Henry kam kurz vor Sonnenuntergang zurück, aber es dauerte nicht lange, da wünschte ich mir, er wäre weggeblieben. Erst schien alles in Ordnung, er war müde, aber umgänglich, schob mir sogar meine fünfzig Dollar rüber, als Fred bezeugte, dass er den Kater gesehen habe.
»Er ist schwarz-weiß gefleckt und hat einen Schnurrbart«, sagte ich zu Henry.
»Ihr könnt mir viel erzählen. Ich hab ihn ja nicht mit eigenen Augen gesehen«, sagte Henry.
»Aber Fred hat ihn gesehen. Stimmt’s, Fred?«
Fred nickte. »Ein kräftiges Exemplar. Wiegt glatt seine fünf, sechs Kilo. Ich hab zugesehen, wie er auf einen Satz einen halben Wels von unserem Abendessen geschluckt hat.«
Henry guckte skeptisch, so als hätten wir die ganze Geschichte frei erfunden.
»Und weißt du, was noch passiert ist?«, fragte ich und wedelte mit meinen Geldscheinen herum. »Ich bin verhaftet worden!«
»Wie bitte?« Henry sah Fred an.
»Bei Sheriff Bean gab’s eine kleine Theateraufführung«, erklärte Fred.
»Das war kein Theater! Er hat einen Fingerabdruck von mir genommen. Und Fred musste Bußgeld zahlen.«
»Bußgeld?«, fragte Henry.
»Kaugummi«, sagte ich. »Zwölf Päckchen!«
»Unser Sheriff hat wieder mal mit dem Rauchen aufgehört«, warf Fred ein.
»Verstehe«, sagte Henry.
»Er sagt, wenn ich mir auch bloß den Fuß verstauche oder so, dann steckt er dich ins Gefängnis und wirft den Schlüssel weg!«
»Das nenn ich Gerechtigkeit«, brummte Henry.
»Anschließend hat er mich in Freds Gewahrsam entlassen, und ich hab den Padre und Bessie kennengelernt!«
»Alles in Ordnung mit Bessie?«, wollte Henry wissen.
»Sie hatte einen guten Tag«, antwortete Fred. »Und du?«
Henry seufzte und guckte genervt. Das wurde sogar noch schlimmer, nachdem Fred ihm ein Häufchen Zettel gereicht hatte mit lauter Nachrichten, alle von derselben Frau. Drei- oder viermal hatte sie schon angerufen, seit Fred und ich zurück waren. Kaum hatte Henry den Namen gelesen, stürmte er fluchend in seine Werkstatt.
Ich verzog mich in mein Zimmer. Meine Erfahrungen mit wütenden Erwachsenen hatten mich gelehrt, mich lieber aus der Schusslinie zu ziehen. Nach ein paar Minuten hörte ich, wie Freds Lieferwagen aus der Einfahrt fuhr. Gleich darauf warf Henry seine Maschinen an, dazu dröhnte seine grässliche Musik. Mich hatte er völlig vergessen. Also putzte ich mir die Zähne und legte mich mit meinem Notizbuch ins Bett.
Ich betrachtete all die Sachen, die Fred und ich mit Henrys Geld bei unserem Ausflug in die Stadt besorgt hatten, hauptsächlich Wintersachen: eine warme Jacke, zwei Pullover, drei Paar Jeans und ein halbes Dutzend langärmliger T-Shirts in verschiedenen Farben. Kein einziges Teil aus einem Secondhand-Laden, kein Sonderangebot aus dem Billigladen, mit Flecken oder Löchern, die man unter dem Hosenbund oder unter einem Pullover verstecken musste, damit keiner sie sah. Alles absolut neu, noch in Plastik verpackt und mit Preisschildern dran. Auf meiner Kommode lagen sechs Paar Socken und sechs Garnituren Unterwäsche, und unten in meinem Schrank stand ein Paar neue Turnschuhe, die weder an der Ferse scheuerten noch an den Zehen drückten, neben meinem kostbarsten brandneuen Besitz: einem Paar roter Lederstiefel. Fast zu schön zum Anziehen.
