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Im Alleingang
Das erste Jahrzehnt der Herrschaft Wilhelms II.
nach dem Abschied von Bismarck fiel mit einer Phase massiver
innenpolitischer Unruhen in Deutschland zusammen. Die neunziger
Jahre des 19. Jahrhunderts waren eine »Ära der Reizbarkeit« und der
»politischen Nervosität«, des »verschärften Konflikts zwischen
Regierung und Reichstag«.1 Sie waren
außerdem das Jahrzehnt der kaiserlichen Herrschaft, in dem sich
Wilhelm persönlich am stärksten in die Politik einschaltete. Vor
allem in diesem Zeitraum lotete er das Machtpotenzial seines Amtes
aus. Wilhelm begann die neunziger Jahre mit dem festen Entschluss,
in seiner eigenen Person die volle Macht zu vereinen, die Bismarck
besessen hatte. In der Tat war er sich seiner Fähigkeit, das
deutsche politische System zu lenken, so sicher, dass er Caprivi
direkt sagte, er solle seine Amtszeit als Übergangslösung
betrachten; das Kanzleramt selbst werde schon bald überflüssig
werden.2 Die politischen Initiativen
des Kaisers, die Ambitionen, die mit ihnen verbunden waren, die
Reaktionen, mit denen sie aufgenommen wurden, die Reibungen, die
sie verursachten sowie die Zwänge, denen sie unterworfen wurden,
sind Gegenstand dieses Kapitels. Zunächst wenden wir uns jedoch
kurz den Veränderungen zu, die sich in der deutschen Politik nach
1890 vollzogen.
Die nervösen Neunziger
»Wir leben in einem Übergangszustande!«, erklärte
Wilhelm im Februar 1892 vor dem Brandenburgischen Landtag. »Wir
gehen durch bewegte und anregende Tage hindurch [...]«3 Im Rückblick fällt es leicht, dieses Urteil voll
und ganz zu unterstützen.
Der beispiellose Erfolg der Sozialdemokratischen Partei bei den
Wahlen vom Februar 1890 gab das Signal zum Beginn einer neuen Ära
in der deutschen Politik. Das alte Sozialistengesetz, das eine
juristische Basis für die Unterdrückung sozialdemokratischer
Vereinigungen und Publikationen sowie für die Ausweisung der
wichtigsten »Agitatoren« bot, war theoretisch noch in Kraft, wurde
aber in der Praxis kaum noch beachtet. Die Sozialdemokraten konnten
mehr oder weniger frei um die Wähler werben.4 Mit 19,7 Prozent der landesweiten Stimmen (das
Doppelte des vorigen Ergebnisses) erfuhr die SPD nun eine stärkere
Unterstützung in der Bevölkerung als alle anderen Parteien –
allerdings erhielt sie wegen der Wahlkreisgrenzen, die städtische
Arbeiterbezirke benachteiligten, nur 8,8 Prozent der Sitze im
Reichstag. Das Ergebnis der SPD erschütterte das gesamte politische
Spektrum. Es war qualitativ ebenso wie auch quantitativ geradezu
revolutionär: Wie Jonathan Sperber nachgewiesen hat, warb die SPD
zum ersten Mal eine beträchtliche Zahl von Wählern anderer,
»bürgerlicher« Parteien ab.5 Ein Ringen
um die Vorherrschaft im Reichstag hatte begonnen, das mit den
Wahlen von 1912 seinen Höhepunkt erreichen sollte, in denen über
ein Drittel der Deutschen der SPD ihre Stimme gaben.
Ein beträchtlicher Block sozialdemokratischer
Abgeordneter im Reichstag wiederum stärkte massiv die Position des
Zentrums, der Partei der deutschen Katholiken, deren loyale
Wählerschaft in den südlichen und westlichen Regionen des Reichs in
den hitzigen Auseinandersetzungen des Kulturkampfs der siebziger
Jahre geschmiedet worden war. Unter den neuen Voraussetzungen, die
die Wahl von 1890 geschaffen hatte, war es schwieriger als je
zuvor, Gesetze durch den Reichstag zu bringen, ohne sich zuvor die
Unterstützung des Zentrums zu sichern. Doch die Stimmen des
Zentrums waren häufig nur auf Kosten äußerst umstrittener
Zugeständnisse bezüglich katholischer Institutionen oder
hinsichtlich der allgemeinen Kultur in Deutschland zu bekommen. Die
Frage, wie man die Unterstützung des Zentrums gewann, ohne sich die
protestantischen, »nationalen« Parteien
(Konservative und Liberale) zum Feind zu machen, zählte zu den
Hauptproblemen der verschiedenen Regierungen während Wilhelms
Herrschaft.
Noch beunruhigender war eine Radikalisierung des
Stils und der Methoden der politischen Rechten Anfang der neunziger
Jahre. Mit ihrem ausgesprochenen, ritualisierten Monarchismus (es
war Brauch, Parteiversammlungen mit einem ohrenbetäubenden »Heil!«
auf den Kaiser zu schließen) wurden die Konservativen als eine Art
königliche »Hauspartei« angesehen. Im Dezember 1892 tat sich jedoch
ein Graben zwischen den Gemäßigten und den Rechten innerhalb der
Führung der Konservativen Partei auf – inzwischen die größte
»Regierungspartei«. Die rechten Aktivisten forderten, dass die
Partei »demagogischer« werde und »die Stimme des Volkes« aufgreife,
um die Unterstützung der großen ländlichen Wählerschaft zu
gewinnen. In einer hitzigen Debatte setzten die Rechten sich durch
und erreichten die Aufnahme antisemitischer und
antikapitalistischer Klauseln in das Parteiprogramm. Das war ein
alarmierendes Zeichen dafür, dass antisemitische Agitatoren in
unterentwickelten ländlichen Regionen bereits großen Einfluss
gewonnen hatten.6 Mit Blick auf eine
ländliche Wählerschaft, die von Missernten, niedrigen Preisen und
steigender Verschuldung schwer gebeutelt war, schloss sich die
Partei mit dem 1893 gegründeten Bund der Landwirte zusammen. Der
Bund kanalisierte mit einem geradezu spektakulären Erfolg den Unmut
auf dem Dorfe in politisches Handeln. Mit einer Mitgliedschaft von
mehr als 300 000 Bauern im Jahr 1913 wurde er zum politischen Motor
der Konservativen Partei, dominierte ihre Organisationen,
finanzierte Pamphlete und Bücher, koordinierte Wahlkämpfe und
setzte die Regierung unter Druck, eine bauernfreundliche Politik zu
verfolgen. Das Resultat war ein neues Markenzeichen rechter
Politik: konsequenter, radikaler, populistischer und eher zur
Opposition neigend als seine Vorläufer.7
Mit anderen Worten, die neunziger Jahre brachten
nicht nur eine Verkleinerung der parlamentarischen Unterstützung
für die Regierung mit sich, sondern auch einen tieferen Wandel
im Wesen und Stil der Politik. In einer klassischen Studie der
wilhelminischen Parteien stellt Thomas Nipperdey die
»Honoratiorenpolitik« der Bismarck-Ära der »Massenpolitik«
gegenüber, die danach zur Norm wurde. Unter Bismarck wurden
Parteien überwiegend von selbstrekrutierenden Mitgliedern lokaler
Eliten, also Honoratioren, dominiert, die für die Kandidatur bei
bestimmten Wahlen lose Vereinigungen bildeten. Die zentralen
Institutionen der Partei und die Disziplin waren schwach, der
Wahlkampf farblos und Massenagitation so gut wie unbekannt. Nach
den Wahlen vom Februar 1890 sollte jedoch eine neuartige
Parteienorganisation zunehmend die politische Bühne beherrschen.
Gestützt auf eine große, Beitrag zahlende Mitgliederzahl oder
verbündet mit starken Lobbygruppen waren die neuen Parteien
Organisationen, die ein ständiges Personal beschäftigten und eine
Palette neuer Techniken wie Kundgebungen, Demonstrationen und
Agitation einsetzten, um die Wähler zu mobilisieren. 8 Diese Sichtweise ist gelegentlich auch
angefochten worden, aber aktuelle Studien unterstützen und
untermauern tendenziell Nipperdeys Interpretation. Sie bezeichnen
die neunziger Jahre als »wichtigen Moment des ständigen Wechsels«,
in dem das liberal dominierte, politische Spektrum der Bismarck-Ära
»einer komplexeren und zersplitterteren Palette von Kräften« Platz
machte.9
Diese Veränderungen auf organisatorischer Ebene
wurden durch den allgemeinen Wandel in der politischen Kultur noch
unterstrichen: Die Ausbreitung von Lobbygruppen und ihr zunehmender
Einfluss auf Parteiorganisationen führten zu einer Fragmentierung
und zu einem Wechselspiel des politischen Diskurses, so dass in
manchen Fällen etwa die Wortwahl und die Argumente der radikalen
Agrarvertreter und der Sozialdemokraten kaum voneinander zu
unterscheiden waren.10 Die neunziger
Jahre erlebten außerdem eine Verschärfung im Ton der kritischen
öffentlichen Sphäre. Das lässt sich natürlich nur schwer mit Zahlen
belegen, aber Debatten im Reichstag, die Kritik in der Presse und
politische Diskussionen waren insgesamt derber und fundamentaler in
ihrer Opposition gegen die bestehende
Ordnung. Auch der Umgang mit der Person des Staatsoberhaupts
verschärfte und veränderte sich in einer Weise, wie es unter
Wilhelm I. undenkbar gewesen wäre. Dieser letzte Punkt ist für die
Zwecke unserer Untersuchung am wichtigsten. Generell kann man
sagen, dass der Regierung allmählich die Kontrolle über die
öffentliche Sphäre entglitt. Das war zum Teil eine Folge von
Bismarcks Abschied aus der Politik. Dem Ex-Kanzler war es durch
eine verzweigte, geheime Organisation, die aus dem konfiszierten
Staatsschatz der Hannoverschen Krone finanziert wurde, gelungen,
einen Einfluss auf die Presseberichterstattung auszuüben, der bis
weit ins Hinterland reichte. Kein einziger seiner Nachfolger
erlangte hingegen jemals eine so starke Macht über die öffentliche
Debatte wie Bismarck.11
Die neue Kräfteverteilung unter den Parteien
sorgte in hohen politischen Kreisen für Unruhe, insbesondere in dem
kleinen Kreis jener, die Wilhelm II. am nächsten standen. Zu den
beständigsten Themen in John Röhls maßgeblicher Edition der
politischen Korrespondenz des Intimus Wilhelms, Graf Philipp zu
Eulenburg-Hertefeld, zählt die Sorge um den Einfluss, den die
Zentrumspartei in der neuen, politischen Konstellation ausüben
werde. Das Zentrum galt als Trojanisches Pferd eines drohenden
ultramontanen Katholizismus mit einem rückwärts gewandten,
partikularistischen Programm in kulturellen Fragen und einer
engstirnig »römischen« Außenpolitik, welche die Einheit des Reiches
von innen untergraben und seine internationalen Verpflichtungen
kompromittieren werde.12 Friedrich von
Holstein – eine weitere Schlüsselfigur unter den Beratern des neuen
Kaisers – warnte, dass Zugeständnisse an das Zentrum die
partikularistischen Kräfte bis zu einem Punkt stärken würden, an
dem sich das Reich unter dem Druck der inneren, konfessionellen
Spannungen buchstäblich auflösen werde.13 Diese Ängste wurden in regelmäßigen Abständen
Wilhelm selbst vorgetragen. Letzten Endes lag es auf der Hand, dass
sich der Kaiser und seine Minister in irgendeiner Form mit der
einflussreichen Partei der deutschen Katholiken arrangieren
mussten. Doch die Beziehung
der Regierung zum Zentrum blieb ein ständiger Zankapfel zwischen
einem Kaiser, der von Zugeständnissen nichts mehr wissen wollte,
und einem Kanzler, der mit dem Landtag und dem Reichstag verhandeln
musste.
Ein weiterer, und in mancher Hinsicht größerer
Anlass zur Sorge für den Kreis um Wilhelm waren die grundlegenden
Veränderungen innerhalb der konservativen Partei. Der wachsende
Extremismus und die Kompromisslosigkeit der konservativen
Forderungen hatten zur Folge, dass ihre Unterstützung nur zu einem
Preis zu bekommen war, den die Regierung (geschweige denn andere
Parteien und die Wähler) nicht bereit war zu zahlen. Außerdem
wurden die Konservativen durch das Aufkommen eigenständiger und
einflussreicher Splittergruppen innerhalb der Partei und der
Wählerschaft zu einem unberechenbaren Bündnispartner. Wie Holstein
im April 1897 notierte, waren die Konservativen unzuverlässige
Partner für die Regierung, weil sie sich »in Agrarier,
Bauernbündler, Christlich-Soziale, Antisemiten aufgelöst« hätten,
mit dem Ergebnis, dass es »einen kompakten konservativen Wahlkörper
nicht mehr« gebe.14 Wilhelms
Auseinandersetzungen mit den Konservativen sollten zu den
erbittertsten seiner Herrschaft zählen.
Was machte Wilhelm nun aus dieser Ausgangslage?
Wie sah sein politisches Programm aus? Die Beantwortung dieser
Fragen ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Wilhelm sprach häufig über verschiedene Themen, aber mit
kohärenten, programmatischen Aussagen tat er sich schwer. Es
mangelte ihm an der intellektuellen Distanz und synoptischen
Vision, die einen Politiker dazu befähigen, disparate Dinge
miteinander in Einklang zu bringen, gemeinsame Themen zu erkennen,
die Implikationen zu analysieren und vernünftige, allgemeine
Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Lust an der Machtausübung zählte
zu den grundlegenden, treibenden Kräften hinter seinem politischen
Verhalten. Aber wurde dieser Machthunger in den Dienst einer
bestimmten »politischen Linie« gestellt oder erschöpfte er sich in
demonstrativen, planlosen Akten der Selbstbehauptung?
