zu Ferdinand Graf von Zeppelin. Wilhelm war ein massiver und unbeirrbarer Fürsprecher der technischen und wissenschaftlichen Ausbildung. Ferner war er ein großzügiger Sponsor von Forschungsinstituten und schaltete sich häufig persönlich in die Entwicklung von Schlüsseltechnologien ein, indem er Firmendirektoren in seinen Briefen drängte, bestimmte Innovationen von angeblich nationalem Interesse voranzutreiben.20 Die Technik übte nicht zuletzt deshalb eine starke Anziehungskraft auf Wilhelm aus, weil sie ihm ein Aktionsfeld bot, das über dem Parteienzwist der Politik stand.

Schulwesen

Kaum eine frühe politische Initiative Wilhelms sagt so viel über seine sich formierende Auffassung von der eigenen Rolle aus wie seine Interventionen in der Schulpolitik Anfang der neunziger Jahre. Angesichts der großen Leistungen der epochalen Wirtschaftsgesetze, die von der Regierung Caprivi in diesen Jahren verabschiedet wurden – Senkung der Getreidezölle, Abschluss einer Reihe internationaler Handelsverträge und Miquels Finanzreformen -, mag es unangemessen erscheinen, sich ausgerechnet auf weiterführende Schulen zu konzentrieren. Das hat jedoch seinen Grund: Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass Wilhelm die moderat antiprotektionistische Haltung Caprivis massiv unterstützte und befürwortete und dass er den agrarischen Rückschlag gegen diese Politik bedauerte, aber er hatte wenig mit der Konzeption dieser ökonomischen Maßnahmen oder den Details ihrer Umsetzung zu tun. Hingegen war er bereits bei der Thronbesteigung entschlossen, das deutsche Schulwesen zu reformieren. Seine Interventionen auf diesem Feld sagen mehr über seine politische Vision und Haltung gegenüber Macht und Amt in den ersten Jahren seiner Herrschaft aus als sein marginaler Beitrag zu den großen wirtschaftlichen Diskussionen der Zeit.
Wilhelms Interesse an der Bildungsreform hatte vermutlich seinen Ursprung in den unerfreulichen Jahren am Gymnasium in Kassel, von denen ihm nicht zuletzt der »verknöcherte, altphilologische Lehrplan«21 in Erinnerung geblieben war. Allerdings spiegelte sich darin auch der Einfluss der damals angesagten, zeitgenössischen Kritik am Sekundarschulwesen im deutschen Reich und in Europa allgemein wider. Im Frühjahr 1889 erließ Wilhelm nach Rücksprache mit Freunden und Beratern eine Kabinettsorder für das preußische Staatsministerium, in der er verlangte, dass der Geschichtsunterricht stärker auf aktuelle Fragen ausgerichtet werden solle. Der Endpunkt des Lehrplans sollte bis in die jüngste Vergangenheit vorverlegt werden und auch die Befreiungs- und Einigungskriege des 19. Jahrhunderts umfassen, und der Stoff solle auch die soziale und ökonomische Geschichte umfassen, mit dem Schwerpunkt auf den sozialen Errungenschaften des modernen Staates. Ein Jahr später wurde auf Wilhelms Anregung hin eine große Konferenz aus Lehrern und Bildungsbeauftragten einberufen, um über die »Schulfrage« zu sprechen. Wilhelm eröffnete die erste Sitzung persönlich mit einer Rede (einer der längsten seiner Laufbahn), die sich mit Schulhygiene, körperlicher Ertüchtigung, Reduzierung des Lernstoffs und der Notwendigkeit einer »nationalen Basis« für den Lehrplan befasste.22 Die Lernziele waren klar: Das Militär musste mit kräftigen, jungen Männern versorgt werden (»Ich suche nach Soldaten«). Der öffentliche Dienst brauchte »eine kräftige Generation«, »die auch als geistige Führer und Beamte dem Vaterlande dienen« werde. Die Jugend musste durch eine ordentliche Grundlage in der Arbeitspolitik sowie die vermittelnde, soziale Mission des Staates gegen den Virus der Sozialdemokratie immun gemacht werden. Am wichtigsten war jedoch – auf diesen Punkt kam Wilhelm immer wieder zurück -, dass die Schulen »nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer«. Nur mit diesen Mitteln konnten die »zentrifugalen Tendenzen«, die Wilhelm im politischen Gerüst des deutschen Reiches am Werk sah, gestoppt und rückgängig gemacht werden.23
Wilhelms Rede rief unter vielen anwesenden Erziehern Unmut hervor und sorgte für einige Beunruhigung.24 Das war kein Wunder: Seine Äußerungen berücksichtigten nicht im geringsten die Vorbereitungen der Organisatoren, deren Tagesordnung Wilhelm einfach mit dem Kommentar, sie erscheine zu »schematisch«, beiseite schob. Und so mancher Schulrat dürfte bei folgendem Vorschlag hinter seiner Brille erbleicht sein: »Jeder Lehrer, der gesund ist, muss turnen können; und jeden Tag soll er turnen«.25 Auch wenn Wilhelms Vorschläge für Zuhörer mit einem persönlichen Interesse am Erhalt der bestehenden Arrangements mit Sicherheit schockierend waren, so war ihr Inhalt jedoch keineswegs neu. Darüber hinaus gab es sogar einen Präzedenzfall für eine monarchische Intervention auf diesem Feld: In einem Erlass vom 12. März 1888, der in einem erheblich milderen Ton verfasst war, hatte Wilhelms Vater Friedrich III. nationale, soziale und pädagogische Fragen auf ähnliche Weise miteinander verknüpft und festgestellt, dass den Erziehern eine maßgebliche Rolle bei der Abwehr der destabilisierenden, ideologischen Effekte eines raschen Wirtschaftswachstums und einer sozialen Polarisierung zukam.26
Dennoch war eine so detaillierte und ambitionierte monarchische Reformkampagne wie diese in der Tat neu. Sie spiegelte nicht nur Wilhelms Bestreben, sich im Zentrum des Geschehens zu platzieren, wider, sondern auch sein Vertrauen in die einzigartige Fähigkeit und Verpflichtung des Throns, im allgemeinen Interesse liegende Verbesserungen durchzusetzen. In einer vielsagenden Passage der Bildungsrede stellte Wilhelm fest: »Ich kann das gewiss genau beurteilen, weil ich oben stehe und an mich alle solche Fragen herantreten.«27 Wilhelm hatte natürlich eine einzigartige Stellung inne: Im Gegensatz zu den Ministern und Bürokraten musste er sich nicht an die offizielle Etikette halten und konnte jeden um Rat fragen, der ihm geeignet schien. Wie im Streit mit Bismarck um die Arbeitspolitik stützte Wilhelm sich, in der traditionellen Manier der Hohenzollern, auf den Rat schillernder Figuren wie Paul Güssfeldt, ein ehemaliger Bergsteiger und Forscher und zugleich Autor eines Werks, das mehr technische Anleitung und körperliche Ertüchtigung an deutschen Schulen forderte, oder Konrad Schottmüller, ein ehemaliger Geschichtslehrer und Direktor des deutschen Historischen Instituts in Rom, der Wilhelm zufällig bei einer Stadtführung durch Rom im Oktober 1888 begleitet hatte. Eben darin bestehe, so glaubte Wilhelm, die Überlegenheit seiner Perspektive über die vieler »Experten«, die eine besondere Autorität in Bildungs- und anderen Regierungsfragen für sich beanspruchten. Nur er konnte die Probleme von allen Seiten betrachten. Nur er verkörperte die Regierungsgewalt des Staates, gehörte aber nicht dem Staatsapparat an. Diese wahrgenommene Kluft zwischen dem universalisierenden Monarchen und den Hütern des Fachwissens belastete unweigerlich seine Beziehungen zu den Ministern, die zum großen Teil Karrierebeamte waren und vom Staat eigens zu dem Zweck angestellt wurden, die Regierungsgeschäfte zu leiten. Es blieb der Öffentlichkeit nicht verborgen, dass der Vorstoß des Kaisers in die Schulpolitik im Widerspruch zu der erklärten Agenda des langjährigen Bildungsministers Gustav von Gossler stand; damit geriet der Minister in eine peinliche Situation. Die Preußischen Jahrbücher führten dies ihren Lesern deutlich vor Augen, indem sie von Gosslers Aussagen den völlig anderen Ansichten des Kaisers in parallelen Kolumnen gegenüberstellten. Drei Monate nach der Konferenz trat Gustav von Gossler zurück.
Wilhelms Eingreifen brachte nicht die radikale Reform des preußischen und deutschen Bildungswesens, die er sich gewünscht hätte (er zeigte sich später enttäuscht über die mageren Ergebnisse der Konferenz und der zugehörigen Reformen). Aber der Deutschunterricht wurde auf Kosten von Griechisch und Latein erhöht, und es wurden mehr Stunden für die Leibeserziehung vorgesehen.28 Langfristig trugen die Initiativen des Kaisers auch dazu bei, den Statusunterschied zwischen den geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern innerhalb des Gymnasialsystems abzubauen und den Weg für die Schaffung von Eliteschulen frei zu machen, die einen hochqualifizierten Unterricht in einer Palette naturwissenschaftlicher Fächer anboten. 29 Die wohl wichtigste Überlegung Wilhelms zur damaligen Zeit galt der Frage, auf welche Resonanz die Konferenz in der Öffentlichkeit stieß. Der badische Gesandte in Berlin berichtete, dass die Initiative des Kaisers im Bildungsapparat »mehr Kritik und Kopfschütteln als Anerkennung« geerntet habe, »dafür aber Jubel und Begeisterung in breiten Massen des Volkes«.30 Wilhelm spielte auf diese positive Reaktion an, wenn er in seiner Schlussrede der Konferenz davon sprach, dass seine Vorfahren bewiesen hätten, »dass sie, den Puls der Zeit fühlend, vorausspähten, was da kommen würde«: »Ich glaube erkannt zu haben, wohin der neue Geist, und wohin das zu Ende gehende Jahrhundert zielen, und ich bin entschlossen, sowie [sic!] ich es beim Anfassen der sozialen Reform gewesen bin, so auch hier in bezug auf die Heranbildung unseres jungen Geschlechts die neuen Bahnen zu beschreiten, die wir unbedingt beschreiten müssen [...]«31 Bei allem Pathos zeigte sich in diesen Worten die Zuversicht Wilhelms, dass es »da draußen« einen Konsens gab, der von einem modernen Monarchen mit einem offenen Ohr abgerufen werden konnte.