Ich ließ mich in meine Kissen sinken und dachte an all das, was an diesem Tag schön gewesen war, angefangen mit der Katze, genauer gesagt dem Kater. Er war groß und schwarz mit weißem Bauch und Lätzchen und vier weißen Pfoten, dazu ein weißes Dreieck um die Nase, mit einem schwarzen Fleck auf einer Seite, wie ein halber Schnurrbart. Wir hatten in Freds Pick-up gesessen, ohne uns zu bewegen, ohne zu sprechen, und zugesehen, wie er sein Fressen bis auf den letzten Bissen verputzte. Danach schaute er mit seinen schläfrigen, grün-goldenen Augen auf und in unsere Richtung, leckte sich einmal über die Schnauze und verschwand wieder im dichten Gestrüpp.
Kaum waren wir von der Einfahrt in die Straße eingebogen, da leuchtete auch schon das Blaulicht von Sheriff Beans Streifenwagen hinter uns auf. Der Sheriff war ein kleiner, rundlicher Mann mit Sonnenbrille und einem Cowboyhut, an dem vorn ein Stern steckte. Vorn an der Nase hatte er eine Warze, die mich an seiner Stelle dazu gebracht hätte zu schielen, und braun gefleckte Raucherzähne.
»Sieht ganz so aus, als wären uns da zwei gefährliche Verbrecher ins Netz gegangen«, sagte er streng, als er durch das Fenster auf der Fahrerseite ins Auto spähte. Dann schob er seine Sonnenbrille hoch, lächelte sein braunes Lächeln, und er und Fred lachten.
Als Fred und ich mit Einkaufen fertig waren, gingen wir zum Sheriff, der mir in seinem Büro die Fingerabdrücke nahm. Angeblich machte er das nur aus Jux, aber ich habe gehört, wie er Fred zuflüsterte: »Also, für den Fall, dass sie mal verloren geht, haben wir das hier schon mal in den Akten.«
Seine vier Töchter seien alle schon aus dem Haus, erzählte er mir, und sollte es mir mal nicht mehr gefallen bei Henry – bei seiner Frau und ihm gäbe es jetzt mehrere freie Zimmer. Dann klingelte Freds Handy, und Fred schaute besorgt, aber es war bloß Bessie, die wissen wollte, wo zum Teufel wir steckten.
Fred und Bessie wohnten am Ende einer langen gewundenen Einfahrt, die zu beiden Seiten mit Sonnenblumen, Zinnien und Tagetes bepflanzt war. Auch rings um ihr großes Holzhaus reckten sich Blumen in allen Farben in Richtung Himmel oder quollen aus den Beeten. Bienen schwirrten neben gelben und blauen Schmetterlingen herum, grün-rote Kolibris schossen wie ein winziger fliegender Zirkus hin und her und hoch und runter durch die Luft. Einer kam sogar heran, schwebte eine Weile direkt vor meiner Nase und sah mich an. Es gab noch mehr Vögel, zum Beispiel Schwarzkopfmeisen, Spatzen, leuchtend rote Kardinäle und andere, von denen ich aber den Namen nicht wusste.
Fred erzählte mir, dass er hier früher Tabak angepflanzt hatte, doch das würde sich nicht mehr lohnen.
»Jetzt sorge ich nur noch dafür, dass es auf unserem Grundstück schön aussieht für Bessie, außerdem verkaufe ich Blumen an die feinen Blumenmärkte. Du glaubst ja nicht, was die Leute heutzutage für ein halbes Dutzend Sonnenblumen hinblättern«, sagte er.
»Wie viel?«
»Fünf oder sechs Dollar. Die Leute sind ausgehungert nach Schönheit, sagt Bessie.«
»Hm.« Der Gedanke, dass jemand nach Schönheit Hunger haben könnte, war neu für mich.
»Vor allem hat Bessie durch die Blumen immer etwas Schönes, was sie anschauen kann. Es ist schwer, wenn man so viel liegen muss.«
»Kann Henry sie nicht gesund machen?«, fragte ich.
»Nicht völlig. Er hat ihr eine Herzverpflanzung empfohlen, aber darüber will sie nicht mal nachdenken.«
»Ich wette, er könnte es.«
»Er hat es angeboten, aber darum geht es ihr nicht. Sie glaubt, das schlagende Herz macht einen Menschen zu dem, der er ist, und wenn sie ihr das Herz entfernten, dann wäre sie nicht mehr sie selbst. Sie ist sicher, sie würde mich nicht mehr erkennen, wenn ihr eigenes Herz ihr nicht mehr sagte, wer ich bin. Und was mit ihr geschehen könnte, wenn sie das Herz eines Fremden in der Brust trüge, daran will sie nicht einmal denken.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Bessie hatte ungewöhnliche Ideen. Fred sah meinen Blick und sagte: »Es hat keinen Zweck, mit jemandem zu diskutieren, der von diesen Dingen überzeugt ist. Das wäre, als wollte man jemanden davon abbringen, an Engel zu glauben. An die glaubt sie übrigens auch.«
Er schüttelte den Kopf und parkte den Pick-up hinter einer alten Limousine, die nicht so aussah, als wäre in letzter Zeit mal jemand damit gefahren. Am Kofferraum klebte ein verblichener Aufkleber: Läuft und läuft und läuft … mit Gottes Hilfe.