Im Folgenden wird gezeigt, dass es in der Tat
möglich ist, in den innenpolitischen Initiativen des Kaisers ein
konsistentes – wenn auch wenig durchdachtes und schlecht
artikuliertes – Ziel zu erkennen: nämlich die politisch »neutrale«
Mitte in der deutschen Politik und Kultur zu integrieren und zu
vergrößern, sowie seine Monarchie genau auf diese Basis zu stützen.
Diese Mitte wurde durch die Merkmale definiert, die Wilhelm für die
Kernpunkte des Konsenses unter der Mehrheit der anständigen und
klar denkenden Deutschen hielt: Begeisterung für die deutsche
»Nation« und ihre Sache, Misstrauen gegen partikularistische
Elemente, Offenheit für technologische Neuerungen und Feindschaft
gegen jede Form von Sozialismus. Wie Johannes Miquel,
Finanzminister nach Bismarcks Abschied, im März 1890 notierte:
Wilhelm betrachtete sich als »Vertreter einer Politik der Sammlung
und Versöhnung, welche die Parteigegensätze vermindern und alle zur
Mitarbeit bereiten Kreise vereinigen« wollte.15 Der Kaiser schickte sich an, dieses Ziel auf
drei Wegen zu erreichen: die Schlichtung von Interessenkonflikten,
die Sammlung der gemäßigten und konservativen Kräfte gegen die
angeblichen Feinde der Gesellschaftsordnung und die Übernahme
symbolträchtiger Projekte von nationaler Bedeutung durch den
Monarchen.
Diese Verpflichtungen gründeten sich auf die
feste Überzeugung von der transzendenten Qualität seines Amtes.
Wilhelm machte kein Hehl aus seiner erstaunlich sakralen Auffassung
von der Kaiserkrone – hier klang die exaltierte, politische
Theologie Friedrich Wilhelms IV. nach. Wilhelms Glaube, er sei der
von Gott berufene Vermittler zwischen Gott und seinen Untertanen,
war von absolut zentraler Bedeutung für seine Ansicht, es sei die
ureigenste Aufgabe des Kaisers, in seiner Person die auseinander
laufenden Interessen der Regionen, Klassen und Konfessionen zu
konzentrieren und miteinander zu versöhnen. Genau wie Friedrich
Wilhelm IV. assoziierte auch Wilhelm II. seine öffentliche Funktion
mit einem ökumenischen Verständnis des Christentums, das sämtliche
historischen Konfessionen umfasste.16
Diese Vision der kaiserlichen Transzendenz hatte
auch eine technokratische Dimension. Als Kind hatte Wilhelm die
Begeisterung seiner Zeitgenossen für wissenschaftliche Neuerungen
und Entdeckungen in einer Ära geteilt, als technische Wissensformen
für einen wachsenden Massenmarkt der Kulturkonsumenten
popularisiert wurden.17 Als Erwachsener
interessierte er sich weiterhin stark für Wissenschaft und Technik.
»Immer von Neuem muss man staunen«, schrieb 1904 ein hoher
Regierungsbeamter, »welch ungewöhnliches Interesse der Kaiser für
viele Anforderungen und Fortschritte hat. Heute sind es die
Radiumstrahlen […] dann wieder die freie und voraussetzungslose
wissenschaftliche Forschung und schließlich auch ganz besonders die
Entwicklung der Maschinentechnik [...]«18 Tatsächlich konstituieren diese Interessen ein
so zentrales und dauerhaftes Charakteristikum an Wilhelms Leben,
dass man, mit Wolfgang König, von der »technischen Biographie« des
Kaisers sprechen kann.19 Wilhelm
interessierte sich sehr für die neue Rundfunktechnologie und hatte
persönlich Anteil daran, dass in die Schiffe der deutschen
Kriegsmarine Rundfunksender nach dem AEG Slaby-Arco-System
eingebaut wurden. Er hegte außerdem eine große Begeisterung für die
Flutprävention und den Bau von Dämmen und Deichen sowie für den
wissenschaftlichen Ballonflug (insbesondere für meteorologische
Zwecke). Er war beeindruckt von dem erhabenen Spektakel der neuen
Luftschiffe und pflegte eine Zeitlang enge, öffentliche Kontakte zu
Ferdinand Graf von Zeppelin. Wilhelm war ein massiver und
unbeirrbarer Fürsprecher der technischen und wissenschaftlichen
Ausbildung. Ferner war er ein großzügiger Sponsor von
Forschungsinstituten und schaltete sich häufig persönlich in die
Entwicklung von Schlüsseltechnologien ein, indem er
Firmendirektoren in seinen Briefen drängte, bestimmte Innovationen
von angeblich nationalem Interesse voranzutreiben.20 Die Technik übte nicht zuletzt deshalb eine
starke Anziehungskraft auf Wilhelm aus, weil sie ihm ein
Aktionsfeld bot, das über dem Parteienzwist der Politik
stand.
Schulwesen
Kaum eine frühe politische Initiative Wilhelms
sagt so viel über seine sich formierende Auffassung von der eigenen
Rolle aus wie seine Interventionen in der Schulpolitik Anfang der
neunziger Jahre. Angesichts der großen Leistungen der epochalen
Wirtschaftsgesetze, die von der Regierung Caprivi in diesen Jahren
verabschiedet wurden – Senkung der Getreidezölle, Abschluss einer
Reihe internationaler Handelsverträge und Miquels Finanzreformen -,
mag es unangemessen erscheinen, sich ausgerechnet auf
weiterführende Schulen zu konzentrieren. Das hat jedoch seinen
Grund: Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass Wilhelm die moderat
antiprotektionistische Haltung Caprivis massiv unterstützte und
befürwortete und dass er den agrarischen Rückschlag gegen diese
Politik bedauerte, aber er hatte wenig mit der Konzeption dieser
ökonomischen Maßnahmen oder den Details ihrer Umsetzung zu tun.
Hingegen war er bereits bei der Thronbesteigung entschlossen, das
deutsche Schulwesen zu reformieren. Seine Interventionen auf diesem
Feld sagen mehr über seine politische Vision und Haltung gegenüber
Macht und Amt in den ersten Jahren seiner Herrschaft aus als sein
marginaler Beitrag zu den großen wirtschaftlichen Diskussionen der
Zeit.
Wilhelms Interesse an der Bildungsreform hatte
vermutlich seinen Ursprung in den unerfreulichen Jahren am
Gymnasium in Kassel, von denen ihm nicht zuletzt der »verknöcherte,
altphilologische Lehrplan«21 in
Erinnerung geblieben war. Allerdings spiegelte sich darin auch der
Einfluss der damals angesagten, zeitgenössischen Kritik am
Sekundarschulwesen im deutschen Reich und in Europa allgemein
wider. Im Frühjahr 1889 erließ Wilhelm nach Rücksprache mit
Freunden und Beratern eine Kabinettsorder für das preußische
Staatsministerium, in der er verlangte, dass der
Geschichtsunterricht stärker auf aktuelle Fragen ausgerichtet
werden solle. Der Endpunkt des Lehrplans sollte bis in die jüngste
Vergangenheit vorverlegt werden und auch die Befreiungs- und
Einigungskriege des 19. Jahrhunderts
umfassen, und der Stoff solle auch die soziale und ökonomische
Geschichte umfassen, mit dem Schwerpunkt auf den sozialen
Errungenschaften des modernen Staates. Ein Jahr später wurde auf
Wilhelms Anregung hin eine große Konferenz aus Lehrern und
Bildungsbeauftragten einberufen, um über die »Schulfrage« zu
sprechen. Wilhelm eröffnete die erste Sitzung persönlich mit einer
Rede (einer der längsten seiner Laufbahn), die sich mit
Schulhygiene, körperlicher Ertüchtigung, Reduzierung des Lernstoffs
und der Notwendigkeit einer »nationalen Basis« für den Lehrplan
befasste.22 Die Lernziele waren klar:
Das Militär musste mit kräftigen, jungen Männern versorgt werden
(»Ich suche nach Soldaten«). Der öffentliche Dienst brauchte »eine
kräftige Generation«, »die auch als geistige Führer und Beamte dem
Vaterlande dienen« werde. Die Jugend musste durch eine ordentliche
Grundlage in der Arbeitspolitik sowie die vermittelnde, soziale
Mission des Staates gegen den Virus der Sozialdemokratie immun
gemacht werden. Am wichtigsten war jedoch – auf diesen Punkt kam
Wilhelm immer wieder zurück -, dass die Schulen »nationale junge
Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer«. Nur mit
diesen Mitteln konnten die »zentrifugalen Tendenzen«, die Wilhelm
im politischen Gerüst des deutschen Reiches am Werk sah, gestoppt
und rückgängig gemacht werden.23
Wilhelms Rede rief unter vielen anwesenden
Erziehern Unmut hervor und sorgte für einige
Beunruhigung.24 Das war kein Wunder:
Seine Äußerungen berücksichtigten nicht im geringsten die
Vorbereitungen der Organisatoren, deren Tagesordnung Wilhelm
einfach mit dem Kommentar, sie erscheine zu »schematisch«, beiseite
schob. Und so mancher Schulrat dürfte bei folgendem Vorschlag
hinter seiner Brille erbleicht sein: »Jeder Lehrer, der gesund ist,
muss turnen können; und jeden Tag soll er turnen«.25 Auch wenn Wilhelms Vorschläge für Zuhörer mit
einem persönlichen Interesse am Erhalt der bestehenden Arrangements
mit Sicherheit schockierend waren, so war ihr Inhalt jedoch
keineswegs neu. Darüber hinaus gab es
sogar einen Präzedenzfall für eine monarchische Intervention auf
diesem Feld: In einem Erlass vom 12. März 1888, der in einem
erheblich milderen Ton verfasst war, hatte Wilhelms Vater Friedrich
III. nationale, soziale und pädagogische Fragen auf ähnliche Weise
miteinander verknüpft und festgestellt, dass den Erziehern eine
maßgebliche Rolle bei der Abwehr der destabilisierenden,
ideologischen Effekte eines raschen Wirtschaftswachstums und einer
sozialen Polarisierung zukam.26
Dennoch war eine so detaillierte und
ambitionierte monarchische Reformkampagne wie diese in der Tat neu.
Sie spiegelte nicht nur Wilhelms Bestreben, sich im Zentrum des
Geschehens zu platzieren, wider, sondern auch sein Vertrauen in die
einzigartige Fähigkeit und Verpflichtung des Throns, im allgemeinen
Interesse liegende Verbesserungen durchzusetzen. In einer
vielsagenden Passage der Bildungsrede stellte Wilhelm fest: »Ich
kann das gewiss genau beurteilen, weil ich oben stehe und an mich
alle solche Fragen herantreten.«27
Wilhelm hatte natürlich eine einzigartige Stellung inne: Im
Gegensatz zu den Ministern und Bürokraten musste er sich nicht an
die offizielle Etikette halten und konnte jeden um Rat fragen, der
ihm geeignet schien. Wie im Streit mit Bismarck um die
Arbeitspolitik stützte Wilhelm sich, in der traditionellen Manier
der Hohenzollern, auf den Rat schillernder Figuren wie Paul
Güssfeldt, ein ehemaliger Bergsteiger und Forscher und zugleich
Autor eines Werks, das mehr technische Anleitung und körperliche
Ertüchtigung an deutschen Schulen forderte, oder Konrad
Schottmüller, ein ehemaliger Geschichtslehrer und Direktor des
deutschen Historischen Instituts in Rom, der Wilhelm zufällig bei
einer Stadtführung durch Rom im Oktober 1888 begleitet hatte. Eben
darin bestehe, so glaubte Wilhelm, die Überlegenheit seiner
Perspektive über die vieler »Experten«, die eine besondere
Autorität in Bildungs- und anderen Regierungsfragen für sich
beanspruchten. Nur er konnte die Probleme von allen Seiten
betrachten. Nur er verkörperte die Regierungsgewalt des Staates,
gehörte aber nicht dem Staatsapparat an. Diese wahrgenommene Kluft
zwischen
dem universalisierenden Monarchen und den Hütern des Fachwissens
belastete unweigerlich seine Beziehungen zu den Ministern, die zum
großen Teil Karrierebeamte waren und vom Staat eigens zu dem Zweck
angestellt wurden, die Regierungsgeschäfte zu leiten. Es blieb der
Öffentlichkeit nicht verborgen, dass der Vorstoß des Kaisers in die
Schulpolitik im Widerspruch zu der erklärten Agenda des
langjährigen Bildungsministers Gustav von Gossler stand; damit
geriet der Minister in eine peinliche Situation. Die Preußischen Jahrbücher führten dies ihren Lesern
deutlich vor Augen, indem sie von Gosslers Aussagen den völlig
anderen Ansichten des Kaisers in parallelen Kolumnen
gegenüberstellten. Drei Monate nach der Konferenz trat Gustav von
Gossler zurück.
Wilhelms Eingreifen brachte nicht die radikale
Reform des preußischen und deutschen Bildungswesens, die er sich
gewünscht hätte (er zeigte sich später enttäuscht über die mageren
Ergebnisse der Konferenz und der zugehörigen Reformen). Aber der
Deutschunterricht wurde auf Kosten von Griechisch und Latein
erhöht, und es wurden mehr Stunden für die Leibeserziehung
vorgesehen.28 Langfristig trugen die
Initiativen des Kaisers auch dazu bei, den Statusunterschied
zwischen den geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern innerhalb
des Gymnasialsystems abzubauen und den Weg für die Schaffung von
Eliteschulen frei zu machen, die einen hochqualifizierten
Unterricht in einer Palette naturwissenschaftlicher Fächer anboten.
