Ständig kamen irgendwelche Bewunderer vorbei, Leute, die von Henrys Arbeit gehört hatten und ihn persönlich kennenlernen wollten. Andere kamen, um etwas Spezielles von Henry anfertigen zu lassen. Eine Auftragsarbeit nannte er das. Manchmal kamen auch Farmer aus der Gegend mit ihren Traktoren, an denen etwas zu schweißen war, und das tat Henry mit genau der gleichen Sorgfalt, mit der er seine Skulpturen schweißte. Besucher liefen auf dem Grundstück herum und betrachteten die Arbeiten, die dort aufgestellt waren, und wenn die Tür zu Henrys Atelier gerade offen stand, schauten sie auch schon mal rein, um Guten Tag zu sagen. Manchmal kam auch jemand, um eine der Skulpturen im Garten zu kaufen oder, wie Henry es nannte, »einer Skulptur etwas zu tun zu geben«.
Als ich die alte Dame sah, die ihren Pick-up in der Einfahrt parkte, ausstieg und ihre Blicke schweifen ließ, nahm ich an, dass sie gekommen sei, um sich umzusehen, vielleicht auch, um etwas schweißen zu lassen. Fred war beim Einkaufen, und Henry war das kurze Stück die Straße hinaufgegangen, um nach Bessie zu sehen. Der Schnee war endlich so weit geschmolzen, dass man wieder gut durch den Wald laufen konnte, und ich konnte es kaum abwarten, endlich wieder zur Hütte zu gehen. Seit dem Tag, als es geschneit hatte, kamen Henry und ich besser miteinander klar, aber seit diesem Tag hatte er auch beinahe rund um die Uhr gearbeitet, manchmal sogar im Atelier übernachtet. Von der Schule mal abgesehen, war mein Leben nicht das schlechteste, nur dass Henry manchmal genauso abwesend war wie Mama, was mich daran erinnerte, dass Menschen und Situationen sich auch ändern können. Jedes Waisenkind mit Verstand braucht einen Plan B für den Notfall. Für mich war das die leerstehende Hütte im nördlichen Teil von Henrys Wäldern.
»Wenn das nicht das wilde Kind ist«, sagte die Frau, kaum hatte ich die Tür geöffnet. Sie fixierte mich mit ihren alten Augen, und dann inspizierte sie mich von Kopf bis Fuß, zentimeterweise, so gründlich, wie noch nie jemand zuvor. Ich hätte schwören können, dass sie nachgezählt hat, ob ich zehn Finger und zehn Zehen hatte und auch sonst alles komplett war.
»Wie bitte?«
»Der ganze Ort redet davon. Also habe ich mir gesagt, ich komme mal vorbei und überzeuge mich selbst«, sagte sie. Dabei betrachtete sie mich weiter ausgiebig von der anderen Seite des Fliegengitters. Ich tat umgekehrt dasselbe. Sie war dick vermummt gegen die Kälte, und ihr kräftiges graues Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem festen Knoten zusammengesteckt. Ihre Gestalt war drahtig, ihre Haut ledrig, und ihr Alte-Dame-Blick so durchdringend wie der von Ms O’Keeffe.
»Onkel Henry musste kurz weg«, sagte ich. »So sehr lange bleibt er sicher nicht mehr, falls Sie ihm eine Nachricht hinterlassen wollen.«
»Ich wollte nicht zu Dr. Royster«, antwortete sie. »Komm doch mal heraus, damit ich dich besser sehen kann.«
Gefährlich sah sie nicht aus, also machte ich das Fliegengitter auf und ging hinaus.
»An dir ist doch nicht das kleinste bisschen wild«, sagte die Frau kopfschüttelnd. »Kleingeister, diese Leute, denken wenig und reden viel. Ich hätte es mir denken können.«
Ich sah sie fragend an.
»Andererseits, manchmal kann dieses Gerede auch nützlich sein. Für das Gerücht, dass wir auf Leute schießen, die unerlaubt in unseren Wäldern jagen, war ich sogar dankbar.«
»Stimmt, Ma’am«, sagte ich und dachte an Ray. Ihm machte es Spaß, auf lebende Ziele zu schießen – Eichhörnchen, Kaninchen, Wild –, und auf wessen Land er sich gerade bewegte, damit nahm er es nicht so genau. Ich war froh, dass er nicht in der Nähe war. Das weiße Reh hätte sonst keine Chance gehabt.
»Gehört der dir?«, fragte sie und wies auf den Kater. Seit es geschneit hatte, hatte er sich angewöhnt, sich am Rande des Vorplatzes, in der Nähe der Kiste mit seinen Näpfen, gemütlich auszustrecken, vor aller Augen.
»Der gehört sich selbst. Aber ich arbeite dran.«
»Sein linkes Ohr sieht geschwollen aus.«
»Das ist schon seit einer ganzen Weile so.«
»Stinkt es?«
»Ich weiß nicht, er lässt mich nicht nah genug dran«, sagte ich.
»Wenn es infiziert ist, kann er daran sterben, vor allem in dem Alter, das er schätzungsweise hat.«
»Er lässt keinen in seine Nähe. Noch nicht.«
»So sind sie, die wild lebenden Tiere«, sagte sie kopfschüttelnd. »Wenn sie erst einmal gelernt haben, sich vor Menschen zu fürchten, kann man es ihnen nur schwer austreiben. Ich habe eine Schwäche für alte Kater. Übrigens – ich bin Maud Booker. Ich bin die Tierärztin hier. Mein Grundstück grenzt im Norden an das von Dr. Royster.«
Sie streckte die Hand aus, und ich schüttelte sie. Ihr Händedruck war genau wie sie selbst – kühl und fest.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich, ohne mir sicher zu sein, dass ich das ernst meinte. Immerhin hatte sie einen guten Geschmack, was Katzen anging.
Sie wandte sich zum Gehen. »Ich hab gesehen, was ich sehen wollte. Normalerweise mische ich mich nicht in anderer Leute Angelegenheiten. Ich wollte mich nur vergewissern, ob alles in Ordnung ist mit dir.«
Sie ging zu ihrem Wagen hinüber, zog die Tür auf und nahm eine kleine Schachtel aus einer Kühltasche auf dem Rücksitz. Die gab sie mir, zusammen mit vier Dosen Katzenfutter. »Füll die kleine Flasche in dieser Schachtel mit Wasser auf, schüttle sie gut und gib ihm zweimal am Tag eine Pipette voll in etwas von diesem Nassfutter, so lange, bis es alle ist. Wenn er zahm wird, ruf mich an, dann komme ich und impfe ihn. Ich stehe im Telefonbuch.«
»Danke«, sagte ich und stellte die Dosen ab. Ich machte die Schachtel auf und nahm die Flasche mit der Pipette und dem weißen Pulver heraus.
Die Frau setzte sich hinters Steuer. »Du kommst nach deinem Großvater.«
»Wirklich?«
»Du hast sein Kinn.«
»Sie haben meinen Großvater gekannt?«
»Ich habe Augustus gut gekannt.«
»Haben Sie auch meinen Vater gekannt?«
»Nur kurz.«
»Wann?«
Sie ließ den Motor an und warf den Gang ein, sodass das Auto einen Satz nach vorn machte. »Während der neun Monate, bis ich ihn zur Welt gebracht habe.«
Sie knallte die Tür zu und fuhr los, bevor ich noch ein Wort sagen konnte.