»So was ist typisch Bessie«, sagte Fred. »Damit du schon mal eine Vorstellung hast.«
Danach betraten wir den gemütlichsten Ort, den ich je gesehen habe. Mitten im Zimmer stand ein Himmelbett, und darin lag, gestützt auf viele Kissen im Rücken, eine winzige alte Frau. Um das Bett herum standen breite, gut gepolsterte Sessel mit dicken Kissen und kunstvollen Quilts in vielen Farben. Die bunt gemusterten Vorhänge an den Fenstern schienen direkt aus den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zu kommen. Lampen aus getöntem Glas warfen farbiges Licht an die Wände, Prismengläser an den Gardinenstangen ließen überall kleine zitternde Regenbogen tanzen. Auf einer Seite des Zimmers war eine offene Küche mit einem großen Holztisch, auf den Stühlen ringsherum lagen Kissen. Auf der anderen Seite schaute hinter einem Perlenvorhang eine große Badewanne auf Löwenfüßen hervor.
Die alte Frau in dem Bett musste früher einmal sehr hübsch gewesen sein. Sie schien von innen heraus zu leuchten. Ihre sanften braunen Augen waren mandelförmig, und um den Kopf hatte sie sich ein gebatiktes Tuch wie einen Turban gewickelt. Sie nähte an einem Quilt, der in den großen Holzrahmen auf ihrem Schoß gespannt war, und dabei redete sie wie ein Wasserfall auf einen Mann ein. Er hatte ein rosiges Gesicht und einen schon ziemlich kahlen rosa Schädel, über den einige weiße Haarsträhnen gekämmt waren. Er saß zusammengesunken in einem der breiten Sessel, seine Hände ruhten auf dem gebogenen Griff seines Spazierstocks, den er zwischen den Beinen stehen hatte.
»Padre«, sagte sie, als ihr Blick auf mich fiel, »ich habe eine Vision.«
»Dann habe ich auch eine«, sagte der alte Mann und drehte sich steif in meine Richtung. »Ich bin Pater Philip.«
»Besser bekannt als der Padre«, ergänzte Bessie.
»Ich würde ja zur Begrüßung aufstehen«, sagte er, »aber ich bin alt und klapprig.«
Die alte Dame lächelte mich an. »Ich bin Bessie, Schätzchen.« Sie legte ihr Nähzeug weg und streckte ihre beiden kleinen Hände nach mir aus, sodass ich gar nicht anders konnte, als sie zu ergreifen.
»Zoë«, sagte ich.
Sie beugte sich vor und nahm mein Gesicht zwischen ihre kühlen Hände. Sie duftete nach Zimt. »So oft habe ich Gott gebeten, mir ein Kind zu schicken, und du siehst so aus, als könnte es dir nicht schaden, ein bisschen bemuttert zu werden. Wieso hast du bloß so lange gebraucht, um zu uns zu kommen?«
»Das weiß ich auch nicht«, sagte ich.
Pater Philip und sie sahen sich an und lachten, während Fred nur kopfschüttelnd dabeistand. »Ich mach dir erst mal deinen Tee«, sagte er zu Bessie, bevor er in die Küche ging.
»Haben Sie all diese Decken selbst genäht?«, fragte ich und setzte mich in einen der großen Sessel.
»Jede einzelne«, sagte sie. »So habe ich wenigstens was zu tun und muss nicht nur fernsehen oder mich um den traurigen Zustand der menschlichen Seele sorgen.«
»Den überlassen Sie nur mir«, sagte der alte Mann.
Bessie sah mich an. »Der Padre kommt mit seiner Predigt nicht voran.«
»Sind Sie Prediger?«, fragte ich ihn.