29 Die wohl wichtigste Überlegung
Wilhelms zur damaligen Zeit galt der Frage, auf welche Resonanz die
Konferenz in der Öffentlichkeit stieß. Der badische Gesandte in
Berlin berichtete, dass die Initiative des Kaisers im
Bildungsapparat »mehr Kritik und Kopfschütteln als Anerkennung«
geerntet habe, »dafür aber Jubel und Begeisterung in breiten Massen
des Volkes«.30 Wilhelm spielte auf
diese positive Reaktion an, wenn er in seiner Schlussrede der
Konferenz davon sprach, dass seine Vorfahren bewiesen hätten, »dass
sie, den Puls der Zeit fühlend, vorausspähten, was da kommen
würde«: »Ich glaube erkannt zu haben, wohin der
neue Geist, und wohin das zu Ende gehende Jahrhundert zielen, und
ich bin entschlossen, sowie [sic!] ich es beim Anfassen der
sozialen Reform gewesen bin, so auch hier in bezug auf die
Heranbildung unseres jungen Geschlechts die neuen Bahnen zu
beschreiten, die wir unbedingt beschreiten müssen [...]«31 Bei allem Pathos zeigte sich in diesen Worten
die Zuversicht Wilhelms, dass es »da draußen« einen Konsens gab,
der von einem modernen Monarchen mit einem offenen Ohr abgerufen
werden konnte.
Die konfessionelle Kluft
So weit, so gut; es sollte jedoch nicht lange
dauern, bis der Ausbruch einer öffentlichen Auseinandersetzung über
die Schulpolitik offenbarte, welche Fallstricke einen Monarchen
erwarteten, der entschlossen war, zu den großen Themen der Zeit
Stellung zu beziehen. Die Frage, welche Rolle die Religion in der
Bildung, und insbesondere die Kirche bei der Verwaltung von Schulen
spielen sollte, war in allen Staatswesen im Europa des 19.
Jahrhunderts außerordentlich umstritten. Besonders komplex und
heikel wurde das Thema in Deutschland durch die Tatsache, dass quer
durch das politische Spektrum (von den Sozialdemokraten über Links-
und Rechtsliberale bis zu den Konservativen) die konfessionelle
Trennlinie zwischen Protestanten und Katholiken verlief. Als Partei
der katholischen Arbeiter, Bauern, Handwerker und Stadtbewohner war
die Zentrumspartei in sozialer Hinsicht heterogen. Folglich waren
die Parteimitglieder in sozialen und wirtschaftlichen Fragen häufig
gespalten, rein konfessionelle Themen stärkten allerdings
tendenziell die Geschlossenheit des Zentrums; deshalb spielten
diese auch bei der politischen Linie der Parteiführung eine
wichtige Rolle. Zu den umstrittensten Punkten der Religionspolitik
zählte die Forderung des Zentrums nach einer verstärkten,
klerikalen Beteiligung und Aufsicht im Schulwesen.
War für das Zentrum Platz in der »Mitte« der
deutschen Politik? Für den Kreis aus Beratern und hohen Beamten um
Wilhelm kamen Zugeständnisse an das Zentrum in
kulturell-konfessionellen Fragen einem Verrat am »nationalen«
Interesse gleich. Eine Politik der »Unparteilichkeit« bestehe
darin, erklärte Philipp Eulenburg Wilhelm, dass sie die
Unterstützung der (weitgehend protestantischen) Nationalliberalen
und Konservativen habe.32 Es sei
entscheidend, an der Seite der »Mittelparteien« zu bleiben, teilte
er Friedrich von Holstein mit; und wenn man schon Zugeständnisse
machen müsse, so solle man sie eher den oppositionellen, aber
protestantischen Linksliberalen als der »römischen« Seite
machen.33 Wilhelm neigte zur selben
Ansicht; auch wenn er durch symbolische Gesten wie wiederholte
Treffen mit dem Papst unbedingt die Sympathie der deutschen
Katholiken gewinnen wollte, traute er dem Zentrum nicht über den
Weg und blieb überzeugt, dass eine handlungsfähige Regierung
»unabhängig« vom Einfluss des Zentrums bleiben müsse.34 Allerdings konnte es sich keine Regierung, die
den Auftrag hatte, Gesetzesvorlagen durch den Reichstag zu bringen,
leisten, sich so dogmatisch zu verhalten. Wie Kanzler Caprivi
Eulenburg erklärte:
Ziehen wir die Parteienverhältnisse im Reichstag in
Betracht, vergegenwärtigen wir uns, dass Deutschkonservative,
Reichspartei und Nationalliberale zusammen für die notwendige
Mehrheit von 199 Stimmen nur 132 Vertreter stellen können, so
folgt, dass für wichtige Aufgaben, welche uns voraussichtlich im
nächsten Jahr beschäftigen werden und für welche die weiter nach
links stehenden Parteien kaum zu haben sein würden, die Mitwirkung
des Zentrums mit seinen über 100 Stimmen nicht zu entbehren
ist.35
Mit den »wichtigen Aufgaben« meinte Caprivi vor
allem eine Gesetzesvorlage zur Anhebung der Friedensstärke des
Heeres. Die Aussichten für eine Zusammenarbeit mit dem Zentrum
schienen gut. In den ersten 18 Monaten der Amtszeit Caprivis hatte
die Partei ihre wohlmeinenden Intentionen demonstriert,
indem sie für so gut wie alle wichtigen Gesetzesinitiativen
stimmte. Aber als im Frühjahr 1891 eine neue Heeresvorlage anstand,
teilte die Führung des Zentrums dem Kanzler mit, dass sie im
Gegenzug für ihre Unterstützung im Parlament Zugeständnisse auf dem
Feld der Bildung erwarte. Caprivi kam der Bitte nach, indem er sich
nachdrücklich für den Rücktritt des Bildungsministers einsetzte.
Als Grund gab er an, dessen Schulpolitik sei den Katholiken nicht
kirchlich genug. Der neue Minister, Robert Graf von
Zedlitz-Trützschler (ein Kandidat Caprivis),36 legte ein Schulgesetz vor, das der katholischen
Haltung sehr stark entgegenkam.
Wilhelm unterzeichnete am 14. Januar 1892 den
Gesetzentwurf von Zedlitz-Trützschler. Das war auf den ersten Blick
eine seltsame Entscheidung, weil sie dem Kern der bekannten,
politischen Neigungen des Kaisers und seiner Berater widersprach.
Wenn der Entwurf verabschiedet worden wäre, dann hätte er den
Zugriff des Staates auf das Schulsystem geschwächt und einer
Segregation den Weg frei gemacht, in der klerikale Behörden neue
Lehrer auf Herz und Nieren prüfen durften und fast alle Schüler in
Schulen ihrer eigenen Konfession unterrichtet würden. Warum gab
Wilhelm den Entwurf zur Diskussion im Parlament frei? Laut einem
seiner Lieblingsadjutanten, dem Grafen Carl von Wedel, billigte
Wilhelm den Entwurf vor allen Dingen deshalb, weil Caprivi
andernfalls mit seinem Rücktritt gedroht hatte.37 Möglicherweise war er auch davon ausgegangen,
dass die Gesetzesvorlage in der Debatte und im Ausschuss noch
abgeändert würde, während er es der Regierung gestattete, den
Katholiken ihre versöhnliche Haltung vor Augen zu führen.
Andererseits empfand er (wie seine Frau) vielleicht eine echte
Sympathie für die dezidiert klerikale Note. Eins steht jedoch fest:
Wilhelm unterschätzte völlig die Vehemenz der Empörung, die der
Gesetzentwurf unter den Protestanten auslösen würde.
Die von Zedlitz-Trützschler vorgeschlagenen
Zugeständnisse wurden in den oberen Kreisen der preußischen
Regierung fast einmütig abgelehnt. Warnungen vor katholischen
Intrigen zum
Sturz der Dynastie, ja vor dem unmittelbar bevorstehenden Zerfall
des Reiches, oder vor dem Aufstieg einer von Österreich angeführten
»katholischen Familienliga«, welche die süddeutschen Staaten gegen
Preußen vereinen werde, und sogar vor einer triumphalen
Bismarck-Kampagne machten die Runde, um die Vorlage
abzuwehren.38 Es gab auch einen
ohrenbetäubenden Aufschrei der Empörung seitens der liberalen und
konservativen Presse. Liberale Blätter verteidigten das Monopol der
staatlichen Aufsicht; der gefeierte, nationalliberale Historiker
Heinrich von Treitschke warnte, die Freiheit der Forschung und
Lehre werde von katholischen Obskurantisten bedroht. Beim
Bildungsministerium gingen unzählige Protestpetitionen ein. Der
Konflikt um die Schulpolitik spiegelte eine der unzähligen,
strukturellen Trennlinien im Reich wider: Ein »Kurs des
gemäßigt-konservativen Ausgleichs«, wie Wolfgang Mommsen schreibt,
»mit allen politisch relevanten Gruppierungen im Reich«, auch den
Katholiken, machte in der nationalen Legislative durchaus Sinn, wo
das Zentrum einen ausschlaggebenden Anteil der Sitze hatte. Aber
dieser Kurs konnte in Preußen nicht durchgehalten werden, wo durch
die Verzerrungen des Dreiklassenwahlrechts der Vorrang der
(protestantischen) konservativen und liberalen Interessen
garantiert wurde.39 Nichts könnte
besser demonstrieren, wie schwierig es war, die Ansprüche der
beiden einflussreichsten Legislativen des deutschen Reiches
auszubalancieren.
Nach der anfänglichen Unterstützung für den
Gesetzentwurf geriet Wilhelm nun in Panik. Auf Eulenburgs Rat hin
und auf Drängen des antikatholischen Finanzministers Johannes
Miquel lud er sich am 23. Januar selbst zu einem Bier im Haus
Zedlitz ein und erschien mit einigen Würdenträgern aus den
Kartell-Parteien. An diesem Abend kündigte er an, dass er kein
Schulgesetz akzeptieren werde, das nicht von den Konservativen und
Nationalliberalen unterstützt werde. Nur wenige Wochen später hielt
er jedoch vor dem Brandenburger Landtag eine Rede und forderte ein
Ende des Nörgelns, was gemeinhin fälschlich als eine Verteidigung
des Zedlitz-Entwurfes ausgelegt wurde.40 Nach
einer hitzigen Debatte im Kronrat am 17. März 1892, in der Wilhelm
schroff auf einem Kompromissvorschlag bestanden hatte, der den
Einwänden der Liberalen Rechnung trug, trat Zedlitz von seinem Amt
zurück. Caprivi war der Meinung, seine Politik sei öffentlich
desavouiert worden, und reichte ebenfalls sein Rücktrittsgesuch
ein. In seiner Verzweiflung versuchte Wilhelm, Zedlitz-Trützschler
zu halten, indem er anbot, die Schulvorlage am Ende doch zu
billigen, aber vergeblich. Caprivis Rückzug war ein noch schwererer
Schlag. Wilhelm weigerte sich anfangs, den Rücktritt zu
akzeptieren: »Nein. Fällt mir nicht im Traum ein«, schrieb er als
Antwort auf die Mitteilung des Kanzlers. »Erst die Karre in den
Dreck fahren und dann den Kaiser sitzen lassen, ist nicht
schön.«41 Caprivi willigte am Ende ein,
Reichskanzler zu bleiben, übergab aber den Posten des preußischen
Ministerpräsidenten dem konservativen Botho von Eulenburg.
Wilhelms Wankelmütigkeit, sobald er unter Druck
gesetzt wurde, entging keineswegs der Aufmerksamkeit der
Zeitgenossen. In seinem Rücktrittsgesuch erklärte Caprivi, er
scheide aus seinem Amt aus, weil er sich außerstande sehe, sich
persönlich auf das unschätzbare Vertrauen des Kaisers zu
verlassen.42 Andere gaben während der
Krise bissige Kommentare ab, wie schwierig es doch sei zu erraten,
auf welche Seite sich der Kaiser schlagen werde.43 Im fernen Altona grübelte der ultraklerikale
und einstige Günstling des Kaisers General Waldersee, der seine
Entlassung als Generalstabschef 1891 noch nicht verdaut hatte, über
Wilhelms »Schwanken und Äußerungen in den entgegengesetzten
Richtungen, so dass der Eindruck der Doppelzüngigkeit entstehen
musste.«44 Allem Anschein nach stöhnte
Wilhelm selbst unter der Bürde seiner eigenen Stellung. Er
laborierte damals an den Nachwirkungen einer Ohrentzündung, und die
Anspannung, eine konsequente Haltung angesichts widersprüchlicher
Verpflichtungen durchzuhalten, wirkte sich schon bald auf seine
physische und emotionale Verfassung aus. In einem Telegramm vom 12.
März 1892 schrieb er an Eulenburg: »Bin noch recht elend und muss
mich jeder Arbeit fernhalten.
Zustand durch Überarbeitung und Überanstrengung gekommen. Fieber
geschwunden. Aber noch viel Mattigkeit. Werde vielleicht, wenn
wieder wohler, mal ausspannen und Ortswechsel vornehmen müssen.
Daher alle Politik, innere wie äußere, mir fürs erste völlig
gleichgültig, solange sie sich im gewohnten Kreise
fortbewegt.«45 Der Schock von Caprivis
Rücktritt hatte offenbar einen Nervenzusammenbruch ausgelöst, der
rund zwei Wochen lang anhielt.46
Freilich wäre es allzu einfach, Wilhelms
Zickzackkurs allein seiner persönlichen Unentschlossenheit
zuzuschreiben, deckte die Schulgesetzkrise doch auch die
Gespaltenheit der deutschen politischen Kultur auf. Außerdem darf
man Wilhelm nicht die Schuld daran geben, dass er sich auf das
Minenfeld der Schulfrage wagte, denn immerhin hatte doch das
Zentrum, und am Ende der Kanzler selbst, hartnäckig Zugeständnisse
gefordert. Möglicherweise hätte Wilhelm, wenn er
Zedlitz-Trützschler taktvoller behandelt hätte, den Rücktritt des
Ministers verhindern und den Kompromissentwurf erreichen können,
den er sich wünschte. Aber es war mit Sicherheit ein Fehler
Wilhelms – noch dazu einer, den er in den neunziger Jahren mehrfach
begehen sollte -, sich so deutlich mit bestimmten politischen
Positionen zu identifizieren, insbesondere wenn diese,
notgedrungen, von einer Woche zur nächsten wechselten. Wie die
Krise um die Schulvorlage zeigte, ließ sich die integrative Rolle,
die sich Wilhelm für das deutsche Staatswesen erträumte, nicht mit
täglichen Vorstößen in die Politik vereinbaren. Ein Kaiser, der an
der Spitze der Nation stand, musste ein Kaiser sein, der über und
deshalb zugleich außerhalb der Politik stand. Aber genau hierin lag
die Krux: Außerhalb der Politik stehen, würde bedeuten, dass
Wilhelm auf sein begehrtes Ziel verzichtete: die Ausübung
persönlicher Macht.