Die konfessionelle Kluft

So weit, so gut; es sollte jedoch nicht lange dauern, bis der Ausbruch einer öffentlichen Auseinandersetzung über die Schulpolitik offenbarte, welche Fallstricke einen Monarchen erwarteten, der entschlossen war, zu den großen Themen der Zeit Stellung zu beziehen. Die Frage, welche Rolle die Religion in der Bildung, und insbesondere die Kirche bei der Verwaltung von Schulen spielen sollte, war in allen Staatswesen im Europa des 19. Jahrhunderts außerordentlich umstritten. Besonders komplex und heikel wurde das Thema in Deutschland durch die Tatsache, dass quer durch das politische Spektrum (von den Sozialdemokraten über Links- und Rechtsliberale bis zu den Konservativen) die konfessionelle Trennlinie zwischen Protestanten und Katholiken verlief. Als Partei der katholischen Arbeiter, Bauern, Handwerker und Stadtbewohner war die Zentrumspartei in sozialer Hinsicht heterogen. Folglich waren die Parteimitglieder in sozialen und wirtschaftlichen Fragen häufig gespalten, rein konfessionelle Themen stärkten allerdings tendenziell die Geschlossenheit des Zentrums; deshalb spielten diese auch bei der politischen Linie der Parteiführung eine wichtige Rolle. Zu den umstrittensten Punkten der Religionspolitik zählte die Forderung des Zentrums nach einer verstärkten, klerikalen Beteiligung und Aufsicht im Schulwesen.
War für das Zentrum Platz in der »Mitte« der deutschen Politik? Für den Kreis aus Beratern und hohen Beamten um Wilhelm kamen Zugeständnisse an das Zentrum in kulturell-konfessionellen Fragen einem Verrat am »nationalen« Interesse gleich. Eine Politik der »Unparteilichkeit« bestehe darin, erklärte Philipp Eulenburg Wilhelm, dass sie die Unterstützung der (weitgehend protestantischen) Nationalliberalen und Konservativen habe.32 Es sei entscheidend, an der Seite der »Mittelparteien« zu bleiben, teilte er Friedrich von Holstein mit; und wenn man schon Zugeständnisse machen müsse, so solle man sie eher den oppositionellen, aber protestantischen Linksliberalen als der »römischen« Seite machen.33 Wilhelm neigte zur selben Ansicht; auch wenn er durch symbolische Gesten wie wiederholte Treffen mit dem Papst unbedingt die Sympathie der deutschen Katholiken gewinnen wollte, traute er dem Zentrum nicht über den Weg und blieb überzeugt, dass eine handlungsfähige Regierung »unabhängig« vom Einfluss des Zentrums bleiben müsse.34 Allerdings konnte es sich keine Regierung, die den Auftrag hatte, Gesetzesvorlagen durch den Reichstag zu bringen, leisten, sich so dogmatisch zu verhalten. Wie Kanzler Caprivi Eulenburg erklärte:
 
Ziehen wir die Parteienverhältnisse im Reichstag in Betracht, vergegenwärtigen wir uns, dass Deutschkonservative, Reichspartei und Nationalliberale zusammen für die notwendige Mehrheit von 199 Stimmen nur 132 Vertreter stellen können, so folgt, dass für wichtige Aufgaben, welche uns voraussichtlich im nächsten Jahr beschäftigen werden und für welche die weiter nach links stehenden Parteien kaum zu haben sein würden, die Mitwirkung des Zentrums mit seinen über 100 Stimmen nicht zu entbehren ist.35
 
Mit den »wichtigen Aufgaben« meinte Caprivi vor allem eine Gesetzesvorlage zur Anhebung der Friedensstärke des Heeres. Die Aussichten für eine Zusammenarbeit mit dem Zentrum schienen gut. In den ersten 18 Monaten der Amtszeit Caprivis hatte die Partei ihre wohlmeinenden Intentionen demonstriert, indem sie für so gut wie alle wichtigen Gesetzesinitiativen stimmte. Aber als im Frühjahr 1891 eine neue Heeresvorlage anstand, teilte die Führung des Zentrums dem Kanzler mit, dass sie im Gegenzug für ihre Unterstützung im Parlament Zugeständnisse auf dem Feld der Bildung erwarte. Caprivi kam der Bitte nach, indem er sich nachdrücklich für den Rücktritt des Bildungsministers einsetzte. Als Grund gab er an, dessen Schulpolitik sei den Katholiken nicht kirchlich genug. Der neue Minister, Robert Graf von Zedlitz-Trützschler (ein Kandidat Caprivis),36 legte ein Schulgesetz vor, das der katholischen Haltung sehr stark entgegenkam.
Wilhelm unterzeichnete am 14. Januar 1892 den Gesetzentwurf von Zedlitz-Trützschler. Das war auf den ersten Blick eine seltsame Entscheidung, weil sie dem Kern der bekannten, politischen Neigungen des Kaisers und seiner Berater widersprach. Wenn der Entwurf verabschiedet worden wäre, dann hätte er den Zugriff des Staates auf das Schulsystem geschwächt und einer Segregation den Weg frei gemacht, in der klerikale Behörden neue Lehrer auf Herz und Nieren prüfen durften und fast alle Schüler in Schulen ihrer eigenen Konfession unterrichtet würden. Warum gab Wilhelm den Entwurf zur Diskussion im Parlament frei? Laut einem seiner Lieblingsadjutanten, dem Grafen Carl von Wedel, billigte Wilhelm den Entwurf vor allen Dingen deshalb, weil Caprivi andernfalls mit seinem Rücktritt gedroht hatte.37 Möglicherweise war er auch davon ausgegangen, dass die Gesetzesvorlage in der Debatte und im Ausschuss noch abgeändert würde, während er es der Regierung gestattete, den Katholiken ihre versöhnliche Haltung vor Augen zu führen. Andererseits empfand er (wie seine Frau) vielleicht eine echte Sympathie für die dezidiert klerikale Note. Eins steht jedoch fest: Wilhelm unterschätzte völlig die Vehemenz der Empörung, die der Gesetzentwurf unter den Protestanten auslösen würde.
Die von Zedlitz-Trützschler vorgeschlagenen Zugeständnisse wurden in den oberen Kreisen der preußischen Regierung fast einmütig abgelehnt. Warnungen vor katholischen Intrigen zum Sturz der Dynastie, ja vor dem unmittelbar bevorstehenden Zerfall des Reiches, oder vor dem Aufstieg einer von Österreich angeführten »katholischen Familienliga«, welche die süddeutschen Staaten gegen Preußen vereinen werde, und sogar vor einer triumphalen Bismarck-Kampagne machten die Runde, um die Vorlage abzuwehren.38 Es gab auch einen ohrenbetäubenden Aufschrei der Empörung seitens der liberalen und konservativen Presse. Liberale Blätter verteidigten das Monopol der staatlichen Aufsicht; der gefeierte, nationalliberale Historiker Heinrich von Treitschke warnte, die Freiheit der Forschung und Lehre werde von katholischen Obskurantisten bedroht. Beim Bildungsministerium gingen unzählige Protestpetitionen ein. Der Konflikt um die Schulpolitik spiegelte eine der unzähligen, strukturellen Trennlinien im Reich wider: Ein »Kurs des gemäßigt-konservativen Ausgleichs«, wie Wolfgang Mommsen schreibt, »mit allen politisch relevanten Gruppierungen im Reich«, auch den Katholiken, machte in der nationalen Legislative durchaus Sinn, wo das Zentrum einen ausschlaggebenden Anteil der Sitze hatte. Aber dieser Kurs konnte in Preußen nicht durchgehalten werden, wo durch die Verzerrungen des Dreiklassenwahlrechts der Vorrang der (protestantischen) konservativen und liberalen Interessen garantiert wurde.39 Nichts könnte besser demonstrieren, wie schwierig es war, die Ansprüche der beiden einflussreichsten Legislativen des deutschen Reiches auszubalancieren.
Nach der anfänglichen Unterstützung für den Gesetzentwurf geriet Wilhelm nun in Panik. Auf Eulenburgs Rat hin und auf Drängen des antikatholischen Finanzministers Johannes Miquel lud er sich am 23. Januar selbst zu einem Bier im Haus Zedlitz ein und erschien mit einigen Würdenträgern aus den Kartell-Parteien. An diesem Abend kündigte er an, dass er kein Schulgesetz akzeptieren werde, das nicht von den Konservativen und Nationalliberalen unterstützt werde. Nur wenige Wochen später hielt er jedoch vor dem Brandenburger Landtag eine Rede und forderte ein Ende des Nörgelns, was gemeinhin fälschlich als eine Verteidigung des Zedlitz-Entwurfes ausgelegt wurde.40 Nach einer hitzigen Debatte im Kronrat am 17. März 1892, in der Wilhelm schroff auf einem Kompromissvorschlag bestanden hatte, der den Einwänden der Liberalen Rechnung trug, trat Zedlitz von seinem Amt zurück. Caprivi war der Meinung, seine Politik sei öffentlich desavouiert worden, und reichte ebenfalls sein Rücktrittsgesuch ein. In seiner Verzweiflung versuchte Wilhelm, Zedlitz-Trützschler zu halten, indem er anbot, die Schulvorlage am Ende doch zu billigen, aber vergeblich. Caprivis Rückzug war ein noch schwererer Schlag. Wilhelm weigerte sich anfangs, den Rücktritt zu akzeptieren: »Nein. Fällt mir nicht im Traum ein«, schrieb er als Antwort auf die Mitteilung des Kanzlers. »Erst die Karre in den Dreck fahren und dann den Kaiser sitzen lassen, ist nicht schön.«41 Caprivi willigte am Ende ein, Reichskanzler zu bleiben, übergab aber den Posten des preußischen Ministerpräsidenten dem konservativen Botho von Eulenburg.
Wilhelms Wankelmütigkeit, sobald er unter Druck gesetzt wurde, entging keineswegs der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen. In seinem Rücktrittsgesuch erklärte Caprivi, er scheide aus seinem Amt aus, weil er sich außerstande sehe, sich persönlich auf das unschätzbare Vertrauen des Kaisers zu verlassen.42 Andere gaben während der Krise bissige Kommentare ab, wie schwierig es doch sei zu erraten, auf welche Seite sich der Kaiser schlagen werde.43 Im fernen Altona grübelte der ultraklerikale und einstige Günstling des Kaisers General Waldersee, der seine Entlassung als Generalstabschef 1891 noch nicht verdaut hatte, über Wilhelms »Schwanken und Äußerungen in den entgegengesetzten Richtungen, so dass der Eindruck der Doppelzüngigkeit entstehen musste.«44 Allem Anschein nach stöhnte Wilhelm selbst unter der Bürde seiner eigenen Stellung. Er laborierte damals an den Nachwirkungen einer Ohrentzündung, und die Anspannung, eine konsequente Haltung angesichts widersprüchlicher Verpflichtungen durchzuhalten, wirkte sich schon bald auf seine physische und emotionale Verfassung aus. In einem Telegramm vom 12. März 1892 schrieb er an Eulenburg: »Bin noch recht elend und muss mich jeder Arbeit fernhalten. Zustand durch Überarbeitung und Überanstrengung gekommen. Fieber geschwunden. Aber noch viel Mattigkeit. Werde vielleicht, wenn wieder wohler, mal ausspannen und Ortswechsel vornehmen müssen. Daher alle Politik, innere wie äußere, mir fürs erste völlig gleichgültig, solange sie sich im gewohnten Kreise fortbewegt.«45 Der Schock von Caprivis Rücktritt hatte offenbar einen Nervenzusammenbruch ausgelöst, der rund zwei Wochen lang anhielt.46
Freilich wäre es allzu einfach, Wilhelms Zickzackkurs allein seiner persönlichen Unentschlossenheit zuzuschreiben, deckte die Schulgesetzkrise doch auch die Gespaltenheit der deutschen politischen Kultur auf. Außerdem darf man Wilhelm nicht die Schuld daran geben, dass er sich auf das Minenfeld der Schulfrage wagte, denn immerhin hatte doch das Zentrum, und am Ende der Kanzler selbst, hartnäckig Zugeständnisse gefordert. Möglicherweise hätte Wilhelm, wenn er Zedlitz-Trützschler taktvoller behandelt hätte, den Rücktritt des Ministers verhindern und den Kompromissentwurf erreichen können, den er sich wünschte. Aber es war mit Sicherheit ein Fehler Wilhelms – noch dazu einer, den er in den neunziger Jahren mehrfach begehen sollte -, sich so deutlich mit bestimmten politischen Positionen zu identifizieren, insbesondere wenn diese, notgedrungen, von einer Woche zur nächsten wechselten. Wie die Krise um die Schulvorlage zeigte, ließ sich die integrative Rolle, die sich Wilhelm für das deutsche Staatswesen erträumte, nicht mit täglichen Vorstößen in die Politik vereinbaren. Ein Kaiser, der an der Spitze der Nation stand, musste ein Kaiser sein, der über und deshalb zugleich außerhalb der Politik stand. Aber genau hierin lag die Krux: Außerhalb der Politik stehen, würde bedeuten, dass Wilhelm auf sein begehrtes Ziel verzichtete: die Ausübung persönlicher Macht.