»Offenbar nicht«, antwortete er. »Jedenfalls kein guter.«
»Die Gemeinde beschwert sich, er würde jeden Sonntag dasselbe predigen«, erklärte Bessie.
»Und im Grunde haben sie ja recht«, sagte der alte Mann heiter.
»Sie sagen jede Woche dasselbe?«, fragte ich.
»So ziemlich.«
Bessie stach ihre Nadel wieder in die Decke. »Ich sage ihm immer, er soll nicht damit aufhören, bis sie auf ihn hören.«
»Mrs Wilson findet, ich höre mich an wie eine Schallplatte mit einem Sprung«, sagte der alte Mann, aber es kam mir nicht so vor, als würde ihm die Kritik etwas ausmachen.
Ich verzog das Gesicht. »Die habe ich schon kennengelernt.«
»So eine dumme Kuh«, kommentierte Bessie.
»Sehr christlich hört sich das ja nicht gerade an«, rief Fred aus der Küche herüber.
»Ach, sei still, du alter Heide«, antwortete Bessie. »Das ist die reine Wahrheit.«
»Und was ist das, was Sie jeden Sonntag sagen?«, wollte ich wissen.
»Dass wir Gott lieben sollen und einander«, antwortete der Padre ganz sachlich. »Darum dreht sich alles.«
Ich fand, dass seine Botschaft viel für sich hatte, wenn man den Teil mit Gott mal wegließ.
»Vielleicht«, schlug ich vor, »liegt es daran, wie Sie es sagen. Ich könnte Ihnen dabei helfen, es neu zu schreiben, bloß …«
»Bloß was?«, fragte der Padre.
»Gott ist nicht gerade mein Lieblingsthema.«
»Wie meinst du das?«
Ich zögerte.
»Nur heraus mit der Sprache«, sagte Bessie. »Bei uns hier sagt jeder, was er denkt.«
»Und zwar nicht zu knapp«, meinte Fred, der gerade mit Bessies Tee und einem Tablett mit diversen Pillen aus der Küche kam. Er setzte es auf Bessies Schoß ab und sah sie dabei mit einer Mischung aus Besorgnis und Bewunderung an.
»Also«, sagte ich, »wenn ich dem Allmächtigen je gegenüberstehe, so von Angesicht zu Angesicht, dann muss er mir so einiges erklären. Ich habe eine ganze Liste von Sachen, die ich ihn fragen will, angefangen damit, warum er mir von allen möglichen Müttern ausgerechnet meine gegeben hat.«
Alle drei sahen mich groß an, aber gleich darauf lachten sie das lauteste Lachen, das man sich vorstellen kann.
»Schätzchen«, sagte Bessie, »du und ich, wir zwei werden dicke Freundinnen.«
»Wisst ihr«, sagte der Padre, »eine Geschichte, das wäre vielleicht was. Eine Geschichte über die heilige Theresa von Avila.«
Mit Heiligen kannte ich mich sogar einigermaßen aus. Rita, also Mannys Mama, ging regelmäßig in die Kirche, und sie hat mich manchmal sonntags mit zur Messe geschleppt. Sie redete über den heiligen Soundso und die heilige Soundso, als wären es die Leute von nebenan oder jemand, den sie eben beim Einkaufen getroffen hatte, mit dem einzigen Unterschied, dass sie einen Heiligenschein hatten. »Ich hab zur heiligen Martha gebetet, sie soll dafür sorgen, dass Manny senior mal den Hintern hochkriegt und mir beim Abwasch hilft«, sagte sie zum Beispiel oder: »Wenn der heilige Antonius mir nicht geholfen hätte – ich würde heute noch über den Parkplatz vor dem Einkaufszentrum irren und mein Auto suchen.« Laut Rita hatte jeder Heilige besondere Fähigkeiten, und der heilige Antonius war dafür zuständig, verlorene Sachen wiederzufinden, während die heilige Martha die Helferin der Hausfrauen war. Sie selbst war nach der heiligen Rita benannt, der Schutzpatronin für verzweifelte Lagen. Der Arzt hatte Ritas Mutter nämlich gesagt, sie könne keine Kinder bekommen. Ritas zweitliebster Heiliger war Judas Thaddäus, ebenfalls zuständig für hoffnungslose Fälle. Rita lag dem armen Heiligen unablässig in den Ohren wegen Manny.
»Von der heiligen Theresa habe ich noch nie gehört«, sagte ich.