Die Militärvorlage (1893)
Nach der überstandenen Krise um das Schulgesetz
wandten Wilhelm und Caprivi sich der Aufgabe zu, den Entwurf für
das neue Militärgesetz auszuarbeiten und durch den Reichstag zu
bringen. Im Zuge der Vorbereitungen für den Gesetzentwurf ließ
Wilhelm erkennen, dass er die eine oder andere Lektion aus dem
Fiasko gelernt hatte: Während des Sommerurlaubs im Juli an der
Ostsee sprach er mit Eulenburg über die Notwendigkeit, die
öffentliche Meinung durch eine Pressekampagne zugunsten der
erhöhten Militärausgaben auf die Gesetzesvorlage
einzustimmen.47 Im selben Monat
beauftragte Caprivi Major August Keim mit der Koordinierung der
Propaganda für den Entwurf. Damit verabschiedete sich der Kanzler
von seiner bislang so zurückhaltenden Öffentlichkeitsarbeit. Mit
den Spendenaufrufen und Massenveranstaltungen, an denen sich
Staatsdiener und national gesinnte Professoren beteiligten, nahm
Keims Kampagne (zumindest dem Wesen, wenn auch nicht dem Ausmaß
nach) die außerordentliche Agitation für eine Flotte Ende der
neunziger Jahre vorweg.48 Das
Haupthindernis für den Erfolg war immer noch das Zentrum. Gemäßigte
Zentrumsabgeordnete erklärten schon früh ihre Unterstützung für den
Gesetzentwurf, aber der Agrarflügel der Partei weigerte sich,
seinen Widerstand aufzugeben. Einmal mehr gab die Aussicht auf
Zugeständnisse in der Religionspolitik den Ausschlag dafür, dass
sich die Partei geschlossen hinter den Entwurf stellte. Über die
Art der Zugeständnisse wurde auf einem Treffen zwischen dem Kaiser
und dem Erzbischof von Breslau Georg Kardinal von Kopp diskutiert,
einem Mitglied der Gruppe »einsichtsvoller Katholiken«, mit denen
Wilhelm »sich aussprechen konnte«, wie er selbst sagte.49
Selbst als diese Vorkehrungen getroffen waren,
zog Wilhelm jedoch ernstlich die Möglichkeit in Betracht, dass sie
nicht ausreichen würden, um die Verabschiedung der Vorlage zu
garantieren. Bereits im Juli 1892 ließ er durchblicken, dass er
notfalls »die Verantwortung [für die Angelegenheit] dem Volk
feierlich
überlassen«, sprich: den Reichstag auflösen werde.50 Im Januar 1893 versicherte Wilhelm den
befehlshabenden Generälen der preußischen Armee sinngemäß: »Ich
bringe die Vorlage durch, es koste, was es wolle, was weiß dieser
Haufe [sic!] von Zivilisten von militärischen Dingen. Ich lasse
auch nicht einen Mann und nicht eine Mark und jage den
halbverrückten Reichstag zum Teufel, wenn er mir Opposition
macht!«51 An dieser Stelle darf nicht
vergessen werden, dass der Konflikt um das Militär im Grunde in der
Reichsverfassung vorprogrammiert war. Die Verfassung hatte nämlich
die Frage offen gelassen, welches Organ denn die Militärausgaben
kontrollierte. Das Heer war, in der Theorie, zugleich eine
königliche und eine parlamentarische Einrichtung. Die Verfassung
legt einerseits in Artikel 63 fest, dass der Kaiser »den
Präsenzstand, die Gliederung und Einteilung der Kontingente des
Reichsheeres« bestimmt, andererseits heißt es aber in Artikel 60,
dass »die Friedens-Präsenzstärke des Heeres im Wege der
Reichsgesetzgebung festgestellt« wird.52 Nicht zuletzt wegen dieser »umgangenen
Entscheidung« in dem gesetzlichen Rahmen des Reichs waren die
Militärausgaben ein ständiger Konfliktpunkt zwischen der Exekutive
und der Legislative. Von den vier Auflösungen des Reichstags, die
im Kaiserreich verordnet wurden (1878, 1887, 1893, 1906), erfolgten
drei aus Gründen, die mit den Militärausgaben zu tun
hatten.53
Am Ende reichten weder die Unterstützung, die
Keims Kampagne mobilisierte, noch die Machenschaften Wilhelms und
Caprivis aus. Prompt wurde der Reichstag am 6. Mai 1893 aufgelöst.
Die Auflösung hatte insofern Erfolg, als der neue Reichstag das
Militärgesetz verabschiedete, der ganze Vorgang führte jedoch auch
die Verwundbarkeit der Regierung vor Augen. Die Mehrheit des
»Kartells« von vor 1890 wurde nicht wiederhergestellt, und das neue
Parlament enthielt mehr sozialdemokratische Abgeordnete als das
alte. Der Gesetzentwurf konnte nur in einer stark abgeänderten
Version verabschiedet werden, die der Zentrumsabgeordnete Karl
Freiherr von Huene vorgeschlagen hatte, und der Erfolg hing
letztlich von den Stimmen einer disparaten
Gruppe oppositioneller Splittergruppen ab: Polen, Elsässer,
Hannoversche Welfen.
Die Auseinandersetzung um die Militärvorlage war
ein wichtiger Meilenstein auf Wilhelms Weg zu einer
kompromissloseren Haltung. Zwei Richtungen dominierten sein
politisches Denken Mitte der neunziger Jahre: die Integration eines
liberal-klerikalkonservativen Blocks durch eine Kampagne gegen den
Feind auf der Linken (die Sozialdemokratie) und einen radikalen
Bruch mit der Verfassung des deutschen Reichs, falls es der
Regierung unmöglich werden sollte, unter den herrschenden
Rahmenbedingungen zu arbeiten. Die beiden politischen Optionen
werden im Folgenden näher betrachtet.
Das Scheitern der negativen Integration
Im Juli 1894 wies Wilhelm Caprivi an, Gesetze
vorzubereiten, die dem Staat neue Mittel für die Unterdrückung der
Sozialdemokratie verschaffen würden, etwa die Vollmacht,
sozialdemokratische Agitatoren aufs Land zu verbannen. Diese
Maßnahme ist in manchen Darstellungen als Abkehr von der
arbeiterfreundlichen Sozialpolitik Anfang der neunziger Jahre und
als Zeichen für die Unaufrichtigkeit des Engagements Wilhelms für
sein eigenes Programm gewertet worden.54 Dabei standen drastische Maßnahmen gegen die
Sozialdemokraten völlig im Einklang mit den eigentlichen
Intentionen des Arbeiterprogramms, dessen Ziel es immer schon
gewesen war, »gesunde« Elemente der Arbeiterklasse gegen
sozialistische Ideen zu immunisieren.55
Die Wahlergebnisse von 1893 sowie neuerliche Streikwellen im
Saarland und im Rheinland brachten Wilhelm zu der Überzeugung, dass
die Politik der Versöhnung nicht funktionierte. Unter diesen
Voraussetzungen hoffte er, dass sich die »staatstragenden« Kräfte
der Mitte mit der Regierung gegen die Sozialdemokraten vereinen
würden. Das Ergebnis war ein Rückgriff auf die repressiven Rezepte,
die Bismarck schon anno 1889/90 vorgeschlagen hatte.
Wilhelms Wechsel zu einer harten Linie ist
außerdem als Beispiel für einen neurotisch egoistischen Ansatz in
der Politik angesehen worden, in dem zugelassen wurde, dass Gefühle
der persönlichen Kränkung und des Verrats (in diesem Fall durch die
deutschen Arbeiter) »rationalere« Überlegungen überwogen.
56 Dabei waren die politischen
Maßnahmen, die europäische Regierungen gegen die wahrgenommene
Gefahr von Links ergriffen, generell nicht von rein rationalen
Überlegungen geprägt; übertriebene Ängste, religiöse Bedenken und
eine panischen Angst vor anarchischen Zuständen spielten ebenfalls
eine Rolle. In diesem Kontext waren Wilhelms Vorschläge nicht
sonderlich ausgefallen. Nach einer Kette anarchistischer
Bombenanschläge und Attentate auf dem ganzen Kontinent in den
Jahren 1893/94 verabschiedeten auch andere Staaten, darunter die
Schweiz und Frankreich, neue antisozialistische und
antianarchistische Gesetze.
Es gab allen Grund zu der Annahme, dass sich
solche Maßnahmen auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreuen
würden. Die liberale und konservative Presse (selbst die
Bismarckschen Hamburger Nachrichten)
brachten ihre Begeisterung über das harte Durchgreifen gegen die
Linke zum Ausdruck und nährten damit Wilhelms Zuversicht, dass ein
antisozialistisches Gesetz den dringend benötigten Konsens im
Reichstag und darüber hinaus schaffen würde. In einer Rede am 6.
September 1894 vor den Abgeordneten der Provinz Ostpreußen in
Königsberg kritisierte er scharf das von Junkern dominierte
Publikum, weil sie sich in der Agrarpolitik gegen die Regierung
gestellt hatten. Er forderte sie auf, sich ihm in dem »Kampfe für
Religion, für Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes«
anzuschließen.57 Wie Wilhelm
anschließend vor Caprivi prahlte, wurde die Rede in der
konservativen und liberalen Presse positiv aufgenommen; indem der
Kaiser unmittelbar an den politischen Instinkt seines Volkes
appellierte, hatte er jene Elemente »gewonnen«, die Caprivi mit
seiner Politik nicht hatte integrieren können.58
Letztlich gelang es Wilhelm mit der Kampagne für
ein Sozialistengesetz nicht, die gemäßigten Parteien zu sammeln,
vielmehr untergrub er ernsthaft den Zusammenhalt der Regierung. Das
Problem lag nicht zuletzt in dem Umstand, dass der Kanzler Leo von
Caprivi und der reaktionäre preußische Ministerpräsident (seit
1892) Botho von Eulenburg völlig unterschiedliche Meinungen
vertraten, wie ein solches Gesetz eingebracht werden müsse. Caprivi
wollte eine abgeschwächte Version des Gesetzes durch den
preußischen Landtag bringen, in dem Konservative und Rechtsliberale
in einer guten Position waren. Botho von Eulenburg hingegen drängte
auf eine Politik der Konfrontation mit dem Reichstag: Falls der
Reichstag es ablehne, die sogenannte »Umsturzvorlage« zu
verabschieden, solle der Kaiser wiederholt das Mittel der Auflösung
einsetzen und schließlich ganz verfassungswidrig ein neues,
undemokratischeres Wahlrecht auf Reichsebene einführen. Caprivi
protestierte energisch gegen dieses Szenario und verwies darauf,
dass die anderen deutschen Königreiche (Bayern, Sachsen,
Württemberg) einen solchen Schritt gewiss nicht unterstützen
würden. Stattdessen würden sie das daraus resultierende Chaos dazu
nutzen, ihre eigene partikularistische Politik zu verfolgen. Das
Ergebnis sei eine Schwächung und am Ende womöglich sogar Auflösung
des Reichs.59 Er bestand darauf, dass
die Regierung den Konflikt meiden und innerhalb des Rahmens der
Verfassung handeln müsse.60
Die unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden
Männern führte vor Augen, wie schädlich es gewesen war, nach der
Schulgesetzkrise von 1892 die Ämter des preußischen und
reichsdeutschen Regierungschefs in verschiedene Hände zu legen. Das
dualistische (föderativ/einheitlich) Problem wurde nunmehr von zwei
verschiedenen Persönlichkeiten personifiziert: dem konservativen
Botho von Eulenburg, der für eine von Junkern dominierte, rechte
preußische Wählerschaft sprach, und dem konservativen Reformer
Caprivi, der einer labileren, nationalen Konstellation der
Reichstagsparteien rechenschaftspflichtig war. Wilhelm musste sich
notgedrungen entscheiden. Anfangs
unterstützte er Caprivis Ansicht, ließ sich in der Folge jedoch
von Eulenburg überreden, die kompromisslosere Linie einzuschlagen.
Er akzeptierte, dass das Gesetz in der Form womöglich vom Reichstag
nicht verabschiedet wurde, war aber bereit, die Möglichkeit eines
Verfassungsbruchs ins Auge zu fassen; er erörterte sogar gemeinsam
mit dem König von Sachsen Pläne für einen Staatsstreich – ein
vielsagender Hinweis, dass er Bismarcks »Theorie« verinnerlicht
hatte, dass die Verfassung von den deutschen Fürsten gemacht worden
sei und folglich von ihnen auch wieder aufgehoben werden könne.
