Bald nachdem Ray abgefahren war und Henry und ich unser »wildes Ding« gemacht hatten, kam der Junge zurück.
Am selben Nachmittag hatte Fred einen Weihnachtsbaum im Vorderzimmer aufgestellt, von Bessie gequiltete Strümpfe an den Kaminsims gehängt – einen für Henry, einen für mich und einen für Herrn Kommkomm – und einen duftenden Kranz aus Zedernzweigen an der Haustür befestigt. Es war wirklich alles sehr hübsch. Ich mochte den Nadelgeruch des Baums und die kleinen weißen Lichter, die am Ende des Tages darin funkelten.
Henry arbeitete noch spät an den letzten Arbeiten für Lillians Ausstellung. Ich solle schon mal ohne ihn essen, hatte er gesagt, wenn er fertig sei, würde er noch bei mir reinschauen. Ich sorgte dafür, dass Herr Kommkomm auf der Veranda sein Fressen bekam, machte mir ein Sandwich mit einer Scheibe Hackbraten und las noch ein Weilchen am Kaminfeuer, bevor ich schlafen ging.
Als ich die Augen aufschlug, saß der Junge im Schneidersitz auf dem Teppich neben meinem Bett. Er schnitzte an einem Stückchen Holz und schien sich ganz wohl zu fühlen. Rechts und links fielen Späne auf den Boden. Aus der Werkstatt drang noch immer das Kreischen von Henrys Schleifmaschine herüber. Angst hatte ich überhaupt keine, eigentlich war ich nicht einmal erschrocken. Ich freute mich, ihn zu sehen, im Grunde hatte ich wohl sogar damit gerechnet, dass er kommen würde.
Seine Stofftasche lag neben ihm am Boden. Auf der Unterseite stand in großen, unsicheren Buchstaben WIL.
»Bist du das?«, fragte ich und zeigte auf die Schrift. Er nickte kurz. Dann griff er in die Tasche und zog etwas hervor, was er mir lächelnd in der geschlossenen Faust hinhielt. Ich streckte einen Arm aus, und er ließ mir den Gegenstand auf die flache Hand fallen. Es war eine neue Schnitzerei, wieder vom weißen Reh, doch dieses Mal im vollen Lauf, Vorder- und Hinterläufe gestreckt, anmutig bis ins letzte Detail und absolut lebensecht.
»Schwesterchen möchte, dass du es bekommst«, sagte Wil, und dabei lächelte er wieder. Ich sah ihm an, dass er sich freute, mich zu sehen, so entspannt war sein Gesicht, und unter der Schmutzschicht sah er direkt gut aus.
»Ich danke ihr. Es ist wunderschön«, sagte ich. »Wo ist sie?«
Er wies mit dem Kopf zum Fenster.
»Habt ihr noch mehr Probleme gehabt?«, fragte ich.
Wil kicherte. »Schwesterchen macht immer Probleme.«
»Ich meine richtige Probleme – Ärger.«
Er antwortete nicht. »Erzähl die Geschichte zu Ende«, war alles, was er sagte.
Ich hatte ganz vergessen, dass ich ihm kürzlich an der Hütte das Ende der Geschichte von dem japanischen Jungen nicht erzählen konnte, weil Harlan auf einmal kam. War Wil meinetwegen gekommen? Oder wollte er nur hören, wie die Geschichte ausging?
»Erst muss ich dir noch was anderes erzählen«, sagte ich und berichtete, was ich beim letzten Mal vergessen hatte – die Sache mit dem Bürgermeister und dem Kopfgeld.
Er zuckte mit den Achseln. »Selbst kann ich es mir wohl nicht abholen, oder?«, fragte er im Scherz. Aber so ganz geheuer schien ihm der Gedanke nicht zu sein.
Ich wollte noch etwas sagen, aber mir fiel nichts ein, was sich nicht wie Altweibergeschwätz anhören würde, wie Bessie gern sagte, also nahm ich das kleine Buch aus meiner Nachttischschublade, in der ich es aufbewahrte. »Hier sind auch Bilder drin«, sagte ich, und der Junge machte große Augen.
Er rutschte eifrig ein Stück nach vorn, blieb aber am Boden sitzen. Am Morgen hatte es geregnet, und seine Kleider waren feucht und voll mit Laub und Lehm und rötlicher Erde. Ein starker, aber guter Geruch ging von ihm aus, ein Geruch nach frisch gepflügter Erde und nassen Blättern und Kiefernharz.
Ich las die Geschichte von Anfang an, im Licht des Vollmonds, der hereinschien. Ich wollte meine Lampe nicht anschalten, aus Angst, Henry könnte Wil durchs Fenster entdecken, wenn er mit der Arbeit fertig war und hinter dem Haus über den Hof kam. Wil beugte sich weit vor und sog jedes Wort auf. Lange betrachtete er jede der farbigen Illustrationen und strich mit den Fingern über besonders schöne Stellen.