»Du erinnerst mich an sie«, sagte der Padre.
»Wieso?«
»Vor ungefähr fünfhundert Jahren ritt die heilige Theresa einmal auf einem Esel durch Spanien. Gott ließ zu, dass sie hinunterfiel in den Staub, und als sie sich beschwerte, sagte er: ›So gehe ich nun mal mit meinen Freunden um‹, worauf Theresa antwortete: ›Deshalb hast du auch so wenige.‹«
Der Padre guckte verschmitzt, und wir mussten alle lachen.
»Eins zu null für die heilige Theresa«, sagte ich, leckte meine Fingerspitze an und zeichnete das Spielergebnis in die Luft.
»Hübscher Einfall«, sagte der Padre.
»Ein guter Anfang für eine Predigt, so eine Geschichte«, fand ich. »Mrs Wilson würde sie allerdings nicht gefallen.«
»Die würde einen Anfall kriegen!«, rief Bessie und kicherte.
»Sie müssen ihr auf jeden Fall verraten, von wem Sie die Idee haben«, sagte ich.
»Ihr habt euch heute alle miteinander schon ziemlich viel Zeit im Fegefeuer verdient«, neckte uns Fred.
Aber Bessie grinste bloß. »Das war jede Minute Leiden wert.«
»Ich kenne noch eine Geschichte«, sagte der Padre.
»Wieder von einem Heiligen?«
Er dachte nach. »Wie man’s nimmt.«
Ich lehnte mich in meinen Sessel zurück.
»Sie spielt an dem Tag, als Henry in der Kirche das Kreuz aufgehängt hat, das er in Bessies Auftrag hergestellt hatte«, begann der Padre. »Das war vor vier oder fünf Jahren, etwa eine Stunde vor dem Samstagabendgottesdienst. Einige Gemeindemitglieder waren schon früh gekommen und knieten betend in den Bänken. Henry stand auf einer wackligen Leiter hinter dem Altar. Der Putz bröckelte beim Bohren, und Henry schimpfte und fluchte bei allen heiligen Namen.«
»Das passt«, sagte ich.
Der Padre nickte. »So ging das eine ganze Weile. Schließlich kam eine der diplomatischeren Kirchgängerinnen völlig aufgeregt zu mir, rang die Hände und sagte: ›Herr Pfarrer, Sie müssen mit Dr. Royster sprechen, das ist Gotteslästerung! Ihre Pfarrkinder beschweren sich schon! Bitte sagen Sie ihm, dass er damit aufhören soll.‹ Meine Antwort war: ›Ich verstehe sehr wohl, Abigail, und ich teile Ihr Unbehagen durchaus, aber einen betenden Menschen soll man nicht stören.‹«
Wieder mussten wir alle lachen und Bessie am lautesten.
»Nie werde ich den Moment vergessen, als Lucinda Wilson hereinkam, gerade als Henry das Kreuz fertig aufgehängt hatte«, fuhr der Padre fort. »Sie warf einen Blick darauf, dann sagte sie Henry ins Gesicht: ›Das ist das Hässlichste, was ich je gesehen habe.‹ Worauf Henry erwiderte: ›Machen Sie einfach die Augen zu, dann ist es weg.‹«
Bessie klatschte in die Hände, sagte, sie könne diese Geschichte gar nicht oft genug hören, und verlangte gleich nach der nächsten, doch Fred meinte, es sei Zeit für ihr Nachmittagsschläfchen. Erst protestierte sie, er würde sie ans Bett fesseln, sagte sie, doch ich fand auch, dass sie müde aussah.
Anscheinend konnte sie Gedanken lesen, denn während Fred dem Padre half, aus dem Sessel aufzustehen, griff sie wieder nach meinen Händen, sah mir in die Augen und sagte: »Lass dich von Fred nicht zur Glucke machen. Einer von der Sorte reicht mir völlig. Und richte Henry Royster aus, ich hätte gesagt, er sei der zweitreizendste Mann, der je gelebt hat.«
Reizend war nun wirklich kein Wort, das mir zu Henry eingefallen wäre, und ich könnte schwören, dass sie mir auch diesen Gedanken ansah, denn sie zwinkerte mir zu und sagte: »Du wirst schon noch sehen.«
»Können Sie Gedanken lesen?«, fragte ich sie.
Sie nahm mein Gesicht fest zwischen ihre kühlen Hände. »Schätzchen«, flüsterte sie, »dein Gesicht ist wie Glas.«
In Bessies Nähe würde ich mich in Acht nehmen müssen.