Anfang September ging Wilhelm sogar so weit, Botho von Eulenburg
mitzuteilen, dass er sich als der nächste deutsche Kanzler
betrachten solle. Wilhelms wachsende Begeisterung für eine Politik
der Konfrontation wurde von seiner unausgegorenen Überzeugung
genährt, dass ein Schlag gegen das Parlament in irgendeiner Form
seine Beziehung zu den politisch gesunden Elementen des »Volkes«
wiederherstellen würde, indem der lästige Parteienstreit
abgeschafft werde. Wilhelm teilte Caprivi im Oktober 1894
unmissverständlich mit: »Und der Kaiser, nicht der Beamte [also
Kanzler], kenne die deutsche Volksseele und trage vor Gott die
Verantwortlichkeit.«61
Bestürzt über Wilhelms Ablehnung seiner Politik
und Missachtung seiner Ratschläge reichte Caprivi einmal mehr
seinen Rücktritt ein.62 Es war ganz
charakteristisch für Wilhelm, dass er nunmehr, nachdem er Caprivi
an die Grenzen seiner Geduld getrieben und offenbar bereits Botho
von Eulenburg als Nachfolger ausersehen hatte, wiederum einen
Rückzieher machte. Er fuhr in einem Wagen mit weißen Pferden vor
der Kanzlei vor, umarmte den erschöpften Kanzler und bat ihn bei
einem gepflegten Glas Portwein und einer guten Zigarre
eindringlich, im Amt zu bleiben. Wie dieses seltsame Verhalten
deutlich zeigt, war Wilhelms Handlungsfreiheit eng begrenzt. Max
Weber führt in einer klassischen Analyse des Parlaments und der
Regierung in Deutschland aus, dass das empfindliche Gleichgewicht
der Reichsverfassung völlig gestört würde, wenn »tatsächlich die
konservative Parteiherrschaft mit der für innerpreußische
Verhältnisse üblichen Rücksichtslosigkeit auch auf die Führung der
Reichspolitik erstreckt würde«.63
Wilhelm mochte von einem Staatsstreich mit Botho von Eulenburg am
Ruder träumen, aber die Realität war, wie er nur allzu gut wusste,
dass der Kaiser sich in einer unmöglichen Lage befinden würde, wenn
Caprivi seinen Posten für Eulenburg räumen würde. »Denn er würde«,
warnte ihn einer seiner engsten Berater, »vor Deutschland als
Tyrann gebrandmarkt, der Caprivi, den Mann des Gesetzes, fallen
lässt, um Tyrannei zu üben.«64 Aber
Botho von Eulenburg fallen zu lassen, während Caprivi im Amt blieb,
wäre fast ebenso schädlich, denn Eulenburg war das Bindeglied der
Regierung zur konservativen und weitgehend agrarischen
Wählerschaft, die den preußischen Landtag dominierte. Da die beiden
Männer im Amt überhaupt nicht miteinander auskamen, war Wilhelm
letztlich gezwungen, am 26. Oktober die Rücktritte von beiden zu
akzeptieren.
Die »Umsturzvorlage« wurde schließlich von
Caprivis (und Eulenburgs) Nachfolger Fürst Chlodwig zu
Hohenlohe-Schillingsfürst im Dezember 1894 in den Reichstag
eingebracht. Der frühere Plan, ein eigenes Sondergesetz
einzubringen, wurde aufgegeben; der Entwurf schlug lediglich
mehrere Ergänzungen zu geltenden Gesetzen vor. Dennoch wurden die
Vorschläge heftig im Reichstag und in der Presse angegriffen.
Anschließend wurden sie von einem Ausschuss überarbeitet, der
versuchte, die Bestimmungen dem Zentrum schmackhaft zu machen,
indem er ihnen eine religiöse Dimension verlieh: Zusätzlich zu den
antisozialistischen Bestimmungen wurden neue Klauseln eingeführt,
die das Stören der Gottesanbetung sowie die Aufwiegelung zu
Ehebruch und Blasphemie strafbar machten. Diese Abänderungen
enthüllten, wie hoffnungslos der Versuch war, eine dauerhafte
Koalition um den Kampf gegen sozialdemokratische Agitation zu
sammeln; zu viele Deutsche hatten andere, höhere Prioritäten. Die
neue, »klerikalisierte« Vorlage wurde im Mai 1895 in den Reichstag
eingebracht und wurde ohne viel Federlesens verworfen.
Wilhelm war enttäuscht. Ohne Sozialistengesetz blieben der
Regierung, vertraute er Hohenlohe düster an, »somit noch
Feuerspritzen für gewöhnlich, und Kartätschen für die letzte
Instanz übrig«.65 Wilhelms Hoffnung,
dass ein integrierter Block staatstragender Parteien durch ein
gemeinsames Vorgehen gegen die Linke geschaffen werden könne, hatte
sich als Illusion entpuppt; die »negative Integration« war
gescheitert.
In der ersten Hälfte der neunziger Jahre war
durchweg eine Kluft zwischen Wilhelms sehnsüchtigen,
absolutistischen Worten und der eingeschränkten Machtstellung
wahrzunehmen, die er in Wirklichkeit bekleidete. Zu Beginn der
Neunziger fing der Kaiser an, insbesondere auf dem Gebiet der
Ernennungen seine Muskeln spielen zu lassen. 1890 berief er etwa
ohne Rücksprache mit Caprivi einen neuen Bischof von Straßburg.
Gelegentliche Einmischungen in die Besetzung diplomatischer
Vertretungen im Jahr 1891 verärgerten das Auswärtige Amt. Im Jahr
1893 berief er Graf Arthur von Posadowsky-Wehner ins Schatzamt und
überging Caprivis eigene Kandidatenliste für den Posten. Im Herbst
1894 unter Caprivis Nachfolger Chlodwig zu Hohenlohe verstärkte er
die Intensität der Einmischungen, indem er eigene Kandidaten für
das Landwirtschafts- und Justizministerium nominierte. Das Recht,
Personen in die Regierung und auf Posten im Staatsdienst zu berufen
(sowie die Entlassung anzuordnen), stand dem Monarchen gemäß der
preußischen und der Reichsverfassung zu, und Historiker haben es
zutreffend als das wohl wichtigste Instrument der monarchischen
Macht innerhalb des deutschen Staatswesens bezeichnet.66
Jedoch war auch Wilhelms Freiheit, von diesem
Recht Gebrauch zu machen, eingeschränkt. Wenn der Kanzler wirklich
entschlossen auftrat und das Ministerium sich einig war, konnten
seine Anweisungen widerrufen werden. So gelang es Caprivi 1890, die
Ernennung des Generaldirektors der Firma Krupp Johann Friedrich
Jencke zum einflussreichen Leiter des preußischen
Finanzministeriums zu verhindern, weil er von den
Ministern als Marionette der Schwerindustrie angesehen wurde.
(Wilhelm hatte charakteristischerweise Jencke aus genau diesem
Grund ausgewählt, um Industrielle, welche die Arbeitspolitik der
Regierung ablehnten, zu versöhnen und dadurch das neutrale Image
der Regierung zu wahren.) Als Wilhelm im November 1894 – wiederum
als Trostpflaster für die Agrarier – einen rechten Hitzkopf für das
Landwirtschaftsministerium vorschlug, endete die anschließende
Auseinandersetzung mit Kanzler Hohenlohe mit der Kapitulation des
Kaisers und der Berufung eines Kompromisskandidaten.
Weitere Rückschläge musste Wilhelm hinnehmen,
als er selbstherrlich versuchte, sich in die Sphäre der
Zivilgesellschaft einzumischen. Im Juli 1890 weigerte Wilhelm sich
rundweg, die Wahl des Linksliberalen Max Forckenbeck zum
Bürgermeister von Berlin zu bestätigen, weil Forckenbeck im
Reichstag gegen die Erhöhung der Militärausgaben gestimmt hatte.
Die Minister bestanden jedoch einmütig auf einer Bestätigung
Forckenbecks, und Wilhelm musste klein beigeben. Im Fall
Forckenbeck ging es nicht etwa nur um die Ministerialgewalt oder
Solidarität, die Autonomie der Berliner Stadtverwaltung stand auf
dem Spiel. Auf ähnliche Schwierigkeiten stieß Wilhelm, als er
versuchte, einen jungen Physik-Dozenten an der Universität Berlin
zu entlassen, weil er Sozialdemokrat war. Die Folge war ein
Proteststurm zur Verteidigung der akademischen Freiheit seitens
liberaler und konservativer Professoren. So autoritär sie in ihrer
institutionellen Politik und so stramm antisozialistisch sie auch
waren, ihr Streben nach Autonomie ihrer Universität war doch
größer, als ihre Angst vor einer Unterwanderung durch
Revolutionäre.67
Es trifft zu, dass eine Spaltung innerhalb der
Reihen des Ministeriums den Einfluss des Monarchen auf die
Entscheidungsfindung verstärkte. John Röhl hat nachgewiesen, dass
die zunehmende Disziplinlosigkeit und Grabenkämpfe nach 1892 dem
Monarchen mehr Möglichkeiten für eine Intervention verschafften,
indem er Minister ermunterte, sich bei Streitigkeiten mit ihren
Kollegen direkt an den Souverän zu wenden.68 Derartige
Interventionen waren jedoch naturgemäß reaktiv, nicht kreativ;
Zeitpunkt und Kontext wurden nicht vom Souverän diktiert, sondern
von der hohen Politik der Rivalität unter Ministern. Und allem
Anschein nach schob Wilhelm in der ersten Hälfte der neunziger
Jahre noch nicht systematisch irgendwelche Pöstcheninhaber vor, um
ein bestimmtes Programm durchzusetzen. Seine Vorlieben waren zu
verschiedenartig und die Minister zu unabhängig, als dass eine
konsequente Einflussnahme möglich gewesen wäre. Gewiss hatte
Wilhelm die Macht (und auch die Neigung), in die Entscheidung
bestimmter Fragen einzugreifen, indem er einem Minister gegen
andere den Rücken stärkte, etwa als er den Kartell-Anteil im
Ministerium gegen die konfessionelle Schulpolitik von
Zedlitz-Trützschler unterstützte, oder als er Botho von Eulenburg
bei der Umsturzvorlage gegen Caprivi beistand. Letzten Endes
enthüllten derartige Abenteuer jedoch lediglich, dass jenseits des
Ministeriums die noch beeindruckendere, weil öffentliche Barriere
des Reichstags und seiner skeptischen Mehrheiten lag.
Die Freunde des Kaisers
Da Wilhelm sich mit einem so starken Widerstand
seitens der »verantwortlichen« Minister konfrontiert und durch
seine immer häufigeren Reisen und erratischen Arbeitsgewohnheiten
vom Entscheidungsprozess abgeschnitten sah, holte er sich bei
persönlichen Assistenten und Freunden Informationen, Rat und
moralische Unterstützung. Im Jahr 1890 hatte vor allem eine Figur
bereits maßgeblichen Einfluss auf Wilhelm: Graf Philipp zu
Eulenburg-Hertefeld, damals der preußische Gesandte in dem kleinen
deutschen Bundesstaat Oldenburg. Die neunziger Jahre hindurch war
er der Fixpunkt im Zentrum einer losen Koalition aus
Persönlichkeiten, zu denen Friedrich von Holstein (Anfang der
Neunziger), der Großherzog Friedrich von Baden und (Ende der
Neunziger) der Diplomat und spätere Kanzler Bernhard von
Bülow zählten. Es wurde häufig darauf hingewiesen, dass Höfe Orte
sind, an denen Rang und Namen weniger wichtig sind als die Nähe zur
Person des Monarchen.69 Aber Eulenburgs
Nähe zum Kaiser war eher emotional als räumlich: Er wehrte sich
sogar gegen Bemühungen, ihn durch die Verleihung eines Amtes bei
Hofe auch physisch an die Seite des Monarchen zu stellen, und traf
Wilhelm in der Regel nur im Urlaub nach längeren Intervallen. Die
beiden Männer hatten sich im Mai 1886 bei einem Jagdausflug auf dem
Gut eines gemeinsamen Freundes kennen gelernt; Eulenburg war damals
39 Jahre alt, Wilhelm 27.70 Von Anfang
an zeichnete sich Eulenburg als ein »Freund« aus, dessen
Kommunikation mit dem Monarchen sich auf höhere Dinge als die
Politik konzentrierte (Musik, Literatur, das Okkulte) und durch
keine Hintergedanken getrübt war. Einige Monate nach ihrer ersten
Begegnung schrieb Wilhelm an Eulenburg:
Mein Instinkt pflegt mich, wenn ich mit Menschen
zusammenkomme, bald zu überzeugen, wes Geistes Kind der Betroffene
ist, mit dem ich verkehre, und [der Instinkt] hat mich selten
betrogen. Bei Ihnen habe ich nicht lange gebraucht um zu sehen,
dass Sie ein sympathischer, warm fühlender Charakter sind, wie man
deren wenig in der Welt trifft und deren besonders die Fürsten so
sehr bedürfen. Leider ist unsereins so oft dazu verdammt, nichts
als Schmeicheleien oder Intrigen zu hören […] Übrigens habe ich
mein Urteil seitens der Fürstin und des Fürsten
Bismarck vollkommen bestätigt gefunden, was mich doppelt
erfreute.71
Mit Blick auf den vertraulichen Ton ihrer
(insbesondere jedoch Eulenburgs) Briefe und auf die bisexuelle
Neigung Eulenburgs, die später mit katastrophalen Folgen in der
Presse publik gemacht wurde, haben manche Historiker über die
Möglichkeit einer sexuellen Beziehung zwischen dem Kaiser und
seinem Freund spekuliert. Angesichts dessen, was wir sonst über
Wilhelm wissen (seine Konventionalität in sexuellen Fragen; der
sporadische Charakter des Kontaktes zu Eulenburg), erscheint dies
jedoch äußerst unwahrscheinlich; und man braucht auch
gar keine solche Beziehung zu unterstellen, um den Charakter der
Verbindung oder ihre politische Bedeutung zu erklären. Eulenburg
beherrschte ganz einfach meisterhaft die Kunst, Freundschaften zu
knüpfen, und war ein überaus geschickter Höfling. Seine Briefe
kombinierten findig das Frivole mit dem Politischen,
Speichelleckerei und Liebesbekundungen mit zarter, aber ernster
Kritik. Mit ihrer gekünstelten Informalität lenkten Eulenburgs
Briefe fortwährend die Aufmerksamkeit auf die persönliche,
unmittelbare Natur ihrer Beziehung: »Ich leide
wirklich darunter, Ew. Majestät immer wieder mit diplomatischen
Schnallenschuhen zu nahen, statt mit der Büchse im Arm oder mit
einem Liederheft in der Hand.«72
Eulenburg erkannte instinktiv, wie er bis zu
einem gewissen Grad gegen die Regeln verstoßen durfte, um die
Intimität zwischen sich und dem Kaiser zu vertiefen. Ein
charakteristischer Brief aus dem Februar 1894 enthielt Skizzen aus
dem Leben am bayerischen Hof in der Faschingszeit: Ballgäste mit
Bäuchen und schweißtriefenden Gesichtern, bei einer
»Ehren-Française« »flogen die Busen« der älteren Damen, die Gräfin
Oster-Sacken, deren »Unterlippe hing fast bis an die Broche [sic!]