Ich war zu zwei Dritteln durch, als auf einmal das Flutlicht in Henrys Atelier erlosch. Wir drehten beide den Kopf zum Fenster, als sich die Metallschiebetür schloss und Henrys Schritte auf dem Kies in der Einfahrt zu hören waren. Einige Sekunden lang blieb Henry stehen, und ich dachte schon, er hätte uns vielleicht doch von unten gesehen, doch dann kam er weiter aufs Haus zu und blieb nur noch kurz stehen, um leise auf der Veranda mit Herrn Kommkomm zu sprechen.
»Das ist bloß Henry«, flüsterte ich beruhigend. Ich hoffte, Wil hätte kein Problem damit, sich ihm zu zeigen. Zum ersten Mal war mir nicht wohl bei dem Gedanken daran, Henry etwas zu verheimlichen, es schien mir alles andere als richtig.
Wil war der Schrecken anzumerken, auch wenn er sich große Mühe gab, ihn zu verbergen. Wie ein Tier in der Falle, das nach einer Fluchtmöglichkeit sucht, blickte er sich im Zimmer um, als wir Henry auf der Treppe hörten. Ich zeigte auf den Schrank gegenüber vom Bett, und ohne das leiseste Geräusch schlüpfte Wil hinein, die Tasche über der Schulter. Keine zwei Sekunden später stand Henry in der Tür.
»Ich habe deine Stimme gehört«, sagte er.
»Hab noch gelesen – laut«, antwortete ich und hielt das Buch hoch.
»Im Dunkeln?«, fragte er.
»Der Mond scheint doch so hell.«
Er warf einen Blick durchs Fenster und nickte. Ich sah, dass er die Späne am Boden bemerkte, doch sollten sie ihm seltsam vorkommen, so ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Es hatte durchaus seine Vorteile, bei einem Mann zu leben, der Schmutz nicht so schlimm fand. Als er das Buch sah, lächelte er, und bevor ich noch etwas sagen konnte, nahm er es mir aus der Hand. Er steckte noch immer in seiner Arbeitskleidung und war ölbeschmiert, in dieser Hinsicht waren Wil und er sich ziemlich ähnlich. Er knipste die Lampe an und setzte sich auf den Boden, genau dorthin, wo Wil zuvor gesessen hatte. Ich fragte mich, ob der Platz wohl noch warm war. Ein Teil von mir hoffte, Wil würde sich still verhalten, solange Henry las, doch ein anderer Teil hoffte, er würde sich verraten.
»Vor langer, langer Zeit«, begann Henry mit seiner tiefen Stimme, die sich so gut fürs Geschichtenerzählen eignete, »lebten in einem kleinen Dorf in Japan ein armer Bauer und seine Frau, brave Leute mit vielen Kindern. Das jüngste der Kinder, ein Junge, schien für schwere Arbeit nicht geschaffen. Er war sehr gescheit, gescheiter als all seine Brüder und Schwestern, doch so schwach und klein, dass die Leute meinten, er werde wohl nie sehr groß werden. Daher fanden seine Eltern, es wäre wohl besser für ihn, wenn er nicht Bauer würde, sondern Priester. So brachten sie ihn eines Tages zum Dorftempel und fragten den guten alten Priester, der dort lebte, ob er ihren kleinen Jungen nicht als Gehilfen haben und ihm alles beibringen wolle, was ein Priester wissen müsse.
Der Junge lernte schnell, was der Priester ihm beibrachte, und war in den meisten Dingen sehr gehorsam. Aber er hatte einen Fehler: Er zeichnete gern Katzen während des Unterrichts und zeichnete Katzen sogar dorthin, wohin man Katzen überhaupt nicht zeichnen darf.
Immer, wenn er allein war, zeichnete er Katzen. Er zeichnete sie auf die Ränder der Bücher des Priesters und auf alle Wandschirme im Tempel. Der Priester sagte ihm mehrere Male, das sei nicht recht, aber der Junge hörte nicht auf, Katzen zu zeichnen. Er zeichnete sie, weil er nicht anders konnte. Er hatte, was man eine Künstlerseele nennt, und aus ebendiesem Grunde war er zum Priesterschüler nicht ganz geeignet – ein guter Priesterschüler sollte aus Büchern lernen.
Eines Tages, als er gerade einige sehr gute Katzenbilder auf einen Wandschirm gezeichnet hatte, sagte der Priester streng zu ihm: ›Mein Junge, du musst diesen Tempel sofort verlassen. Aus dir wird nie ein guter Priester werden, aber vielleicht ein großer Künstler. Lass mich dir noch einen letzten Ratschlag geben, und sieh zu, dass du ihn nie vergisst: Meide des Nachts große Plätze, halte dich an kleine!‹
Hinter dem Schlüsselloch des Schranks sah ich eine winzige Bewegung, und als ich dann noch ein leises Knarren hörte, zog sich mir der Magen zusammen. Ein Schatten fiel auf den Boden vor der Schranktür – offenbar drückte Wil sich fest an die Tür. Seltsam, dass ein Junge, der sich im Wald so geräuschlos bewegen konnte, innerhalb des Hauses kaum dazu in der Lage war.