Die Militärvorlage (1893)

Nach der überstandenen Krise um das Schulgesetz wandten Wilhelm und Caprivi sich der Aufgabe zu, den Entwurf für das neue Militärgesetz auszuarbeiten und durch den Reichstag zu bringen. Im Zuge der Vorbereitungen für den Gesetzentwurf ließ Wilhelm erkennen, dass er die eine oder andere Lektion aus dem Fiasko gelernt hatte: Während des Sommerurlaubs im Juli an der Ostsee sprach er mit Eulenburg über die Notwendigkeit, die öffentliche Meinung durch eine Pressekampagne zugunsten der erhöhten Militärausgaben auf die Gesetzesvorlage einzustimmen.47 Im selben Monat beauftragte Caprivi Major August Keim mit der Koordinierung der Propaganda für den Entwurf. Damit verabschiedete sich der Kanzler von seiner bislang so zurückhaltenden Öffentlichkeitsarbeit. Mit den Spendenaufrufen und Massenveranstaltungen, an denen sich Staatsdiener und national gesinnte Professoren beteiligten, nahm Keims Kampagne (zumindest dem Wesen, wenn auch nicht dem Ausmaß nach) die außerordentliche Agitation für eine Flotte Ende der neunziger Jahre vorweg.48 Das Haupthindernis für den Erfolg war immer noch das Zentrum. Gemäßigte Zentrumsabgeordnete erklärten schon früh ihre Unterstützung für den Gesetzentwurf, aber der Agrarflügel der Partei weigerte sich, seinen Widerstand aufzugeben. Einmal mehr gab die Aussicht auf Zugeständnisse in der Religionspolitik den Ausschlag dafür, dass sich die Partei geschlossen hinter den Entwurf stellte. Über die Art der Zugeständnisse wurde auf einem Treffen zwischen dem Kaiser und dem Erzbischof von Breslau Georg Kardinal von Kopp diskutiert, einem Mitglied der Gruppe »einsichtsvoller Katholiken«, mit denen Wilhelm »sich aussprechen konnte«, wie er selbst sagte.49
Selbst als diese Vorkehrungen getroffen waren, zog Wilhelm jedoch ernstlich die Möglichkeit in Betracht, dass sie nicht ausreichen würden, um die Verabschiedung der Vorlage zu garantieren. Bereits im Juli 1892 ließ er durchblicken, dass er notfalls »die Verantwortung [für die Angelegenheit] dem Volk feierlich überlassen«, sprich: den Reichstag auflösen werde.50 Im Januar 1893 versicherte Wilhelm den befehlshabenden Generälen der preußischen Armee sinngemäß: »Ich bringe die Vorlage durch, es koste, was es wolle, was weiß dieser Haufe [sic!] von Zivilisten von militärischen Dingen. Ich lasse auch nicht einen Mann und nicht eine Mark und jage den halbverrückten Reichstag zum Teufel, wenn er mir Opposition macht!«51 An dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass der Konflikt um das Militär im Grunde in der Reichsverfassung vorprogrammiert war. Die Verfassung hatte nämlich die Frage offen gelassen, welches Organ denn die Militärausgaben kontrollierte. Das Heer war, in der Theorie, zugleich eine königliche und eine parlamentarische Einrichtung. Die Verfassung legt einerseits in Artikel 63 fest, dass der Kaiser »den Präsenzstand, die Gliederung und Einteilung der Kontingente des Reichsheeres« bestimmt, andererseits heißt es aber in Artikel 60, dass »die Friedens-Präsenzstärke des Heeres im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt« wird.52 Nicht zuletzt wegen dieser »umgangenen Entscheidung« in dem gesetzlichen Rahmen des Reichs waren die Militärausgaben ein ständiger Konfliktpunkt zwischen der Exekutive und der Legislative. Von den vier Auflösungen des Reichstags, die im Kaiserreich verordnet wurden (1878, 1887, 1893, 1906), erfolgten drei aus Gründen, die mit den Militärausgaben zu tun hatten.53
Am Ende reichten weder die Unterstützung, die Keims Kampagne mobilisierte, noch die Machenschaften Wilhelms und Caprivis aus. Prompt wurde der Reichstag am 6. Mai 1893 aufgelöst. Die Auflösung hatte insofern Erfolg, als der neue Reichstag das Militärgesetz verabschiedete, der ganze Vorgang führte jedoch auch die Verwundbarkeit der Regierung vor Augen. Die Mehrheit des »Kartells« von vor 1890 wurde nicht wiederhergestellt, und das neue Parlament enthielt mehr sozialdemokratische Abgeordnete als das alte. Der Gesetzentwurf konnte nur in einer stark abgeänderten Version verabschiedet werden, die der Zentrumsabgeordnete Karl Freiherr von Huene vorgeschlagen hatte, und der Erfolg hing letztlich von den Stimmen einer disparaten Gruppe oppositioneller Splittergruppen ab: Polen, Elsässer, Hannoversche Welfen.
Die Auseinandersetzung um die Militärvorlage war ein wichtiger Meilenstein auf Wilhelms Weg zu einer kompromissloseren Haltung. Zwei Richtungen dominierten sein politisches Denken Mitte der neunziger Jahre: die Integration eines liberal-klerikalkonservativen Blocks durch eine Kampagne gegen den Feind auf der Linken (die Sozialdemokratie) und einen radikalen Bruch mit der Verfassung des deutschen Reichs, falls es der Regierung unmöglich werden sollte, unter den herrschenden Rahmenbedingungen zu arbeiten. Die beiden politischen Optionen werden im Folgenden näher betrachtet.