– die Ordenssterne klapperten, als trabten Kürassiere, und in
langen Strähnen hingen die nassen Haare über die
Stirne«.73 Ein anderer Brief schildert
detailliert eine Militärparade in München, deren Verlauf durch die
vergeblichen Bemühungen zweier Bullen, sich direkt vor den
Kronprinzessinnen gegenseitig zu besteigen, gestört wurde. Diese
Briefe sind Meisterstücke des kontrollierten Regelverstoßes: so
unanständig, dass sie amüsieren, ohne zu verletzen, und gepfeffert
mit einer Portion Frauenfeindlichkeit. Den Schreiber ebenso wie den
Leser versetzten sie in einen privilegierten, geradezu
konspirativen Raum, der über dem lächerlichen Gekasper und eitlen
Getue der Höfe stand. Da ist es kein Wunder, dass Eulenburg einen
Posten am Hof mit der Begründung ablehnte, seine Beziehung zum
Kaiser könne besser über Briefe als über den täglichen,
persönlichen Kontakt gepflegt werden.
In Wirklichkeit war Eulenburgs Zuneigung zum
Kaiser, so aufrichtig sie war, nie völlig unbefleckt von dem
Ehrgeiz gewesen, Einfluss zu nehmen. Bereits im August 1886
berichtete Eulenburg Herbert von Bismarck, dass er fünf Tage mit
Prinz Wilhelm in München verbracht habe: »Ich habe, fußend auf das
Vertrauen, das er mir schenkt, die Zeit dazu genutzt, um gegen
seine englischen Antipathien zu kämpfen.«74 Eulenburg stand Wilhelm während des
Machtkampfes gegen Bismarck mit Rat und Tat zur Seite; nach dem
Sturz des Kanzlers entpuppte er sich, anfangs gemeinsam mit
Holstein, später mit Bernhard von Bülow, als Drahtzieher hinter den
Kulissen mit einem beispiellosen Einfluss, der dem Kaiser
Informationen zukommen ließ, Kandidaten für hohe Ämter empfahl und
den Monarchen durch politische Krisen steuerte. Eulenburg schlug
seinen engen Freund Bernhard von Bülow zunächst für das Amt des
Staatssekretärs der auswärtigen Angelegenheiten und später für das
Kanzleramt vor. Wie wir noch sehen werden, war es außerdem Philipp
Eulenburg, der Wilhelm in dem heftigen Streit mit seinen Ministern
um die Reform der Militärjustiz 1895 leitete. Eulenburg war laut
John Röhl kein Geringerer als der Architekt des »persönlichen
Regiments im guten Sinn« durch den Kaiser nach 1897.75
Die Bedeutung dieser Ratschläge für den Souverän
lässt sich nicht leugnen. Aber wir sollten uns vor Augen führen,
dass die Beziehung zwischen Wilhelm und seinen Helfern hinter den
Kulissen ein wichtiges Element der Abhängigkeit enthielt. Wie Carl
Schmitt beobachtet hat, hat die Machtverteilung unter dem Souverän
und seinem Berater stets zwei Seiten: Wer die Macht hat, braucht
Ratschlag, und wer Rat erteilt, hat zugleich Teil an der
Macht.76 Die politische Arbeit
Eulenburgs und seiner Mitarbeiter ist hierfür ein Musterbeispiel,
weil sie die Initiativen des Kaisers ebenso häufig lenkten und
zügelten, wie sie diese forcierten.77
Im September 1890 beispielsweise überredete Eulenburg den vor Wut
schäumenden Wilhelm, bei der Wahl Max Forckenbecks zum
Bürgermeister von Berlin nachzugeben. Hier und da musste Eulenburg
den Kaiser auch wegen seines taktlosen
Auftretens in der Öffentlichkeit tadeln – eine Aufgabe, der er
sich mit erstaunlicher Begeisterung und Offenheit widmete. Von Fall
zu Fall konnte sich die Beziehung zu Eulenburg auch dahingehend
auswirken, dass die Handlungsfreiheit des Monarchen eingeschränkt
wurde, indem seine Optionen, ohne sein Wissen, fingiert wurden. Im
Herbst 1892 unterstützten zum Beispiel Holstein auf der einen Seite
und Wilhelm und Caprivi auf der anderen verschiedene Kandidaten für
den Botschafterposten in St. Petersburg. Es wurde eine komplexe
Intrige gesponnen, um dem Monarchen die Initiative aus der Hand zu
nehmen: Holstein bat Eulenburg, den russischen Botschafter in
München zu ersuchen, dass er doch den Zaren bitten möge, gegenüber
Caprivi eine Vorliebe für General Bernhard von Werder, also
Holsteins Kandidat, zu äußern. Gleichzeitig überzeugte Eulenburg
Wilhelm, dass eine Ablehnung des Wunsches des Zaren einer
Beleidigung gleichkäme. Dieses außergewöhnliche Manöver hatte
Erfolg. Eine ähnlich weitverzweigte Intrige musste 1893 angezettelt
werden, um Wilhelm davon abzubringen, den Botschafterposten in Rom
einem seiner von ihm geschätztesten Militärattachés anzuvertrauen.
Wilhelms Beziehung zu dem kleinen Freundeskreis hatte folglich
einen typisch zweischneidigen Charakter: Ermächtigung und
Unterstützung gingen einher mit Einschränkung und Lenkung des
Souveräns.
Kaiser gegen Minister: die Köller-Krise
In Wilhelms Augen hatte das Grundproblem der
Kanzlerschaft Caprivis in dem unbeugsamen Charakter des Kanzlers
gelegen. In seinen vier Amtsjahren reichte Caprivi nicht weniger
als fünf Mal seinen Rücktritt ein, »so oft der Kaiser etwas
Entscheidendes gewollt« hatte.78 Mit
der Berufung des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst auf
dessen Platz war die Hoffnung verbunden, eine völlig andere
Beziehung zwischen dem Souverän und dessen erstem Minister
einzuleiten. Wie John Röhl
ausgeführt hat, war es wegen Hohenlohes fortgeschrittenen Alters
(75 Jahre), seiner versöhnlichen Art, der Abhängigkeit von
diskreter finanzieller Unterstützung durch den Kaiser und wegen der
engen Blutsbande zur königlichen Familie (Wilhelm sprach ihn mit
»Onkel« an) unwahrscheinlich, dass dieser eine so distanzierte, die
Konfrontation suchende Haltung wie Caprivi als Kanzler einnehmen
würde.79 In einem Brief an Philipp
Eulenburg brachte Wilhelm seine Zufriedenheit zum Ausdruck: »Ich
bin so glücklich mit dem alten Hohenlohe, alles geht so schön und
bequem; sowie einer von uns was will, wird gleich ein kleiner
Noten- oder Worteaustausch gemacht, so dass nichts hinter den
Kulissen geschehen kann! Dass ich mich wie im Paradiese
fühle.«80
Einmal mehr sollte die anfangs harmonische
Stimmung jedoch nicht lange Bestand haben. Nur wenige Monate nach
der Berufung geriet Wilhelm in einen heftigen Streit mit der neuen
Regierung. Der Grund dafür lag diesmal weniger in der
Persönlichkeit des Kanzlers als im wachsenden Unmut des
Ministeriums. Die Minister hatten zwei Hauptbeschwerden: Erstens
hatten sie das Gefühl, dass sie durch Kräfte umgangen würden, die
dem Thron näher standen. Wilhelm machte beispielsweise kein Hehl
daraus, dass er den Rat Wilhelm von Hahnkes, seines Chefs des
Militärkabinetts, dem Rat des preußischen Kriegsministers Walter
Bronsart von Schellendorf vorzog. Im Gegensatz zu seinem
»unverantwortlichen« Kollegen musste Letzterer im Parlament für die
Regierungspolitik Rede und Antwort stehen. Zweitens meinten die
Minister, Wilhelms offen ablehnende Haltung gegenüber dem Zentrum
beeinträchtige ihre Effektivität im Parlament. Mehrere Minister,
allen voran der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Adolf Freiherr
Marschall von Bieberstein, und Bronsart, vertraten die Ansicht,
dass eine konstruktivere Beziehung zwischen Regierung und Parlament
nur dann zustande komme, wenn durch die Erfüllung der legitimen
Anliegen der katholischen Kirche ein »vollkommener Zustand von
Friede und Eintracht« mit ihr erreicht werde.81 Aber Wilhelm blieb – bestärkt
von Elementen in seinem Gefolge – weiterhin bei seiner Meinung,
dass alle Zugeständnisse an die Katholiken Unruhe unter den
gebildeten Schichten der Nation schaffen würden. Er vereitelte
außerdem eine Annäherung, indem er die Atmosphäre mit öffentlichen
Äußerungen und Auftritten vergiftete, die darauf abzielten, die
Führung des Zentrums abzuschrecken. »Die Stellung der Minister sei
ganz unmöglich«, beklagte sich Bronsart im Februar 1895, »man mühe
sich mit dem Parlament ab, tue was man könne, um etwas zustande zu
bringen, und dann zerstören anonyme Ratgeber wieder alles; so
könnten die Dinge nicht weitergehen.«82
Im Frühjahr und Sommer 1895 trug ein heftiger
Streit um die vorgeschlagenen Reformen des preußischen
Militärstrafgesetzes dazu bei, den Unmut der Minister gegen den
Monarchen zu bündeln. Der umstrittenste Aspekt der vorgeschlagenen
Reform betraf die Zulassung der Öffentlichkeit zu Kriegsgerichten.
In Frankreich, Italien, Großbritannien und sogar in Russland waren
nach den geltenden Bestimmungen zumindest in manchen Prozessen
öffentliche Anhörungen vorgesehen. Dasselbe galt für Bayern seit
1869. Der Reichstag hatte 1889 und 1892 Anträge verabschiedet, die
eine Reform auf diesem Feld forderten. Doch die preußische
Militärjustiz hielt sich immer noch an den antiquierten Codex von
1845 und ließ unter keinen Umständen öffentliche Anhörungen zu. Die
Prozesse wurden im Geheimen abgehalten, die Richter waren
ausnahmslos Offiziere, und ein Verteidiger wurde dem Angeklagten
häufig verwehrt. Die Einleitung und oft auch der Ausgang des
Verfahrens hingen von der Laune des Standortkommandanten ab. Eine
Reform war längst überfällig und wurde von Bronsart und Hohenlohe
energisch befürwortet. 83
Wilhelms unnachgiebige Weigerung, derartige
Reformen zu billigen, löste die wohl ernsteste politische Krise der
neunziger Jahre aus. Seine Unnachgiebigkeit war zum großen Teil auf
den Einfluss der militärischen Entourage zurückzuführen, die sich
im Laufe der Krise – in einzigartiger Weise – als eigener
politischer
Faktor entpuppte. Wie alle seine Vorgänger im 19. Jahrhundert war
auch Wilhelm von unzähligen Militärs umgeben: Flügeladjutanten,
Generaladjutanten, Generäle und Mitglieder des Militär- und des
Marinekabinetts. Dieses uniformierte Gefolge war ein relativ loses
und disparates Gremium. Wie Isabell Hull jedoch in ihrem
Standardwerk über die Entourage Wilhelms nachweist, bewirkte die
drohende Reform der Militärjustiz eine noch nie da gewesene
politische Mobilisierung. Der Chef des Militärkabinetts Wilhelm von
Hahnke organisierte eine eindrucksvolle Kampagne gegen die
Vorschläge Bronsarts, in der das ganze Gefolge, bis hin zum
unscheinbarsten Flügeladjutanten, geschlossen gegen das Ministerium
auftrat. Tatsächlich taten sie dies mit einer Einmütigkeit und
Zielstrebigkeit, von der sich Wilhelm allem Anschein nach
beeinflussen ließ. Anfangs war er mit Sicherheit gegen den
Gesetzentwurf, vor allem weil er Klauseln enthielt, die sein Recht,
Gerichtsurteile zu bestätigen oder zu verwerfen, abschwächen
sollten, aber es spricht manches dafür, dass er 1895 mehrmals
versuchte, sich aus dem Engagement für geheime Gerichtsverfahren
herauszuwinden. Allerdings wurde er durch den Druck der
Lobbygruppe, die innerhalb des Gefolges agitierte, immer daran
gehindert. Der Großherzog von Baden meinte dazu: »Ich darf dabei
nicht unerwähnt lassen, dass der Reichskanzler einen sehr
maßgebenden Einfluss in militärischen Dingen als von
Generaladjutant von Hahnke ausgehend bezeichnet und dabei fürchtet,
daß der Kaiser bei Besprechung solcher Fragen
vor seiner Umgebung sich in manchen entscheidenden Punkten gebunden
fühlt. In solcher Lage ist es doppelt schwierig, die gefassten
Entschlüsse zu modifizieren.«84 Auch
hier begegnen wir der Dialektik der Ermächtigung und Einschränkung,
die für Wilhelms Erfahrung mit dem souveränen Amt so
charakteristisch war.