Ich hielt den Atem an und wartete, ob Henry ebenfalls etwas gehört hatte, doch der war ganz auf die Geschichte konzentriert und las weiter vor, wie der japanische Junge zu einem zweiten Tempel gelangte. Dieser wurde von einem bösen Geist in Gestalt einer Ratte heimgesucht. Auf der Suche nach dem Priester ging der Junge hinein, doch dort war niemand. Er fand jedoch Tusche und leere weiße Wandschirme, und so machte er sich daran, Katzen zu zeichnen, viele, viele Katzen, stundenlang zeichnete er, eine nach der anderen, bis er schließlich müde wurde. Der Junge erinnerte sich an die Worte des alten Priesters und kroch zum Schlafen in einen engen Wandschrank.
Ich hörte ein feines Geräusch und sah, wie der Drehknopf des Schranks sich ein wenig bewegte, während Henry weiter von dem Jungen erzählte, der mitten in der Nacht von einem ohrenbetäubenden Lärm geweckt wurde. So wie es sich anhörte, spielte sich direkt vor der Tür seines engen Verstecks ein verzweifelter Kampf ab, ein Kampf auf Leben und Tod. Erst am Morgen wagte sich der Junge aus dem Schrank und sah eine riesige Ratte, einen Dämon in Gestalt einer Ratte, größer als eine Kuh. Blutüberströmt lag sie tot auf dem Boden des Tempels.
»Aber wer oder was hatte sie wohl getötet?«, las Henry mit tiefem Gefühl weiter, und seine Baritonstimme wurde lauter. »Kein Mensch oder auch kein anderes Lebewesen war zu sehen. Doch plötzlich fiel dem Jungen auf, dass die Schnauzen all der Katzen, die er am Abend zuvor gezeichnet hatte, rot und nass von Blut waren. Da wusste er, dass der Dämon von den Katzen getötet worden war, die er gezeichnet hatte. Und dann erst verstand er auch, weshalb der weise alte Priester zu ihm gesagt hatte: Meide des Nachts große Plätze, halte dich an kleine!
Später wurde aus dem Jungen ein berühmter Künstler, und noch heute zeigt man in Japan den Reisenden einige der Katzen, die er gezeichnet hat.«
Henry schloss das Buch und betrachtete liebevoll die Illustration auf dem Umschlag, bevor er es mir zurückgab. Dann stand er auf und küsste mich auf die Stirn, und ich hoffte und fürchtete zugleich, Wil könnte aus dem Schrank springen und um noch eine Geschichte bitten. Doch Wil blieb still und die Tür geschlossen. Henry wünschte mir eine gute Nacht und ging zur Treppe.
»Ah, fast hätte ich’s vergessen.« Er wandte sich noch einmal um. »Als ich eben vom Atelier kam, habe ich das weiße Reh gesehen. Es stand am Waldrand, so als wartete es auf jemanden. Als es mich sah, sprang es davon.«
»Was glaubst du, wie es ihm ging?«, fragte ich. Vielleicht hatte Henry ja die ganze Zeit über gewusst, dass Wil hier war, vielleicht war das Ganze eine Art Probe gewesen, bei der ich jämmerlich versagt hatte.
»Gut«, sagte er, und es hörte sich nicht so an, als hätte er irgendeine Absicht verfolgt. »Mysteriös.«
»Danke für die Geschichte, Onkel Henry.«
»Gute Nacht, Zo’«, sagte er und ging nach unten.
Ich hörte, wie er sein Essen aus dem Ofen nahm, das Licht in der Küche ausschaltete und wieder heraufkam. Wil blieb, wo er war. Ich drehte mich auf die Seite, so als schliefe ich schon, während Henry leise an meinem Zimmer vorbeiging und dann die Treppe hinaufstieg. Ich wartete, bis ich hörte, wie er in seinem Zimmer seine Arbeitskleidung auf den Boden fallen und gleich darauf im Bad Wasser einlaufen ließ. Als ich ganz sicher war, dass er nichts hören würde, schlich ich mich aus dem Bett, legte ein Ohr an die Tür und flüsterte Wils Namen, doch es kam keine Antwort. »Wil«, flüsterte ich noch einmal, aber auch dieses Mal kam keine Antwort.
Langsam zog ich die Tür auf. Wil lag zwischen meinen roten Stiefeln und meinen Turnschuhen zusammengekauert auf der Seite und schlief tief und fest. Den Kopf hatte er auf seine Tasche gelegt. Wie ein Kind von fünf oder sechs Jahren sah er aus. Ich legte das kleine Buch neben ihn auf den Boden des Schranks und holte die zusätzliche Decke von meinem Bett, um ihn zuzudecken. Er rührte sich nicht. Ich ließ die Tür offen, aber nur einen Spalt. Ich hoffte, er würde die Nacht über hierbleiben, wo er in Sicherheit war, und mich – und auch Henry – aufwecken, bevor er wieder ging.
Ich wünschte, er hätte es getan.