Das Scheitern der negativen Integration

Im Juli 1894 wies Wilhelm Caprivi an, Gesetze vorzubereiten, die dem Staat neue Mittel für die Unterdrückung der Sozialdemokratie verschaffen würden, etwa die Vollmacht, sozialdemokratische Agitatoren aufs Land zu verbannen. Diese Maßnahme ist in manchen Darstellungen als Abkehr von der arbeiterfreundlichen Sozialpolitik Anfang der neunziger Jahre und als Zeichen für die Unaufrichtigkeit des Engagements Wilhelms für sein eigenes Programm gewertet worden.54 Dabei standen drastische Maßnahmen gegen die Sozialdemokraten völlig im Einklang mit den eigentlichen Intentionen des Arbeiterprogramms, dessen Ziel es immer schon gewesen war, »gesunde« Elemente der Arbeiterklasse gegen sozialistische Ideen zu immunisieren.55 Die Wahlergebnisse von 1893 sowie neuerliche Streikwellen im Saarland und im Rheinland brachten Wilhelm zu der Überzeugung, dass die Politik der Versöhnung nicht funktionierte. Unter diesen Voraussetzungen hoffte er, dass sich die »staatstragenden« Kräfte der Mitte mit der Regierung gegen die Sozialdemokraten vereinen würden. Das Ergebnis war ein Rückgriff auf die repressiven Rezepte, die Bismarck schon anno 1889/90 vorgeschlagen hatte.
Wilhelms Wechsel zu einer harten Linie ist außerdem als Beispiel für einen neurotisch egoistischen Ansatz in der Politik angesehen worden, in dem zugelassen wurde, dass Gefühle der persönlichen Kränkung und des Verrats (in diesem Fall durch die deutschen Arbeiter) »rationalere« Überlegungen überwogen. 56 Dabei waren die politischen Maßnahmen, die europäische Regierungen gegen die wahrgenommene Gefahr von Links ergriffen, generell nicht von rein rationalen Überlegungen geprägt; übertriebene Ängste, religiöse Bedenken und eine panischen Angst vor anarchischen Zuständen spielten ebenfalls eine Rolle. In diesem Kontext waren Wilhelms Vorschläge nicht sonderlich ausgefallen. Nach einer Kette anarchistischer Bombenanschläge und Attentate auf dem ganzen Kontinent in den Jahren 1893/94 verabschiedeten auch andere Staaten, darunter die Schweiz und Frankreich, neue antisozialistische und antianarchistische Gesetze.
Es gab allen Grund zu der Annahme, dass sich solche Maßnahmen auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreuen würden. Die liberale und konservative Presse (selbst die Bismarckschen Hamburger Nachrichten) brachten ihre Begeisterung über das harte Durchgreifen gegen die Linke zum Ausdruck und nährten damit Wilhelms Zuversicht, dass ein antisozialistisches Gesetz den dringend benötigten Konsens im Reichstag und darüber hinaus schaffen würde. In einer Rede am 6. September 1894 vor den Abgeordneten der Provinz Ostpreußen in Königsberg kritisierte er scharf das von Junkern dominierte Publikum, weil sie sich in der Agrarpolitik gegen die Regierung gestellt hatten. Er forderte sie auf, sich ihm in dem »Kampfe für Religion, für Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes« anzuschließen.57 Wie Wilhelm anschließend vor Caprivi prahlte, wurde die Rede in der konservativen und liberalen Presse positiv aufgenommen; indem der Kaiser unmittelbar an den politischen Instinkt seines Volkes appellierte, hatte er jene Elemente »gewonnen«, die Caprivi mit seiner Politik nicht hatte integrieren können.58
Letztlich gelang es Wilhelm mit der Kampagne für ein Sozialistengesetz nicht, die gemäßigten Parteien zu sammeln, vielmehr untergrub er ernsthaft den Zusammenhalt der Regierung. Das Problem lag nicht zuletzt in dem Umstand, dass der Kanzler Leo von Caprivi und der reaktionäre preußische Ministerpräsident (seit 1892) Botho von Eulenburg völlig unterschiedliche Meinungen vertraten, wie ein solches Gesetz eingebracht werden müsse. Caprivi wollte eine abgeschwächte Version des Gesetzes durch den preußischen Landtag bringen, in dem Konservative und Rechtsliberale in einer guten Position waren. Botho von Eulenburg hingegen drängte auf eine Politik der Konfrontation mit dem Reichstag: Falls der Reichstag es ablehne, die sogenannte »Umsturzvorlage« zu verabschieden, solle der Kaiser wiederholt das Mittel der Auflösung einsetzen und schließlich ganz verfassungswidrig ein neues, undemokratischeres Wahlrecht auf Reichsebene einführen. Caprivi protestierte energisch gegen dieses Szenario und verwies darauf, dass die anderen deutschen Königreiche (Bayern, Sachsen, Württemberg) einen solchen Schritt gewiss nicht unterstützen würden. Stattdessen würden sie das daraus resultierende Chaos dazu nutzen, ihre eigene partikularistische Politik zu verfolgen. Das Ergebnis sei eine Schwächung und am Ende womöglich sogar Auflösung des Reichs.59 Er bestand darauf, dass die Regierung den Konflikt meiden und innerhalb des Rahmens der Verfassung handeln müsse.60
Die unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden Männern führte vor Augen, wie schädlich es gewesen war, nach der Schulgesetzkrise von 1892 die Ämter des preußischen und reichsdeutschen Regierungschefs in verschiedene Hände zu legen. Das dualistische (föderativ/einheitlich) Problem wurde nunmehr von zwei verschiedenen Persönlichkeiten personifiziert: dem konservativen Botho von Eulenburg, der für eine von Junkern dominierte, rechte preußische Wählerschaft sprach, und dem konservativen Reformer Caprivi, der einer labileren, nationalen Konstellation der Reichstagsparteien rechenschaftspflichtig war. Wilhelm musste sich notgedrungen entscheiden. Anfangs unterstützte er Caprivis Ansicht, ließ sich in der Folge jedoch von Eulenburg überreden, die kompromisslosere Linie einzuschlagen. Er akzeptierte, dass das Gesetz in der Form womöglich vom Reichstag nicht verabschiedet wurde, war aber bereit, die Möglichkeit eines Verfassungsbruchs ins Auge zu fassen; er erörterte sogar gemeinsam mit dem König von Sachsen Pläne für einen Staatsstreich – ein vielsagender Hinweis, dass er Bismarcks »Theorie« verinnerlicht hatte, dass die Verfassung von den deutschen Fürsten gemacht worden sei und folglich von ihnen auch wieder aufgehoben werden könne. Anfang September ging Wilhelm sogar so weit, Botho von Eulenburg mitzuteilen, dass er sich als der nächste deutsche Kanzler betrachten solle. Wilhelms wachsende Begeisterung für eine Politik der Konfrontation wurde von seiner unausgegorenen Überzeugung genährt, dass ein Schlag gegen das Parlament in irgendeiner Form seine Beziehung zu den politisch gesunden Elementen des »Volkes« wiederherstellen würde, indem der lästige Parteienstreit abgeschafft werde. Wilhelm teilte Caprivi im Oktober 1894 unmissverständlich mit: »Und der Kaiser, nicht der Beamte [also Kanzler], kenne die deutsche Volksseele und trage vor Gott die Verantwortlichkeit.«61
Bestürzt über Wilhelms Ablehnung seiner Politik und Missachtung seiner Ratschläge reichte Caprivi einmal mehr seinen Rücktritt ein.62 Es war ganz charakteristisch für Wilhelm, dass er nunmehr, nachdem er Caprivi an die Grenzen seiner Geduld getrieben und offenbar bereits Botho von Eulenburg als Nachfolger ausersehen hatte, wiederum einen Rückzieher machte. Er fuhr in einem Wagen mit weißen Pferden vor der Kanzlei vor, umarmte den erschöpften Kanzler und bat ihn bei einem gepflegten Glas Portwein und einer guten Zigarre eindringlich, im Amt zu bleiben. Wie dieses seltsame Verhalten deutlich zeigt, war Wilhelms Handlungsfreiheit eng begrenzt. Max Weber führt in einer klassischen Analyse des Parlaments und der Regierung in Deutschland aus, dass das empfindliche Gleichgewicht der Reichsverfassung völlig gestört würde, wenn »tatsächlich die konservative Parteiherrschaft mit der für innerpreußische Verhältnisse üblichen Rücksichtslosigkeit auch auf die Führung der Reichspolitik erstreckt würde«.63 Wilhelm mochte von einem Staatsstreich mit Botho von Eulenburg am Ruder träumen, aber die Realität war, wie er nur allzu gut wusste, dass der Kaiser sich in einer unmöglichen Lage befinden würde, wenn Caprivi seinen Posten für Eulenburg räumen würde. »Denn er würde«, warnte ihn einer seiner engsten Berater, »vor Deutschland als Tyrann gebrandmarkt, der Caprivi, den Mann des Gesetzes, fallen lässt, um Tyrannei zu üben.«64 Aber Botho von Eulenburg fallen zu lassen, während Caprivi im Amt blieb, wäre fast ebenso schädlich, denn Eulenburg war das Bindeglied der Regierung zur konservativen und weitgehend agrarischen Wählerschaft, die den preußischen Landtag dominierte. Da die beiden Männer im Amt überhaupt nicht miteinander auskamen, war Wilhelm letztlich gezwungen, am 26. Oktober die Rücktritte von beiden zu akzeptieren.
Die »Umsturzvorlage« wurde schließlich von Caprivis (und Eulenburgs) Nachfolger Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst im Dezember 1894 in den Reichstag eingebracht. Der frühere Plan, ein eigenes Sondergesetz einzubringen, wurde aufgegeben; der Entwurf schlug lediglich mehrere Ergänzungen zu geltenden Gesetzen vor. Dennoch wurden die Vorschläge heftig im Reichstag und in der Presse angegriffen. Anschließend wurden sie von einem Ausschuss überarbeitet, der versuchte, die Bestimmungen dem Zentrum schmackhaft zu machen, indem er ihnen eine religiöse Dimension verlieh: Zusätzlich zu den antisozialistischen Bestimmungen wurden neue Klauseln eingeführt, die das Stören der Gottesanbetung sowie die Aufwiegelung zu Ehebruch und Blasphemie strafbar machten. Diese Abänderungen enthüllten, wie hoffnungslos der Versuch war, eine dauerhafte Koalition um den Kampf gegen sozialdemokratische Agitation zu sammeln; zu viele Deutsche hatten andere, höhere Prioritäten. Die neue, »klerikalisierte« Vorlage wurde im Mai 1895 in den Reichstag eingebracht und wurde ohne viel Federlesens verworfen. Wilhelm war enttäuscht. Ohne Sozialistengesetz blieben der Regierung, vertraute er Hohenlohe düster an, »somit noch Feuerspritzen für gewöhnlich, und Kartätschen für die letzte Instanz übrig«.65 Wilhelms Hoffnung, dass ein integrierter Block staatstragender Parteien durch ein gemeinsames Vorgehen gegen die Linke geschaffen werden könne, hatte sich als Illusion entpuppt; die »negative Integration« war gescheitert.
 
In der ersten Hälfte der neunziger Jahre war durchweg eine Kluft zwischen Wilhelms sehnsüchtigen, absolutistischen Worten und der eingeschränkten Machtstellung wahrzunehmen, die er in Wirklichkeit bekleidete. Zu Beginn der Neunziger fing der Kaiser an, insbesondere auf dem Gebiet der Ernennungen seine Muskeln spielen zu lassen. 1890 berief er etwa ohne Rücksprache mit Caprivi einen neuen Bischof von Straßburg. Gelegentliche Einmischungen in die Besetzung diplomatischer Vertretungen im Jahr 1891 verärgerten das Auswärtige Amt. Im Jahr 1893 berief er Graf Arthur von Posadowsky-Wehner ins Schatzamt und überging Caprivis eigene Kandidatenliste für den Posten. Im Herbst 1894 unter Caprivis Nachfolger Chlodwig zu Hohenlohe verstärkte er die Intensität der Einmischungen, indem er eigene Kandidaten für das Landwirtschafts- und Justizministerium nominierte. Das Recht, Personen in die Regierung und auf Posten im Staatsdienst zu berufen (sowie die Entlassung anzuordnen), stand dem Monarchen gemäß der preußischen und der Reichsverfassung zu, und Historiker haben es zutreffend als das wohl wichtigste Instrument der monarchischen Macht innerhalb des deutschen Staatswesens bezeichnet.66
Jedoch war auch Wilhelms Freiheit, von diesem Recht Gebrauch zu machen, eingeschränkt. Wenn der Kanzler wirklich entschlossen auftrat und das Ministerium sich einig war, konnten seine Anweisungen widerrufen werden. So gelang es Caprivi 1890, die Ernennung des Generaldirektors der Firma Krupp Johann Friedrich Jencke zum einflussreichen Leiter des preußischen Finanzministeriums zu verhindern, weil er von den Ministern als Marionette der Schwerindustrie angesehen wurde. (Wilhelm hatte charakteristischerweise Jencke aus genau diesem Grund ausgewählt, um Industrielle, welche die Arbeitspolitik der Regierung ablehnten, zu versöhnen und dadurch das neutrale Image der Regierung zu wahren.) Als Wilhelm im November 1894 – wiederum als Trostpflaster für die Agrarier – einen rechten Hitzkopf für das Landwirtschaftsministerium vorschlug, endete die anschließende Auseinandersetzung mit Kanzler Hohenlohe mit der Kapitulation des Kaisers und der Berufung eines Kompromisskandidaten.
Weitere Rückschläge musste Wilhelm hinnehmen, als er selbstherrlich versuchte, sich in die Sphäre der Zivilgesellschaft einzumischen. Im Juli 1890 weigerte Wilhelm sich rundweg, die Wahl des Linksliberalen Max Forckenbeck zum Bürgermeister von Berlin zu bestätigen, weil Forckenbeck im Reichstag gegen die Erhöhung der Militärausgaben gestimmt hatte. Die Minister bestanden jedoch einmütig auf einer Bestätigung Forckenbecks, und Wilhelm musste klein beigeben. Im Fall Forckenbeck ging es nicht etwa nur um die Ministerialgewalt oder Solidarität, die Autonomie der Berliner Stadtverwaltung stand auf dem Spiel. Auf ähnliche Schwierigkeiten stieß Wilhelm, als er versuchte, einen jungen Physik-Dozenten an der Universität Berlin zu entlassen, weil er Sozialdemokrat war. Die Folge war ein Proteststurm zur Verteidigung der akademischen Freiheit seitens liberaler und konservativer Professoren. So autoritär sie in ihrer institutionellen Politik und so stramm antisozialistisch sie auch waren, ihr Streben nach Autonomie ihrer Universität war doch größer, als ihre Angst vor einer Unterwanderung durch Revolutionäre.67
Es trifft zu, dass eine Spaltung innerhalb der Reihen des Ministeriums den Einfluss des Monarchen auf die Entscheidungsfindung verstärkte. John Röhl hat nachgewiesen, dass die zunehmende Disziplinlosigkeit und Grabenkämpfe nach 1892 dem Monarchen mehr Möglichkeiten für eine Intervention verschafften, indem er Minister ermunterte, sich bei Streitigkeiten mit ihren Kollegen direkt an den Souverän zu wenden.68 Derartige Interventionen waren jedoch naturgemäß reaktiv, nicht kreativ; Zeitpunkt und Kontext wurden nicht vom Souverän diktiert, sondern von der hohen Politik der Rivalität unter Ministern. Und allem Anschein nach schob Wilhelm in der ersten Hälfte der neunziger Jahre noch nicht systematisch irgendwelche Pöstcheninhaber vor, um ein bestimmtes Programm durchzusetzen. Seine Vorlieben waren zu verschiedenartig und die Minister zu unabhängig, als dass eine konsequente Einflussnahme möglich gewesen wäre. Gewiss hatte Wilhelm die Macht (und auch die Neigung), in die Entscheidung bestimmter Fragen einzugreifen, indem er einem Minister gegen andere den Rücken stärkte, etwa als er den Kartell-Anteil im Ministerium gegen die konfessionelle Schulpolitik von Zedlitz-Trützschler unterstützte, oder als er Botho von Eulenburg bei der Umsturzvorlage gegen Caprivi beistand. Letzten Endes enthüllten derartige Abenteuer jedoch lediglich, dass jenseits des Ministeriums die noch beeindruckendere, weil öffentliche Barriere des Reichstags und seiner skeptischen Mehrheiten lag.