Im ganzen Frühjahr und Sommer 1895 sah sich
Wilhelm mit einem Ministerium konfrontiert, das sich weigerte, die
Reformvorschläge auf die lange Bank zu schieben. Dieses Patt
leitete die »Köller-Krise« vom Herbst 1895 ein, die einige
Historiker
als Wendepunkt in Wilhelms Herrschaft bezeichnet haben. Im Grunde
brach die Krise aus, als deutlich wurde, dass jemand Details
vertraulicher Ministergespräche zur Militärstrafrechtsreform dem
Kaiser und Mitgliedern seines militärischen Gefolges hinterbracht
hatte. Der Verdacht fiel sofort auf den erzkonservativen
Innenminister Ernst Matthias von Köller. Seit seiner Ernennung im
Herbst 1894 war Köller als Mann des Kaisers im Ministerium
angesehen worden und hatte eine Reihe der weltfremden, persönlichen
Anliegen Wilhelms energisch verfochten, etwa einen Vorschlag,
despektierliche Äußerungen über die Person Wilhelms I. unter Strafe
zu stellen. Mit seiner begeisterten Unterstützung für derartige
Initiativen hatte sich Köller unter den Ministern überaus unbeliebt
gemacht. Entsprechend groß war die Empörung, als die
Nachforschungen ergaben, dass Köller in seinem Eifer, die Reform zu
vereiteln und die Autonomie des Throns zu erhalten, Informationen
über seine Kollegen weitergegeben hatte. Nach kurzem Zögern wurde
Kanzler Hohenlohe überredet, im Namen des ganzen Ministeriums
förmlich das Gesuch zu überreichen, dass der Kaiser Köller
entlasse. Wilhelm lehnte das schroff ab mit der Begründung, dieses
Gesuch stelle einen Eingriff in die königlichen Prärogative dar. Er
»erklärte bestimmt und in wenig verbindlicher Form, dass er Köller
nicht entlassen werde«, notierte Hohenlohe am 28. November 1895 in
sein Journal.85
Erstaunlicherweise blieben die Minister aber bei
ihrer Forderung und drängten den Kaiser, nachdem sie Köller selbst
zum Rücktritt hatten bewegen können, dessen Rücktritt auch zu
akzeptieren. Zu allem Übel lehnten sie anschließend alle Kandidaten
ab, die Wilhelm als mögliche Nachfolger favorisierte. Dieser
Frontalangriff auf die Handlungsfreiheit des Monarchen auf einem
Feld – nämlich dem der Ernennungen -, das für die Machtausübung so
entscheidend war, erschütterte und empörte Wilhelm. Er schrieb
seinem Kabinettssekretär Hermann von Lucanus:
Eine zweimalige Mitteilung meinerseits, dass mein
Vertrauen zu K[öller] nicht erschüttert und somit für mich kein
Grund lag, denselben zu entlassen, ist vom Staatsministerium
einfach übergangen und durch einen Boykott des K[öller] mit Dilemma
der Entlassung desselben oder aller für mich beantwortet worden.
Der Fall ist in der preußischen Geschichte unerhört. Geht er
ungerügt durch, ist damit ein sehr gefährliches Präzedenz
geschaffen, indem jeder beliebige Minister, obgleich von mir
angestellt, durch Staatsministerialintrigue […] an die Luft gesetzt
werden kann.86
Kurzfristig erschien die »Köller-Krise« als ein
Sieg für das Prinzip der kollegialen Regierung über den launischen
Interventionismus Wilhelms II. Doch der Sieg hatte nicht lange
Bestand. Langfristig war das Ministerium viel zu uneinig, um
solidarisch den Einmischungen des Monarchen entgegenzutreten. Sein
Zusammenhalt wurde nicht nur von auseinandergehenden Meinungen zur
Politik untergraben, sondern auch von den politischen Ambitionen
einzelner Minister wie Miquel und Posadowsky, die auch nach 1895
wie schon zuvor die Gunst des Kaisers für ihre eigenen Projekte und
Karrieren ausnutzten. Ein weiterer, struktureller Grund für die
Fügsamkeit der Minister lag in ihrer besonderen Stellung zwischen
Parlament und Exekutive. Auf wen konnten die Minister sich denn
stützen, wenn nicht auf den Monarchen? »Ohne Autorität ist keine
Regierung möglich«, stellte Hohenlohe später treffend fest. »[…]
Ich kann nicht gleichzeitig gegen die öffentliche Meinung und gegen
den Kaiser regieren. Gegen den Kaiser und die Öffentlichkeit
regieren heißt in der Luft schweben. Das geht nicht.«87 Gerade weil das politische Spektrum so
zersplittert war und weil die Minister eben nicht, wie etwa im
damaligen Großbritannien, durch die Parteimitgliedschaft eine
parlamentarische Mehrheit hinter sich wussten, waren sie desto
stärker auf die Exekutive angewiesen, sprich: auf die persönliche
Gunst des Monarchen. Im Frühjahr 1896 war der Aufstand der Minister
zusammengebrochen, und die Krise war vorüber.
Nach den Rückschlägen in der Affäre um Köller
arbeiteten Wilhelm und Philipp Eulenburg an einer geheimen
Strategie
zur Wiederherstellung der Autorität der Monarchie. In einer
außerordentlichen Denkschrift vom August 1896 erörterte Eulenburg
eine ganze Palette von Optionen, zu denen selbst ein Staatsstreich
zählte, wählte seine Argumente aber sorgfältig so, dass er den
Kaiser zu einem verfassungsmäßigen Kurs drängte.88 Sein Ziel war es, die Stellung des Monarchen zu
stärken, indem er offene Konfrontationen mied und eine
harmonischere und hierarchisch gegliederte Beziehung innerhalb des
Ministeriums schuf. Der Schlüssel zu dieser Strategie sollte die
Ablösung des eigenwilligen Außensekretärs Marschall – zu einem
geeigneten Zeitpunkt – durch Eulenburgs engen Freund Bernhard von
Bülow sein, damals deutscher Botschafter in Rom. Nach einer
angemessenen Wartezeit wäre es anschließend möglich, den betagten
Hohenlohe in den Ruhestand zu entlassen und Bülow zum Kanzler zu
ernennen.
Dieser Plan wurde schon bald in die Tat
umgesetzt. Im Jahr 1896/97 leitete Wilhelm eine umfassende
Säuberung des Ministeriums ein. Der Handelsminister Hans Hermann
Freiherr von Berlepsch, der einst Wilhelms Arbeiterreformen
unterstützt hatte, aber in jüngster Zeit in Ungnade gefallen war,
wurde 1896 ebenso entlassen wie der Kriegsminister Bronsart. Die
Ernennung Bülows zum Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten
folgte im Oktober 1897. Ferner gab es – von Wilhelm selbst
vorgeschlagene – Neubesetzungen des Reichsamtes des Inneren und des
Reichspostamtes. Eine weitere Ernennung, deren epochale Bedeutung
erst später deutlich werden sollte, war die Berufung des Admirals
Alfred von Tirpitz zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes.
Hohenlohe blieb bis 1900 Kanzler, aber er war ausgebrannt. Bülow
drängte sich nach und nach zwischen Kaiser und ersten Minister und
usurpierte Hohenlohes Zuständigkeitsbereiche. 89
1897-1900: Wilhelm am Steuer?
Nachdem Hohenlohe als politische Kraft mehr oder
weniger ausgeschaltet war, die Minister untereinander zerstritten
waren und die »Männer des Kaisers« viele Schlüsselbehörden
kontrollierten, schienen die Haupthindernisse für Wilhelms Dominanz
innerhalb der Exekutive aus dem Weg geräumt. Eine Veränderung im
Kräftegleichgewicht zwischen dem Monarchen und dem Ministerium war
bereits deutlich zu spüren: Der Kronrat (Sitzungen des preußischen
Ministeriums in Anwesenheit des Monarchen) tagte immer häufiger.
Die Minister wurden nicht im eigentlichen Sinn »zu Rate gezogen«,
sondern hörten zu, während sich Wilhelm über Themen ausließ, die
für ihn von Interesse waren, und Befehle und Vorschläge von sich
gab, welche sich die Minister pflichtgetreu notierten.90
Ein weiteres Indiz dafür, dass Wilhelm seine
eigene Rolle immer weiter ausdehnte, war die verstärkte
Bereitschaft, sich und die Regierung öffentlich auf einen
bestimmten Kurs festzulegen. Am 6. September 1898 kündigte Wilhelm
während der Manöver in Westfalen, vermutlich unter dem Einfluss der
Hardliner in seinem militärischen Umfeld, einen Gesetzentwurf »zum
Schutz der Arbeitswilligen« an. Das Gesetz sollte Männer und Frauen
rechtlich schützen, die während eines Streiks weiter zur Arbeit
gingen. In seinem charakteristischen Überschwang erklärte Wilhelm,
dass jeder, »der einen deutschen Arbeiter, der willig ist, seine
Arbeit zu vollführen, daran zu hindern sucht, oder gar zu einem
Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll«. Diese
unglückliche Formulierung wurde prompt von der Presse übernommen,
und der Gesetzentwurf zum »Schutz des gewerblichen
Arbeitsverhältnisses«, dessen erste Fassungen Wilhelm eigenhändig
redigiert hatte, wurde unter der Bezeichnung »Zuchthausvorlage«
bekannt. Zu den persönlichen Initiativen Wilhelms zählte auch eine
Gesetzesvorlage, die den Bau eines Kanals anregte. Die
industriellen Provinzen Preußens im Westen sollten durch den Kanal
mit dem agrarischen Osten verbunden
und so die Verschiffung von Waren von der Oder bis zum Rhein
ermöglicht werden. Die »Kanalvorlage« beherrschte die preußische
Politik im Sommer 1899 und wurde von Wilhelm leidenschaftlich
verteidigt, weil sie in mehrfacher Hinsicht mit seiner eigenen
Auffassung von der Mission des Monarchen als dem herausragendsten
Vermittler zwischen den wirtschaftlichen, kulturellen und
provinziellen Interessen (in diesem Fall des katholischen,
industriellen Westens und des protestantischen, agrarischen Ostens)
im Einklang stand, welche die Einheit und den Zusammenhalt des
deutschen Staates bedrohten.91 Auf
diese Weise wurde das »persönliche Regiment« – hier im Sinne eines
Regierungsprogramms, nicht einer vollendeten Tatsache – zum
»Bestandteil einer sich ändernden Verfassungswirklichkeit«, wie
Volker Ullrich schreibt.92
John Röhl wies in einer Untersuchung aus dem
Jahr 1967 darauf hin, dass die Neubesetzung von Ministerposten
1896/97 eine neue Phase in der Herrschaft Wilhelms einleitete, die
von dem »persönlichen Regiment« des Monarchen gekennzeichnet sei:
»Nicht 1890, sondern erst 1897 war das entscheidende Jahr für
Wilhelms II. Regierung. Jetzt hatte er sein Ziel erreicht, er
bestimmte die deutsche Politik, ohne sich in die Pläne der
Ressortchefs einschalten zu müssen.« In neueren Untersuchungen
beschrieb Röhl den »Durchbruch« des Kaisers im Sommer 1897 »zur
vollen Entscheidungsgewalt«. Danach habe Wilhelm II., so Röhl, über
eine »uneingeschränkte Entscheidungsgewalt« verfügt. 93 Es trifft zwar sicherlich zu, dass Wilhelm sich
nach 1897 häufiger und mit mehr Zuversicht in die Politik
einmischte und dass es dem Ministerium schwerer fiel, sich seinen
Initiativen zu widersetzen, als noch Anfang und Mitte der neunziger
Jahre, aber es wäre ein Fehler, das Jahr 1897 als einen
grundlegenden Bruch in der Regierungsform des deutschen Systems
anzusehen. Die Minister beschwerten sich zwar, dass sie von einem
Monarchen übergangen würden, der den Rat seiner Kabinettchefs und
unverantwortlichen Berater vorzog, aber darüber hatten sie sich
schon Anfang der neunziger Jahre beschwert.
In Wirklichkeit hatte sich kaum etwas
geändert.94 Gesetzesvorlagen mussten
immer noch in Verhandlungen mit den Ministern ausdiskutiert werden;
sie konnten wie die »Zuchthausvorlage« ohne vorherige Rücksprache
angekündigt werden, aber sie konnten ohne
umfassende Einbindung der Minister nicht ins Parlament eingebracht
werden. Immerhin war es ihre Aufgabe, die neuen Vorlagen vor der
Legislative zu verteidigen. Überdies wäre es ein Irrtum, die von
Wilhelm Ende der neunziger Jahre befürworteten Gesetzesvorlagen in
einem krassen Gegensatz zu den Prioritäten der Minister zu sehen.
Die Kanalvorlage von 1899 wurde – laut Bülow95 – im preußischen Ministerium erörtert, bevor
sie vom Kaiser aufgegriffen wurde. Der provokativen
»Zuchthausvorlage« von 1898 wurden in den langwierigen
Verhandlungen mit den Ministern die spitzesten Zähne gezogen.