Die Freunde des Kaisers

Da Wilhelm sich mit einem so starken Widerstand seitens der »verantwortlichen« Minister konfrontiert und durch seine immer häufigeren Reisen und erratischen Arbeitsgewohnheiten vom Entscheidungsprozess abgeschnitten sah, holte er sich bei persönlichen Assistenten und Freunden Informationen, Rat und moralische Unterstützung. Im Jahr 1890 hatte vor allem eine Figur bereits maßgeblichen Einfluss auf Wilhelm: Graf Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, damals der preußische Gesandte in dem kleinen deutschen Bundesstaat Oldenburg. Die neunziger Jahre hindurch war er der Fixpunkt im Zentrum einer losen Koalition aus Persönlichkeiten, zu denen Friedrich von Holstein (Anfang der Neunziger), der Großherzog Friedrich von Baden und (Ende der Neunziger) der Diplomat und spätere Kanzler Bernhard von Bülow zählten. Es wurde häufig darauf hingewiesen, dass Höfe Orte sind, an denen Rang und Namen weniger wichtig sind als die Nähe zur Person des Monarchen.69 Aber Eulenburgs Nähe zum Kaiser war eher emotional als räumlich: Er wehrte sich sogar gegen Bemühungen, ihn durch die Verleihung eines Amtes bei Hofe auch physisch an die Seite des Monarchen zu stellen, und traf Wilhelm in der Regel nur im Urlaub nach längeren Intervallen. Die beiden Männer hatten sich im Mai 1886 bei einem Jagdausflug auf dem Gut eines gemeinsamen Freundes kennen gelernt; Eulenburg war damals 39 Jahre alt, Wilhelm 27.70 Von Anfang an zeichnete sich Eulenburg als ein »Freund« aus, dessen Kommunikation mit dem Monarchen sich auf höhere Dinge als die Politik konzentrierte (Musik, Literatur, das Okkulte) und durch keine Hintergedanken getrübt war. Einige Monate nach ihrer ersten Begegnung schrieb Wilhelm an Eulenburg:
 
Mein Instinkt pflegt mich, wenn ich mit Menschen zusammenkomme, bald zu überzeugen, wes Geistes Kind der Betroffene ist, mit dem ich verkehre, und [der Instinkt] hat mich selten betrogen. Bei Ihnen habe ich nicht lange gebraucht um zu sehen, dass Sie ein sympathischer, warm fühlender Charakter sind, wie man deren wenig in der Welt trifft und deren besonders die Fürsten so sehr bedürfen. Leider ist unsereins so oft dazu verdammt, nichts als Schmeicheleien oder Intrigen zu hören […] Übrigens habe ich mein Urteil seitens der Fürstin und des Fürsten Bismarck vollkommen bestätigt gefunden, was mich doppelt erfreute.71
 
Mit Blick auf den vertraulichen Ton ihrer (insbesondere jedoch Eulenburgs) Briefe und auf die bisexuelle Neigung Eulenburgs, die später mit katastrophalen Folgen in der Presse publik gemacht wurde, haben manche Historiker über die Möglichkeit einer sexuellen Beziehung zwischen dem Kaiser und seinem Freund spekuliert. Angesichts dessen, was wir sonst über Wilhelm wissen (seine Konventionalität in sexuellen Fragen; der sporadische Charakter des Kontaktes zu Eulenburg), erscheint dies jedoch äußerst unwahrscheinlich; und man braucht auch gar keine solche Beziehung zu unterstellen, um den Charakter der Verbindung oder ihre politische Bedeutung zu erklären. Eulenburg beherrschte ganz einfach meisterhaft die Kunst, Freundschaften zu knüpfen, und war ein überaus geschickter Höfling. Seine Briefe kombinierten findig das Frivole mit dem Politischen, Speichelleckerei und Liebesbekundungen mit zarter, aber ernster Kritik. Mit ihrer gekünstelten Informalität lenkten Eulenburgs Briefe fortwährend die Aufmerksamkeit auf die persönliche, unmittelbare Natur ihrer Beziehung: »Ich leide wirklich darunter, Ew. Majestät immer wieder mit diplomatischen Schnallenschuhen zu nahen, statt mit der Büchse im Arm oder mit einem Liederheft in der Hand.«72
Eulenburg erkannte instinktiv, wie er bis zu einem gewissen Grad gegen die Regeln verstoßen durfte, um die Intimität zwischen sich und dem Kaiser zu vertiefen. Ein charakteristischer Brief aus dem Februar 1894 enthielt Skizzen aus dem Leben am bayerischen Hof in der Faschingszeit: Ballgäste mit Bäuchen und schweißtriefenden Gesichtern, bei einer »Ehren-Française« »flogen die Busen« der älteren Damen, die Gräfin Oster-Sacken, deren »Unterlippe hing fast bis an die Broche [sic!] – die Ordenssterne klapperten, als trabten Kürassiere, und in langen Strähnen hingen die nassen Haare über die Stirne«.73 Ein anderer Brief schildert detailliert eine Militärparade in München, deren Verlauf durch die vergeblichen Bemühungen zweier Bullen, sich direkt vor den Kronprinzessinnen gegenseitig zu besteigen, gestört wurde. Diese Briefe sind Meisterstücke des kontrollierten Regelverstoßes: so unanständig, dass sie amüsieren, ohne zu verletzen, und gepfeffert mit einer Portion Frauenfeindlichkeit. Den Schreiber ebenso wie den Leser versetzten sie in einen privilegierten, geradezu konspirativen Raum, der über dem lächerlichen Gekasper und eitlen Getue der Höfe stand. Da ist es kein Wunder, dass Eulenburg einen Posten am Hof mit der Begründung ablehnte, seine Beziehung zum Kaiser könne besser über Briefe als über den täglichen, persönlichen Kontakt gepflegt werden.
In Wirklichkeit war Eulenburgs Zuneigung zum Kaiser, so aufrichtig sie war, nie völlig unbefleckt von dem Ehrgeiz gewesen, Einfluss zu nehmen. Bereits im August 1886 berichtete Eulenburg Herbert von Bismarck, dass er fünf Tage mit Prinz Wilhelm in München verbracht habe: »Ich habe, fußend auf das Vertrauen, das er mir schenkt, die Zeit dazu genutzt, um gegen seine englischen Antipathien zu kämpfen.«74 Eulenburg stand Wilhelm während des Machtkampfes gegen Bismarck mit Rat und Tat zur Seite; nach dem Sturz des Kanzlers entpuppte er sich, anfangs gemeinsam mit Holstein, später mit Bernhard von Bülow, als Drahtzieher hinter den Kulissen mit einem beispiellosen Einfluss, der dem Kaiser Informationen zukommen ließ, Kandidaten für hohe Ämter empfahl und den Monarchen durch politische Krisen steuerte. Eulenburg schlug seinen engen Freund Bernhard von Bülow zunächst für das Amt des Staatssekretärs der auswärtigen Angelegenheiten und später für das Kanzleramt vor. Wie wir noch sehen werden, war es außerdem Philipp Eulenburg, der Wilhelm in dem heftigen Streit mit seinen Ministern um die Reform der Militärjustiz 1895 leitete. Eulenburg war laut John Röhl kein Geringerer als der Architekt des »persönlichen Regiments im guten Sinn« durch den Kaiser nach 1897.75
Die Bedeutung dieser Ratschläge für den Souverän lässt sich nicht leugnen. Aber wir sollten uns vor Augen führen, dass die Beziehung zwischen Wilhelm und seinen Helfern hinter den Kulissen ein wichtiges Element der Abhängigkeit enthielt. Wie Carl Schmitt beobachtet hat, hat die Machtverteilung unter dem Souverän und seinem Berater stets zwei Seiten: Wer die Macht hat, braucht Ratschlag, und wer Rat erteilt, hat zugleich Teil an der Macht.76 Die politische Arbeit Eulenburgs und seiner Mitarbeiter ist hierfür ein Musterbeispiel, weil sie die Initiativen des Kaisers ebenso häufig lenkten und zügelten, wie sie diese forcierten.77 Im September 1890 beispielsweise überredete Eulenburg den vor Wut schäumenden Wilhelm, bei der Wahl Max Forckenbecks zum Bürgermeister von Berlin nachzugeben. Hier und da musste Eulenburg den Kaiser auch wegen seines taktlosen Auftretens in der Öffentlichkeit tadeln – eine Aufgabe, der er sich mit erstaunlicher Begeisterung und Offenheit widmete. Von Fall zu Fall konnte sich die Beziehung zu Eulenburg auch dahingehend auswirken, dass die Handlungsfreiheit des Monarchen eingeschränkt wurde, indem seine Optionen, ohne sein Wissen, fingiert wurden. Im Herbst 1892 unterstützten zum Beispiel Holstein auf der einen Seite und Wilhelm und Caprivi auf der anderen verschiedene Kandidaten für den Botschafterposten in St. Petersburg. Es wurde eine komplexe Intrige gesponnen, um dem Monarchen die Initiative aus der Hand zu nehmen: Holstein bat Eulenburg, den russischen Botschafter in München zu ersuchen, dass er doch den Zaren bitten möge, gegenüber Caprivi eine Vorliebe für General Bernhard von Werder, also Holsteins Kandidat, zu äußern. Gleichzeitig überzeugte Eulenburg Wilhelm, dass eine Ablehnung des Wunsches des Zaren einer Beleidigung gleichkäme. Dieses außergewöhnliche Manöver hatte Erfolg. Eine ähnlich weitverzweigte Intrige musste 1893 angezettelt werden, um Wilhelm davon abzubringen, den Botschafterposten in Rom einem seiner von ihm geschätztesten Militärattachés anzuvertrauen. Wilhelms Beziehung zu dem kleinen Freundeskreis hatte folglich einen typisch zweischneidigen Charakter: Ermächtigung und Unterstützung gingen einher mit Einschränkung und Lenkung des Souveräns.

Kaiser gegen Minister: die Köller-Krise

In Wilhelms Augen hatte das Grundproblem der Kanzlerschaft Caprivis in dem unbeugsamen Charakter des Kanzlers gelegen. In seinen vier Amtsjahren reichte Caprivi nicht weniger als fünf Mal seinen Rücktritt ein, »so oft der Kaiser etwas Entscheidendes gewollt« hatte.78 Mit der Berufung des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst auf dessen Platz war die Hoffnung verbunden, eine völlig andere Beziehung zwischen dem Souverän und dessen erstem Minister einzuleiten. Wie John Röhl ausgeführt hat, war es wegen Hohenlohes fortgeschrittenen Alters (75 Jahre), seiner versöhnlichen Art, der Abhängigkeit von diskreter finanzieller Unterstützung durch den Kaiser und wegen der engen Blutsbande zur königlichen Familie (Wilhelm sprach ihn mit »Onkel« an) unwahrscheinlich, dass dieser eine so distanzierte, die Konfrontation suchende Haltung wie Caprivi als Kanzler einnehmen würde.79 In einem Brief an Philipp Eulenburg brachte Wilhelm seine Zufriedenheit zum Ausdruck: »Ich bin so glücklich mit dem alten Hohenlohe, alles geht so schön und bequem; sowie einer von uns was will, wird gleich ein kleiner Noten- oder Worteaustausch gemacht, so dass nichts hinter den Kulissen geschehen kann! Dass ich mich wie im Paradiese fühle.«80
Einmal mehr sollte die anfangs harmonische Stimmung jedoch nicht lange Bestand haben. Nur wenige Monate nach der Berufung geriet Wilhelm in einen heftigen Streit mit der neuen Regierung. Der Grund dafür lag diesmal weniger in der Persönlichkeit des Kanzlers als im wachsenden Unmut des Ministeriums. Die Minister hatten zwei Hauptbeschwerden: Erstens hatten sie das Gefühl, dass sie durch Kräfte umgangen würden, die dem Thron näher standen. Wilhelm machte beispielsweise kein Hehl daraus, dass er den Rat Wilhelm von Hahnkes, seines Chefs des Militärkabinetts, dem Rat des preußischen Kriegsministers Walter Bronsart von Schellendorf vorzog. Im Gegensatz zu seinem »unverantwortlichen« Kollegen musste Letzterer im Parlament für die Regierungspolitik Rede und Antwort stehen. Zweitens meinten die Minister, Wilhelms offen ablehnende Haltung gegenüber dem Zentrum beeinträchtige ihre Effektivität im Parlament. Mehrere Minister, allen voran der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein, und Bronsart, vertraten die Ansicht, dass eine konstruktivere Beziehung zwischen Regierung und Parlament nur dann zustande komme, wenn durch die Erfüllung der legitimen Anliegen der katholischen Kirche ein »vollkommener Zustand von Friede und Eintracht« mit ihr erreicht werde.81 Aber Wilhelm blieb – bestärkt von Elementen in seinem Gefolge – weiterhin bei seiner Meinung, dass alle Zugeständnisse an die Katholiken Unruhe unter den gebildeten Schichten der Nation schaffen würden. Er vereitelte außerdem eine Annäherung, indem er die Atmosphäre mit öffentlichen Äußerungen und Auftritten vergiftete, die darauf abzielten, die Führung des Zentrums abzuschrecken. »Die Stellung der Minister sei ganz unmöglich«, beklagte sich Bronsart im Februar 1895, »man mühe sich mit dem Parlament ab, tue was man könne, um etwas zustande zu bringen, und dann zerstören anonyme Ratgeber wieder alles; so könnten die Dinge nicht weitergehen.«82
Im Frühjahr und Sommer 1895 trug ein heftiger Streit um die vorgeschlagenen Reformen des preußischen Militärstrafgesetzes dazu bei, den Unmut der Minister gegen den Monarchen zu bündeln. Der umstrittenste Aspekt der vorgeschlagenen Reform betraf die Zulassung der Öffentlichkeit zu Kriegsgerichten. In Frankreich, Italien, Großbritannien und sogar in Russland waren nach den geltenden Bestimmungen zumindest in manchen Prozessen öffentliche Anhörungen vorgesehen. Dasselbe galt für Bayern seit 1869. Der Reichstag hatte 1889 und 1892 Anträge verabschiedet, die eine Reform auf diesem Feld forderten. Doch die preußische Militärjustiz hielt sich immer noch an den antiquierten Codex von 1845 und ließ unter keinen Umständen öffentliche Anhörungen zu. Die Prozesse wurden im Geheimen abgehalten, die Richter waren ausnahmslos Offiziere, und ein Verteidiger wurde dem Angeklagten häufig verwehrt. Die Einleitung und oft auch der Ausgang des Verfahrens hingen von der Laune des Standortkommandanten ab. Eine Reform war längst überfällig und wurde von Bronsart und Hohenlohe energisch befürwortet. 83
Wilhelms unnachgiebige Weigerung, derartige Reformen zu billigen, löste die wohl ernsteste politische Krise der neunziger Jahre aus. Seine Unnachgiebigkeit war zum großen Teil auf den Einfluss der militärischen Entourage zurückzuführen, die sich im Laufe der Krise – in einzigartiger Weise – als eigener politischer Faktor entpuppte. Wie alle seine Vorgänger im 19. Jahrhundert war auch Wilhelm von unzähligen Militärs umgeben: Flügeladjutanten, Generaladjutanten, Generäle und Mitglieder des Militär- und des Marinekabinetts. Dieses uniformierte Gefolge war ein relativ loses und disparates Gremium. Wie Isabell Hull jedoch in ihrem Standardwerk über die Entourage Wilhelms nachweist, bewirkte die drohende Reform der Militärjustiz eine noch nie da gewesene politische Mobilisierung. Der Chef des Militärkabinetts Wilhelm von Hahnke organisierte eine eindrucksvolle Kampagne gegen die Vorschläge Bronsarts, in der das ganze Gefolge, bis hin zum unscheinbarsten Flügeladjutanten, geschlossen gegen das Ministerium auftrat. Tatsächlich taten sie dies mit einer Einmütigkeit und Zielstrebigkeit, von der sich Wilhelm allem Anschein nach beeinflussen ließ. Anfangs war er mit Sicherheit gegen den Gesetzentwurf, vor allem weil er Klauseln enthielt, die sein Recht, Gerichtsurteile zu bestätigen oder zu verwerfen, abschwächen sollten, aber es spricht manches dafür, dass er 1895 mehrmals versuchte, sich aus dem Engagement für geheime Gerichtsverfahren herauszuwinden. Allerdings wurde er durch den Druck der Lobbygruppe, die innerhalb des Gefolges agitierte, immer daran gehindert. Der Großherzog von Baden meinte dazu: »Ich darf dabei nicht unerwähnt lassen, dass der Reichskanzler einen sehr maßgebenden Einfluss in militärischen Dingen als von Generaladjutant von Hahnke ausgehend bezeichnet und dabei fürchtet, daß der Kaiser bei Besprechung solcher Fragen vor seiner Umgebung sich in manchen entscheidenden Punkten gebunden fühlt. In solcher Lage ist es doppelt schwierig, die gefassten Entschlüsse zu modifizieren.«84 Auch hier begegnen wir der Dialektik der Ermächtigung und Einschränkung, die für Wilhelms Erfahrung mit dem souveränen Amt so charakteristisch war.
Im ganzen Frühjahr und Sommer 1895 sah sich Wilhelm mit einem Ministerium konfrontiert, das sich weigerte, die Reformvorschläge auf die lange Bank zu schieben. Dieses Patt leitete die »Köller-Krise« vom Herbst 1895 ein, die einige Historiker als Wendepunkt in Wilhelms Herrschaft bezeichnet haben. Im Grunde brach die Krise aus, als deutlich wurde, dass jemand Details vertraulicher Ministergespräche zur Militärstrafrechtsreform dem Kaiser und Mitgliedern seines militärischen Gefolges hinterbracht hatte. Der Verdacht fiel sofort auf den erzkonservativen Innenminister Ernst Matthias von Köller. Seit seiner Ernennung im Herbst 1894 war Köller als Mann des Kaisers im Ministerium angesehen worden und hatte eine Reihe der weltfremden, persönlichen Anliegen Wilhelms energisch verfochten, etwa einen Vorschlag, despektierliche Äußerungen über die Person Wilhelms I. unter Strafe zu stellen. Mit seiner begeisterten Unterstützung für derartige Initiativen hatte sich Köller unter den Ministern überaus unbeliebt gemacht. Entsprechend groß war die Empörung, als die Nachforschungen ergaben, dass Köller in seinem Eifer, die Reform zu vereiteln und die Autonomie des Throns zu erhalten, Informationen über seine Kollegen weitergegeben hatte. Nach kurzem Zögern wurde Kanzler Hohenlohe überredet, im Namen des ganzen Ministeriums förmlich das Gesuch zu überreichen, dass der Kaiser Köller entlasse. Wilhelm lehnte das schroff ab mit der Begründung, dieses Gesuch stelle einen Eingriff in die königlichen Prärogative dar. Er »erklärte bestimmt und in wenig verbindlicher Form, dass er Köller nicht entlassen werde«, notierte Hohenlohe am 28. November 1895 in sein Journal.85
Erstaunlicherweise blieben die Minister aber bei ihrer Forderung und drängten den Kaiser, nachdem sie Köller selbst zum Rücktritt hatten bewegen können, dessen Rücktritt auch zu akzeptieren. Zu allem Übel lehnten sie anschließend alle Kandidaten ab, die Wilhelm als mögliche Nachfolger favorisierte. Dieser Frontalangriff auf die Handlungsfreiheit des Monarchen auf einem Feld – nämlich dem der Ernennungen -, das für die Machtausübung so entscheidend war, erschütterte und empörte Wilhelm. Er schrieb seinem Kabinettssekretär Hermann von Lucanus:
Eine zweimalige Mitteilung meinerseits, dass mein Vertrauen zu K[öller] nicht erschüttert und somit für mich kein Grund lag, denselben zu entlassen, ist vom Staatsministerium einfach übergangen und durch einen Boykott des K[öller] mit Dilemma der Entlassung desselben oder aller für mich beantwortet worden. Der Fall ist in der preußischen Geschichte unerhört. Geht er ungerügt durch, ist damit ein sehr gefährliches Präzedenz geschaffen, indem jeder beliebige Minister, obgleich von mir angestellt, durch Staatsministerialintrigue […] an die Luft gesetzt werden kann.86
 