Darüber hinaus gelang es den Ministern, Wilhelms radikalere
Versuche, das Ministerium seiner persönlichen Kontrolle zu
unterstellen, zu vereiteln. Dazu zählte etwa der durchsichtige
Vorschlag, ein Mitglied seines Zivilkabinetts zum Chef des
Ministerialbüros zu ernennen – ein Sekretärsposten, von dem aus es
möglich gewesen wäre, den Monarchen über den Verlauf der
Diskussionen zu informieren.96
Jedenfalls bedeutete ein Sieg des Kaisers über
widerspenstige Minister – und das ist vielleicht das Entscheidende
– nicht unbedingt einen Sieg für die Positionen, die er persönlich
vertreten hatte. Das zeigt sich etwa an der Lösung der Diskussion
um das Militärstrafrecht. Auch nach der personellen Umbesetzung
bekundete Wilhelm ein volles Jahr lang lautstark seinen erbitterten
Widerstand gegen die Reformvorlage; dennoch enthielt das Gesetz,
das im Dezember 1898 verabschiedet und unterzeichnet wurde,
wichtige Zugeständnisse zum liberalen Standpunkt bezüglich der
Öffentlichkeit der Kriegsgerichte.97
Tatsächlich sah sich Wilhelm mit einem System konzentrischer
Beschränkungen konfrontiert. Selbst wenn er einen betagten Kanzler
lähmen und demoralisieren konnte (was ihm bei Hohenlohe bis Ende
1898 weitgehend gelungen war), hatte er es noch mit den Ministern
zu tun. Und selbst wenn er die Minister dazu bringen konnte, wider
besseres Wissen seine Initiativen zu unterstützen (was ihm zwischen
1897 und 1900 in manchen Fällen, aber gewiss nicht immer gelang),
so kam danach noch die lästige Legislative, ganz zu schweigen von
der öffentlichen Meinung, deren Bedeutung für ihn kaum hoch genug
veranschlagt werden kann. Die »Zuchthausvorlage« nahm im November
1899 in den Reichstagsdebatten ein böses Ende. Mit besonderer Häme
wurden die drakonischen Strafen überschüttet, die gemäß Paragraf 8
der Vorlage vorgesehen waren; der voller Eifer von Wilhelm
verfasste und gegen den energischen Protest der Minister auf sein
Beharren hin beibehaltene Paragraf 8 wurde vom Reichstag in dem
ersten und einzigen, einstimmigen Votum seiner Geschichte
abgelehnt.98
Ein ebenso erniedrigendes, wenn auch in die
Länge gezogenes Schicksal erwartete die »Kanalvorlage«. Der
Agrarflügel der konservativen Partei und seine
Schwesterorganisation, der außergewöhnlich erfolgreiche Bund der
Landwirte, sahen in dem geplanten Kanalsystem eine Innovation,
welche den gebeutelten Agrarsektor der Konkurrenz billigen
Getreides aus dem Ausland aussetzen und zudem Arbeitskräfte aus den
ostelbischen Gütern in die Industriezentren der westlichen
Provinzen abziehen würde. Am 16. August 1899 wurde die Vorlage in
der zweiten Lesung von einer deutlichen Mehrheit des preußischen
Landtags abgelehnt (275:134 Stimmen).99
Dieses Scheitern war nicht allein auf die tatkräftige Kampagne der
Konservativen zurückzuführen, sondern auch auf die Weigerung der
Minister, den umstrittenen Zugeständnissen zuzustimmen, die
notwendig gewesen wären, um die Konservativen mit dem Kanalprojekt
zu versöhnen100 – ein Beweis dafür,
dass die größere Unabhängigkeit der Minister, die auf die
Entmachtung Hohenlohes zurückzuführen war, einer erfolgreichen
Umsetzung der kaiserlichen Initiativen auch im Wege stehen konnte.
Wilhelm hatte sich mehrfach öffentlich für das Projekt
ausgesprochen und verfolgte aufmerksam die täglichen Presseberichte
über die parlamentarische Debatte.
Das war ein Thema, das seinem Anspruch an eine technokratische
Herrschaftsform gerecht wurde, die eigentlich imstande sein müsste,
den Parteienstreit der Politik zu überwinden. Das Scheitern
erschütterte ihn so sehr, dass seine Frau sich veranlasst sah,
Bülow um seinen Beistand zu bitten:
In meiner Angst komme ich zu Ihnen. Gestern Abend
musste ich den Kaiser in großer Aufregung und Betrübnis leider
abreisen lassen, nach Metz und Saint-Privat. Diese unglückselige
Kanalvorlage! Wenn Sonnabend [dem Tag der dritten und letzten
Lesung] auch eine ungünstige Entscheidung fällt, weiß ich nicht,
was passiert. Ach, könnten Sie dem Kaiser nicht einen etwas
beruhigenden Brief schreiben? Es ist wirklich nötig! […] Ach, es
ist ein schlimmer Sommer gewesen! Gott helfe weiter.101
Wilhelm hätte theoretisch, nachdem die Vorlage
auch bei der dritten Lesung durchfiel, den Landtag auflösen können.
Aber selbst diese letzte Waffe im Arsenal des deutschen Monarchen
hätte ihm nicht zum Erfolg verholfen, weil die einzige Folge ein
mit Sicherheit deutlich liberalerer Landtag gewesen
wäre.102 Also wandte sich Wilhelm
stattdessen gegen jene konservativen Verwaltungsbeamten (die
»Kanalrebellen«), die sich in ihrer Funktion als Abgeordnete
geweigert hatten, die Regierung bei dem Gesetzentwurf zu
unterstützen. Mit seinen weitreichenden disziplinarischen
Befugnissen, welche ihm nach der preußischen Verfassung zustanden,
stellte er eine Reihe kompromittierter Beamter »zur Disposition«
(d. h. sie waren ihres Amtes enthoben, ohne sie aus dem
Staatsdienst zu entlassen). Eine derartige kollektive Strafmaßnahme
gegenüber Verwaltungsbeamten hatte es in der preußischen Geschichte
noch nie gegeben.103 Der Widerstand der
Konservativen gegen den Kanal wurde dadurch nicht gebrochen, und
die Maßnahmen stießen auf allgemeine, empörte Ablehnung. So gut wie
alle Parteien waren sich einig, dass der Monarch zwar befugt war,
Staatsdiener ohne Angabe eines Grundes zu entlassen (Art. 87,
Absatz 2), dass die Strafentlassung insbesondere dieser
Staatsdiener jedoch verfassungswidrig sei, weil sie die
parlamentarische Immunität verletze, die von der preußischen
Verfassung garantiert sei (Art. 84, Absatz 1). Die Kanalvorlage
scheiterte auch im Mai 1901 in einer abgeänderten Fassung; und die
»Kanalvorlage«, die im Jahr 1904 schließlich in Kraft trat, war
lediglich ein Abklatsch des ursprünglichen Projekts, weil sich der
geplante Kanal nur vom Rhein über Dortmund bis nach Hannover
erstreckte. Die vom Souverän so leidenschaftlich verfochtene, große
Idee eines Wasserwegs, der die geographischen und kulturellen Pole
des Reiches miteinander verband, musste ein für alle Mal aufgegeben
werden.104
Schlussfolgerung: Macht und Zwänge
Wilhelms Auseinandersetzungen mit den Ministerien
unter Caprivi und Hohenlohe sowie seine gescheiterten Initiativen
Ende der neunziger Jahre warfen ein Schlaglicht auf einige externe
Zwänge, durch die der Monarch gebunden war. Die Errichtung eines
»populären Absolutismus«, wie er Wilhelm vorschwebte, ließ sich
schlichtweg nicht mit den komplexen und dynamischen Strukturen des
deutschen Staatswesens vereinbaren. In diesem Sinne blieb das
»persönliche Regiment« zwar ein lästiges Ärgernis für die Minister
und ein Faktor bei Entscheidungsprozessen, aber dennoch, in
Hans-Ulrich Wehlers Worten, ein »systemwidriges
Experiment«.105 Die Vorstöße Anfang und
Mitte der neunziger Jahre deckten zugleich die Grenzen der eigenen
Fähigkeit Wilhelms auf, seine Macht wirksam einzusetzen. Wilhelm
war geradezu peinlich indiskret – ein verhängnisvoller Fehler in
einem politischen System, in dem der Erfolg von Gesetzesinitiativen
häufig von der sorgfältig dosierten Preisgabe von Informationen
abhing. Seine extreme Abwehrhaltung und Grobheit, wenn er das
Gefühl hatte, seine Autorität sei bedroht, standen einer
kooperativen Beziehung mit allen Staatsdienern mit Ausnahme der
geschicktesten Untergebenen im Wege. Es mangelte ihm an
Objektivität, wie Bernhard von Bülow, gewiss nicht der
schärfste Kritiker Wilhelms, in einem Brief an Eulenburg treffend
bemerkte: »Es ist ein Unglück, dass der geliebte, hochbegabte
Kaiser so leicht übertreibt, Seinem Temperament und bisweilen
seiner Phantasie zu sehr die Zügel schießen lässt.«106
Wilhelm erfasste rasch den Inhalt der Berichte,
insbesondere wenn sie knapp und geistreich vorgetragen wurden, aber
er war nie wirklich ein »zupackender« Monarch, der sich
diszipliniert und systematisch mit den Staatsangelegenheiten
auseinandersetzte. Die alltäglichen Routinegeschäfte wurden von den
ständigen Reisen gestört: Wilhelm verbrachte weniger als die Hälfte
seiner Herrschaft in Berlin und Potsdam.107 Bereits im Jahr 1889 vermerkte General
Waldersee: »die vielen Reisen, die rastlose Tätigkeit, die
zahlreichen und verschiedenartigen Interessen haben zur natürlichen
Folge einen Mangel an Gründlichkeit«; es gab weder eine feste
Ordnung in der Erledigung der Angelegenheiten noch einen Zeitplan,
in dem bestimmte Stunden des Tages besonderen Aufgaben vorbehalten
waren.108 Wilhelms Abneigung – oder
Unfähigkeit -, sich allgemein über die Entwicklung der Politik zu
informieren, hatten zur Folge, dass seine Interventionen häufig
nichts mit dem allgemeinen Trend der Politik zu tun hatten. Deshalb
erschienen die Initiativen auch bizarr und selbst dann fehl am
Platze, wenn ihr Inhalt eher unscheinbar war. Im Sommer 1893 wies
Friedrich von Holstein darauf hin, dass die öffentliche Meinung dem
Kaiser eine beunruhigende Kombination aus»Reisewut, Arbeitsscheu,
Frivolität« vorwarf. Er mahnte, allgemein werde ein starker Kanzler
gewünscht, der »die Launen« des Kaisers zu bändigen
vermag.109
Diese Mängel waren zum Teil darauf
zurückzuführen, dass es Wilhelm völlig an Beständigkeit und
Selbstdisziplin fehlte, zum Teil aber auch auf die Notwendigkeit,
die Fassung wiederzugewinnen, indem er sich von Zeit zu Zeit von
der Bühne zurückzog – ein Bedürfnis, das durch die Neigung, unter
Druck in Panik zu geraten, desto deutlicher zutage trat. In einem
vielsagenden Brief an Eulenburg, den er mitten in einer
Auseinandersetzung mit dem Ministerium im Februar 1895 schrieb,
entschuldigte sich
Wilhelm dafür, dass er auf dem Höhepunkt der Krise in seiner
Jagdhütte in Hubertusstock weilte. Er fügte aber hinzu, dass man,
wenn die Lage sich zuspitze, »auf Momente heraus [muss], um sich
kalt Blut und klares Urteil zu bewahren. Denn absolut gerecht will
ich alle Vorfälle beurteilen können.«110 Das Resultat dieser seltsamen Mischung aus
Abwesenheit und periodischen Einmischungen, aus Lethargie und
unvermittelten Eruptionen von Tatendrang war ein monarchischer
Regierungsstil, der zunehmend dem seines russischen Vetters
Nikolaus II. ähnelte. Über den Zaren schrieb der Staatsrat A. A.
Polowzow im Juli 1901, dass es »auf keinem Feld der Politik einen
prinzipiellen, gut durchdachten und sicher geleiteten
Handlungsverlauf gebe. Alles wird in Ausbrüchen erledigt, zufällig,
unter dem Einfluss des Augenblicks [...]«111 Genau dasselbe könnte man über Wilhelm sagen –
womöglich ein Beweis dafür, dass sein Scheitern als Herrscher eine
generelle Unvereinbarkeit zwischen den unglaublichen Anforderungen
des monarchischen Amtes in einem hochentwickelten Staatswesen und
den bescheidenen Fähigkeiten derjenigen widerspiegelt, die durch
dynastische Vorsehung auf den Thron gelangt waren.
Indem Wilhelm in den Jahren 1896/97 die
Hindernisse für eine Ausdehnung seiner Autorität aus dem Weg
räumte, ersetzte er lediglich einen Satz von Zwängen gegen einen
anderen. Je stärker er versuchte, seine Minister zu umgehen, desto
stärker geriet er mit den Parlamenten im Land und im Reich in
Konflikt. Und je enger er seine Person mit Gesetzesvorlagen
verknüpfte, die in den Parlamenten attackiert wurden, desto stärker
litt er unter den Fallstricken und Angriffen der empörten
Öffentlichkeit. Von Zeit zu Zeit sprach er, wie gesagt, davon, alle
Ketten, die ihn fesselten, durch einen Staatsstreich zu sprengen,
und manche Historiker haben darin eine echte Alternative für den
belagerten Monarchen gesehen. Aber wir sollten uns vor Augen
führen, wie leicht es denjenigen, die Wilhelm am besten kannten,
fiel, ihn von einem solchen Kurs abzubringen, indem sie ihn daran
erinnerten, wie sehr die deutsche Öffentlichkeit
ihn in diesem Fall schmähen würde. Auch wenn in Teilen des
deutschen Bürgertums gewiss eine theoretische Begeisterung für
außerhalb der Verfassung stehende Maßnahmen gegen die
Sozialdemokratie vorhanden war, so war doch stets klar, dass sich
für ein solches Vorgehen keine breite politische Basis finden
würde.112 Das Gerede von einem
Staatsstreich war somit kaum mehr als konstitutioneller Eskapismus;
wie Bülow sich erinnerte: »Solche nach Pulver und Blei riechenden
Äußerungen des Kaisers waren übrigens nicht immer ganz ernst
gemeint. Sie sollten mehr dem Zuhörer imponieren […] Ein fester,
und namentlich konsequenter Wille stand nicht dahinter.«113 Nachdem Wilhelm das Amt des Kanzlers
ausgehöhlt und das Ministerium in seine Bestandteile zerlegt hatte,
war er selbst außerstande, dem politischen Entscheidungsprozess
eine einigende Stoßrichtung zu verleihen. Mehr als je zuvor wurde
eine koordinierende und in die Grenzen weisende Hand gebraucht. Sie
sollte in der Person des Nachfolgers von Hohenlohe, Bernhard von
Bülow, auf die politische Bühne treten.