Kurzfristig erschien die »Köller-Krise« als ein Sieg für das Prinzip der kollegialen Regierung über den launischen Interventionismus Wilhelms II. Doch der Sieg hatte nicht lange Bestand. Langfristig war das Ministerium viel zu uneinig, um solidarisch den Einmischungen des Monarchen entgegenzutreten. Sein Zusammenhalt wurde nicht nur von auseinandergehenden Meinungen zur Politik untergraben, sondern auch von den politischen Ambitionen einzelner Minister wie Miquel und Posadowsky, die auch nach 1895 wie schon zuvor die Gunst des Kaisers für ihre eigenen Projekte und Karrieren ausnutzten. Ein weiterer, struktureller Grund für die Fügsamkeit der Minister lag in ihrer besonderen Stellung zwischen Parlament und Exekutive. Auf wen konnten die Minister sich denn stützen, wenn nicht auf den Monarchen? »Ohne Autorität ist keine Regierung möglich«, stellte Hohenlohe später treffend fest. »[…] Ich kann nicht gleichzeitig gegen die öffentliche Meinung und gegen den Kaiser regieren. Gegen den Kaiser und die Öffentlichkeit regieren heißt in der Luft schweben. Das geht nicht.«87 Gerade weil das politische Spektrum so zersplittert war und weil die Minister eben nicht, wie etwa im damaligen Großbritannien, durch die Parteimitgliedschaft eine parlamentarische Mehrheit hinter sich wussten, waren sie desto stärker auf die Exekutive angewiesen, sprich: auf die persönliche Gunst des Monarchen. Im Frühjahr 1896 war der Aufstand der Minister zusammengebrochen, und die Krise war vorüber.
Nach den Rückschlägen in der Affäre um Köller arbeiteten Wilhelm und Philipp Eulenburg an einer geheimen Strategie zur Wiederherstellung der Autorität der Monarchie. In einer außerordentlichen Denkschrift vom August 1896 erörterte Eulenburg eine ganze Palette von Optionen, zu denen selbst ein Staatsstreich zählte, wählte seine Argumente aber sorgfältig so, dass er den Kaiser zu einem verfassungsmäßigen Kurs drängte.88 Sein Ziel war es, die Stellung des Monarchen zu stärken, indem er offene Konfrontationen mied und eine harmonischere und hierarchisch gegliederte Beziehung innerhalb des Ministeriums schuf. Der Schlüssel zu dieser Strategie sollte die Ablösung des eigenwilligen Außensekretärs Marschall – zu einem geeigneten Zeitpunkt – durch Eulenburgs engen Freund Bernhard von Bülow sein, damals deutscher Botschafter in Rom. Nach einer angemessenen Wartezeit wäre es anschließend möglich, den betagten Hohenlohe in den Ruhestand zu entlassen und Bülow zum Kanzler zu ernennen.
Dieser Plan wurde schon bald in die Tat umgesetzt. Im Jahr 1896/97 leitete Wilhelm eine umfassende Säuberung des Ministeriums ein. Der Handelsminister Hans Hermann Freiherr von Berlepsch, der einst Wilhelms Arbeiterreformen unterstützt hatte, aber in jüngster Zeit in Ungnade gefallen war, wurde 1896 ebenso entlassen wie der Kriegsminister Bronsart. Die Ernennung Bülows zum Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten folgte im Oktober 1897. Ferner gab es – von Wilhelm selbst vorgeschlagene – Neubesetzungen des Reichsamtes des Inneren und des Reichspostamtes. Eine weitere Ernennung, deren epochale Bedeutung erst später deutlich werden sollte, war die Berufung des Admirals Alfred von Tirpitz zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes. Hohenlohe blieb bis 1900 Kanzler, aber er war ausgebrannt. Bülow drängte sich nach und nach zwischen Kaiser und ersten Minister und usurpierte Hohenlohes Zuständigkeitsbereiche. 89

1897-1900: Wilhelm am Steuer?

Nachdem Hohenlohe als politische Kraft mehr oder weniger ausgeschaltet war, die Minister untereinander zerstritten waren und die »Männer des Kaisers« viele Schlüsselbehörden kontrollierten, schienen die Haupthindernisse für Wilhelms Dominanz innerhalb der Exekutive aus dem Weg geräumt. Eine Veränderung im Kräftegleichgewicht zwischen dem Monarchen und dem Ministerium war bereits deutlich zu spüren: Der Kronrat (Sitzungen des preußischen Ministeriums in Anwesenheit des Monarchen) tagte immer häufiger. Die Minister wurden nicht im eigentlichen Sinn »zu Rate gezogen«, sondern hörten zu, während sich Wilhelm über Themen ausließ, die für ihn von Interesse waren, und Befehle und Vorschläge von sich gab, welche sich die Minister pflichtgetreu notierten.90
Ein weiteres Indiz dafür, dass Wilhelm seine eigene Rolle immer weiter ausdehnte, war die verstärkte Bereitschaft, sich und die Regierung öffentlich auf einen bestimmten Kurs festzulegen. Am 6. September 1898 kündigte Wilhelm während der Manöver in Westfalen, vermutlich unter dem Einfluss der Hardliner in seinem militärischen Umfeld, einen Gesetzentwurf »zum Schutz der Arbeitswilligen« an. Das Gesetz sollte Männer und Frauen rechtlich schützen, die während eines Streiks weiter zur Arbeit gingen. In seinem charakteristischen Überschwang erklärte Wilhelm, dass jeder, »der einen deutschen Arbeiter, der willig ist, seine Arbeit zu vollführen, daran zu hindern sucht, oder gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll«. Diese unglückliche Formulierung wurde prompt von der Presse übernommen, und der Gesetzentwurf zum »Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses«, dessen erste Fassungen Wilhelm eigenhändig redigiert hatte, wurde unter der Bezeichnung »Zuchthausvorlage« bekannt. Zu den persönlichen Initiativen Wilhelms zählte auch eine Gesetzesvorlage, die den Bau eines Kanals anregte. Die industriellen Provinzen Preußens im Westen sollten durch den Kanal mit dem agrarischen Osten verbunden und so die Verschiffung von Waren von der Oder bis zum Rhein ermöglicht werden. Die »Kanalvorlage« beherrschte die preußische Politik im Sommer 1899 und wurde von Wilhelm leidenschaftlich verteidigt, weil sie in mehrfacher Hinsicht mit seiner eigenen Auffassung von der Mission des Monarchen als dem herausragendsten Vermittler zwischen den wirtschaftlichen, kulturellen und provinziellen Interessen (in diesem Fall des katholischen, industriellen Westens und des protestantischen, agrarischen Ostens) im Einklang stand, welche die Einheit und den Zusammenhalt des deutschen Staates bedrohten.91 Auf diese Weise wurde das »persönliche Regiment« – hier im Sinne eines Regierungsprogramms, nicht einer vollendeten Tatsache – zum »Bestandteil einer sich ändernden Verfassungswirklichkeit«, wie Volker Ullrich schreibt.92
John Röhl wies in einer Untersuchung aus dem Jahr 1967 darauf hin, dass die Neubesetzung von Ministerposten 1896/97 eine neue Phase in der Herrschaft Wilhelms einleitete, die von dem »persönlichen Regiment« des Monarchen gekennzeichnet sei: »Nicht 1890, sondern erst 1897 war das entscheidende Jahr für Wilhelms II. Regierung. Jetzt hatte er sein Ziel erreicht, er bestimmte die deutsche Politik, ohne sich in die Pläne der Ressortchefs einschalten zu müssen.« In neueren Untersuchungen beschrieb Röhl den »Durchbruch« des Kaisers im Sommer 1897 »zur vollen Entscheidungsgewalt«. Danach habe Wilhelm II., so Röhl, über eine »uneingeschränkte Entscheidungsgewalt« verfügt. 93 Es trifft zwar sicherlich zu, dass Wilhelm sich nach 1897 häufiger und mit mehr Zuversicht in die Politik einmischte und dass es dem Ministerium schwerer fiel, sich seinen Initiativen zu widersetzen, als noch Anfang und Mitte der neunziger Jahre, aber es wäre ein Fehler, das Jahr 1897 als einen grundlegenden Bruch in der Regierungsform des deutschen Systems anzusehen. Die Minister beschwerten sich zwar, dass sie von einem Monarchen übergangen würden, der den Rat seiner Kabinettchefs und unverantwortlichen Berater vorzog, aber darüber hatten sie sich schon Anfang der neunziger Jahre beschwert.
In Wirklichkeit hatte sich kaum etwas geändert.94 Gesetzesvorlagen mussten immer noch in Verhandlungen mit den Ministern ausdiskutiert werden; sie konnten wie die »Zuchthausvorlage« ohne vorherige Rücksprache angekündigt werden, aber sie konnten ohne umfassende Einbindung der Minister nicht ins Parlament eingebracht werden. Immerhin war es ihre Aufgabe, die neuen Vorlagen vor der Legislative zu verteidigen. Überdies wäre es ein Irrtum, die von Wilhelm Ende der neunziger Jahre befürworteten Gesetzesvorlagen in einem krassen Gegensatz zu den Prioritäten der Minister zu sehen. Die Kanalvorlage von 1899 wurde – laut Bülow95 – im preußischen Ministerium erörtert, bevor sie vom Kaiser aufgegriffen wurde. Der provokativen »Zuchthausvorlage« von 1898 wurden in den langwierigen Verhandlungen mit den Ministern die spitzesten Zähne gezogen. Darüber hinaus gelang es den Ministern, Wilhelms radikalere Versuche, das Ministerium seiner persönlichen Kontrolle zu unterstellen, zu vereiteln. Dazu zählte etwa der durchsichtige Vorschlag, ein Mitglied seines Zivilkabinetts zum Chef des Ministerialbüros zu ernennen – ein Sekretärsposten, von dem aus es möglich gewesen wäre, den Monarchen über den Verlauf der Diskussionen zu informieren.96
Jedenfalls bedeutete ein Sieg des Kaisers über widerspenstige Minister – und das ist vielleicht das Entscheidende – nicht unbedingt einen Sieg für die Positionen, die er persönlich vertreten hatte. Das zeigt sich etwa an der Lösung der Diskussion um das Militärstrafrecht. Auch nach der personellen Umbesetzung bekundete Wilhelm ein volles Jahr lang lautstark seinen erbitterten Widerstand gegen die Reformvorlage; dennoch enthielt das Gesetz, das im Dezember 1898 verabschiedet und unterzeichnet wurde, wichtige Zugeständnisse zum liberalen Standpunkt bezüglich der Öffentlichkeit der Kriegsgerichte.97 Tatsächlich sah sich Wilhelm mit einem System konzentrischer Beschränkungen konfrontiert. Selbst wenn er einen betagten Kanzler lähmen und demoralisieren konnte (was ihm bei Hohenlohe bis Ende 1898 weitgehend gelungen war), hatte er es noch mit den Ministern zu tun. Und selbst wenn er die Minister dazu bringen konnte, wider besseres Wissen seine Initiativen zu unterstützen (was ihm zwischen 1897 und 1900 in manchen Fällen, aber gewiss nicht immer gelang), so kam danach noch die lästige Legislative, ganz zu schweigen von der öffentlichen Meinung, deren Bedeutung für ihn kaum hoch genug veranschlagt werden kann. Die »Zuchthausvorlage« nahm im November 1899 in den Reichstagsdebatten ein böses Ende. Mit besonderer Häme wurden die drakonischen Strafen überschüttet, die gemäß Paragraf 8 der Vorlage vorgesehen waren; der voller Eifer von Wilhelm verfasste und gegen den energischen Protest der Minister auf sein Beharren hin beibehaltene Paragraf 8 wurde vom Reichstag in dem ersten und einzigen, einstimmigen Votum seiner Geschichte abgelehnt.98
Ein ebenso erniedrigendes, wenn auch in die Länge gezogenes Schicksal erwartete die »Kanalvorlage«. Der Agrarflügel der konservativen Partei und seine Schwesterorganisation, der außergewöhnlich erfolgreiche Bund der Landwirte, sahen in dem geplanten Kanalsystem eine Innovation, welche den gebeutelten Agrarsektor der Konkurrenz billigen Getreides aus dem Ausland aussetzen und zudem Arbeitskräfte aus den ostelbischen Gütern in die Industriezentren der westlichen Provinzen abziehen würde. Am 16. August 1899 wurde die Vorlage in der zweiten Lesung von einer deutlichen Mehrheit des preußischen Landtags abgelehnt (275:134 Stimmen).99 Dieses Scheitern war nicht allein auf die tatkräftige Kampagne der Konservativen zurückzuführen, sondern auch auf die Weigerung der Minister, den umstrittenen Zugeständnissen zuzustimmen, die notwendig gewesen wären, um die Konservativen mit dem Kanalprojekt zu versöhnen100 – ein Beweis dafür, dass die größere Unabhängigkeit der Minister, die auf die Entmachtung Hohenlohes zurückzuführen war, einer erfolgreichen Umsetzung der kaiserlichen Initiativen auch im Wege stehen konnte. Wilhelm hatte sich mehrfach öffentlich für das Projekt ausgesprochen und verfolgte aufmerksam die täglichen Presseberichte über die parlamentarische Debatte. Das war ein Thema, das seinem Anspruch an eine technokratische Herrschaftsform gerecht wurde, die eigentlich imstande sein müsste, den Parteienstreit der Politik zu überwinden. Das Scheitern erschütterte ihn so sehr, dass seine Frau sich veranlasst sah, Bülow um seinen Beistand zu bitten:
 
In meiner Angst komme ich zu Ihnen. Gestern Abend musste ich den Kaiser in großer Aufregung und Betrübnis leider abreisen lassen, nach Metz und Saint-Privat. Diese unglückselige Kanalvorlage! Wenn Sonnabend [dem Tag der dritten und letzten Lesung] auch eine ungünstige Entscheidung fällt, weiß ich nicht, was passiert. Ach, könnten Sie dem Kaiser nicht einen etwas beruhigenden Brief schreiben? Es ist wirklich nötig! […] Ach, es ist ein schlimmer Sommer gewesen! Gott helfe weiter.101
 
Wilhelm hätte theoretisch, nachdem die Vorlage auch bei der dritten Lesung durchfiel, den Landtag auflösen können. Aber selbst diese letzte Waffe im Arsenal des deutschen Monarchen hätte ihm nicht zum Erfolg verholfen, weil die einzige Folge ein mit Sicherheit deutlich liberalerer Landtag gewesen wäre.102 Also wandte sich Wilhelm stattdessen gegen jene konservativen Verwaltungsbeamten (die »Kanalrebellen«), die sich in ihrer Funktion als Abgeordnete geweigert hatten, die Regierung bei dem Gesetzentwurf zu unterstützen. Mit seinen weitreichenden disziplinarischen Befugnissen, welche ihm nach der preußischen Verfassung zustanden, stellte er eine Reihe kompromittierter Beamter »zur Disposition« (d. h. sie waren ihres Amtes enthoben, ohne sie aus dem Staatsdienst zu entlassen). Eine derartige kollektive Strafmaßnahme gegenüber Verwaltungsbeamten hatte es in der preußischen Geschichte noch nie gegeben.103 Der Widerstand der Konservativen gegen den Kanal wurde dadurch nicht gebrochen, und die Maßnahmen stießen auf allgemeine, empörte Ablehnung. So gut wie alle Parteien waren sich einig, dass der Monarch zwar befugt war, Staatsdiener ohne Angabe eines Grundes zu entlassen (Art. 87, Absatz 2), dass die Strafentlassung insbesondere dieser Staatsdiener jedoch verfassungswidrig sei, weil sie die parlamentarische Immunität verletze, die von der preußischen Verfassung garantiert sei (Art. 84, Absatz 1). Die Kanalvorlage scheiterte auch im Mai 1901 in einer abgeänderten Fassung; und die »Kanalvorlage«, die im Jahr 1904 schließlich in Kraft trat, war lediglich ein Abklatsch des ursprünglichen Projekts, weil sich der geplante Kanal nur vom Rhein über Dortmund bis nach Hannover erstreckte. Die vom Souverän so leidenschaftlich verfochtene, große Idee eines Wasserwegs, der die geographischen und kulturellen Pole des Reiches miteinander verband, musste ein für alle Mal aufgegeben werden.104

Schlussfolgerung: Macht und Zwänge

Wilhelms Auseinandersetzungen mit den Ministerien unter Caprivi und Hohenlohe sowie seine gescheiterten Initiativen Ende der neunziger Jahre warfen ein Schlaglicht auf einige externe Zwänge, durch die der Monarch gebunden war. Die Errichtung eines »populären Absolutismus«, wie er Wilhelm vorschwebte, ließ sich schlichtweg nicht mit den komplexen und dynamischen Strukturen des deutschen Staatswesens vereinbaren. In diesem Sinne blieb das »persönliche Regiment« zwar ein lästiges Ärgernis für die Minister und ein Faktor bei Entscheidungsprozessen, aber dennoch, in Hans-Ulrich Wehlers Worten, ein »systemwidriges Experiment«.105 Die Vorstöße Anfang und Mitte der neunziger Jahre deckten zugleich die Grenzen der eigenen Fähigkeit Wilhelms auf, seine Macht wirksam einzusetzen. Wilhelm war geradezu peinlich indiskret – ein verhängnisvoller Fehler in einem politischen System, in dem der Erfolg von Gesetzesinitiativen häufig von der sorgfältig dosierten Preisgabe von Informationen abhing. Seine extreme Abwehrhaltung und Grobheit, wenn er das Gefühl hatte, seine Autorität sei bedroht, standen einer kooperativen Beziehung mit allen Staatsdienern mit Ausnahme der geschicktesten Untergebenen im Wege. Es mangelte ihm an Objektivität, wie Bernhard von Bülow, gewiss nicht der schärfste Kritiker Wilhelms, in einem Brief an Eulenburg treffend bemerkte: »Es ist ein Unglück, dass der geliebte, hochbegabte Kaiser so leicht übertreibt, Seinem Temperament und bisweilen seiner Phantasie zu sehr die Zügel schießen lässt.«106
Wilhelm erfasste rasch den Inhalt der Berichte, insbesondere wenn sie knapp und geistreich vorgetragen wurden, aber er war nie wirklich ein »zupackender« Monarch, der sich diszipliniert und systematisch mit den Staatsangelegenheiten auseinandersetzte. Die alltäglichen Routinegeschäfte wurden von den ständigen Reisen gestört: Wilhelm verbrachte weniger als die Hälfte seiner Herrschaft in Berlin und Potsdam.107 Bereits im Jahr 1889 vermerkte General Waldersee: »die vielen Reisen, die rastlose Tätigkeit, die zahlreichen und verschiedenartigen Interessen haben zur natürlichen Folge einen Mangel an Gründlichkeit«; es gab weder eine feste Ordnung in der Erledigung der Angelegenheiten noch einen Zeitplan, in dem bestimmte Stunden des Tages besonderen Aufgaben vorbehalten waren.108 Wilhelms Abneigung – oder Unfähigkeit -, sich allgemein über die Entwicklung der Politik zu informieren, hatten zur Folge, dass seine Interventionen häufig nichts mit dem allgemeinen Trend der Politik zu tun hatten. Deshalb erschienen die Initiativen auch bizarr und selbst dann fehl am Platze, wenn ihr Inhalt eher unscheinbar war. Im Sommer 1893 wies Friedrich von Holstein darauf hin, dass die öffentliche Meinung dem Kaiser eine beunruhigende Kombination aus»Reisewut, Arbeitsscheu, Frivolität« vorwarf. Er mahnte, allgemein werde ein starker Kanzler gewünscht, der »die Launen« des Kaisers zu bändigen vermag.109
Diese Mängel waren zum Teil darauf zurückzuführen, dass es Wilhelm völlig an Beständigkeit und Selbstdisziplin fehlte, zum Teil aber auch auf die Notwendigkeit, die Fassung wiederzugewinnen, indem er sich von Zeit zu Zeit von der Bühne zurückzog – ein Bedürfnis, das durch die Neigung, unter Druck in Panik zu geraten, desto deutlicher zutage trat. In einem vielsagenden Brief an Eulenburg, den er mitten in einer Auseinandersetzung mit dem Ministerium im Februar 1895 schrieb, entschuldigte sich Wilhelm dafür, dass er auf dem Höhepunkt der Krise in seiner Jagdhütte in Hubertusstock weilte. Er fügte aber hinzu, dass man, wenn die Lage sich zuspitze, »auf Momente heraus [muss], um sich kalt Blut und klares Urteil zu bewahren. Denn absolut gerecht will ich alle Vorfälle beurteilen können.«110 Das Resultat dieser seltsamen Mischung aus Abwesenheit und periodischen Einmischungen, aus Lethargie und unvermittelten Eruptionen von Tatendrang war ein monarchischer Regierungsstil, der zunehmend dem seines russischen Vetters Nikolaus II. ähnelte. Über den Zaren schrieb der Staatsrat A. A. Polowzow im Juli 1901, dass es »auf keinem Feld der Politik einen prinzipiellen, gut durchdachten und sicher geleiteten Handlungsverlauf gebe. Alles wird in Ausbrüchen erledigt, zufällig, unter dem Einfluss des Augenblicks [...]«111 Genau dasselbe könnte man über Wilhelm sagen – womöglich ein Beweis dafür, dass sein Scheitern als Herrscher eine generelle Unvereinbarkeit zwischen den unglaublichen Anforderungen des monarchischen Amtes in einem hochentwickelten Staatswesen und den bescheidenen Fähigkeiten derjenigen widerspiegelt, die durch dynastische Vorsehung auf den Thron gelangt waren.
Indem Wilhelm in den Jahren 1896/97 die Hindernisse für eine Ausdehnung seiner Autorität aus dem Weg räumte, ersetzte er lediglich einen Satz von Zwängen gegen einen anderen. Je stärker er versuchte, seine Minister zu umgehen, desto stärker geriet er mit den Parlamenten im Land und im Reich in Konflikt. Und je enger er seine Person mit Gesetzesvorlagen verknüpfte, die in den Parlamenten attackiert wurden, desto stärker litt er unter den Fallstricken und Angriffen der empörten Öffentlichkeit. Von Zeit zu Zeit sprach er, wie gesagt, davon, alle Ketten, die ihn fesselten, durch einen Staatsstreich zu sprengen, und manche Historiker haben darin eine echte Alternative für den belagerten Monarchen gesehen. Aber wir sollten uns vor Augen führen, wie leicht es denjenigen, die Wilhelm am besten kannten, fiel, ihn von einem solchen Kurs abzubringen, indem sie ihn daran erinnerten, wie sehr die deutsche Öffentlichkeit ihn in diesem Fall schmähen würde. Auch wenn in Teilen des deutschen Bürgertums gewiss eine theoretische Begeisterung für außerhalb der Verfassung stehende Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie vorhanden war, so war doch stets klar, dass sich für ein solches Vorgehen keine breite politische Basis finden würde.112 Das Gerede von einem Staatsstreich war somit kaum mehr als konstitutioneller Eskapismus; wie Bülow sich erinnerte: »Solche nach Pulver und Blei riechenden Äußerungen des Kaisers waren übrigens nicht immer ganz ernst gemeint. Sie sollten mehr dem Zuhörer imponieren […] Ein fester, und namentlich konsequenter Wille stand nicht dahinter.«113 Nachdem Wilhelm das Amt des Kanzlers ausgehöhlt und das Ministerium in seine Bestandteile zerlegt hatte, war er selbst außerstande, dem politischen Entscheidungsprozess eine einigende Stoßrichtung zu verleihen. Mehr als je zuvor wurde eine koordinierende und in die Grenzen weisende Hand gebraucht. Sie sollte in der Person des Nachfolgers von Hohenlohe, Bernhard von Bülow, auf die politische Bühne treten.