Fred und ich fuhren den Padre zurück zu seiner Kirche, die ein kleines Stück oberhalb von Henrys Haus lag. Es war eine weiße Holzkirche mit Turm und einem Friedhof daneben. Ein paar alte Damen, die gerade dabei waren, Blumen an den Urnengräbern zu ordnen, sahen auf und winkten. Der Padre schüttelte sich und rutschte ein Stück tiefer auf seinem Sitz. »Grässlich«, sagte er kopfschüttelnd. »Ein Schlag ins Gesicht des Schöpfers.«
»Plastikblumen. Scheußliche Dinger.«
Er war wirklich ein seltsamer Heiliger. »Machen Sie einfach die Augen zu …«, erinnerte ich ihn.
»Ganz recht«, sagte er schmunzelnd. »Gehen wir hinein, dann muss ich sie nicht sehen.«
Die Kirche war leer und ganz still. Der Padre zeigte mir das Kreuz, das Henry für den Altar gemacht hatte, und es war wirklich das Ungewöhnlichste, was ich je gesehen hatte. Es hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit den Kreuzen in Ritas Kirche. Es bestand aus zwei gebogenen silbernen Metallteilen, die auf einem schlichten Kreuz aus dunklerem Metall angebracht waren. Die leichteren Metallteile sollten die ausgestreckten Arme des Herrn Jesus und seinen verrenkten Körper darstellen, erklärte mir der Padre, und bei aller Einfachheit sei die Darstellung doch perfekt. Die Metallfigur schien zu sterben, aufzusteigen, zu trösten und sich sehnsüchtig nach oben zu strecken, alles zugleich.
In diesem Moment knallte die Tür von Henrys Atelier zu und unterbrach meine innere Wiederholung des Nachmittags, aber ich ließ mir die Laune nicht verderben. Ich hatte eine Wette gewonnen, meine Fingerabdrücke bei der Polizei gelassen, bei einer Predigt geholfen und eine Gedankenleserin kennengelernt – alles an einem einzigen Tag. Wenn Henry ein alter Griesgram sein wollte, meinetwegen. Er musste ja bloß die Augen zumachen, schon wäre ich weg.
Henry hämmerte weiter, aber ich schlief drüber ein. Das Erste, was ich wieder mitbekam, war Telefonklingeln. Jemand hatte bei mir das Licht ausgemacht, die Decke um mich herum festgestopft und mein Notizbuch und den Stift auf das Nachttischchen gelegt, neben ein Glas Wasser. Ich stand leise auf. Aus dem Fenster sah ich, dass aus Henrys Schlafzimmer noch immer Licht auf den Rasen fiel, und von oben hörte ich seine schläfrige Stimme. Ich stieg die Treppe hinauf und blieb lauschend im dunklen Flur stehen.
»Ich weiß, Susan, ich hab deine Nachricht erhalten … doch ja, aber mir ist etwas Dringendes dazwischengekommen, darüber habe ich das mit deinem Scheck einfach vergessen. Tut mir leid … Hör mal, Susan, es ist spät. Es war ein langer Tag, ich bin jetzt einfach zu müde, um noch hinzufahren. Was hältst du davon: Ich gebe zu, dass ich ein mieses, nichtsnutziges Scheusal bin, und bringe den Scheck gleich morgen zur Post. Wie wäre das?«
Er knallte den Hörer auf die Gabel, und ich trat leise bei ihm ein. Henry schob sich die Brille auf den kahlen Schädel und rieb sich die müden Augen. Er lag auf seinem Bett, in Jeans und seinem Arbeitshemd, ein aufgeschlagenes Buch auf der Brust. Über die Bettdecke verstreut lagen Ordner und Papiere und die Telefonnotizen, die Fred ihm gegeben hatte. Henry sah auf, und als er mich da stehen sah, schob er die Brille wieder auf die Nase.
»Hat dich das Klingeln geweckt? Tut mir leid«, sagte er.
»Bist du das wirklich?«
»Was?«
»Ein mieses, nichtsnutziges Scheusal.«
Er schnaubte. »Nach Meinung meiner Exfrauen sicher.«
»Wie viele Frauen hattest du?«
»Drei.«
»Und alle drei haben sich von dir scheiden lassen?«
»Nur zwei.«
»Und wieso?«
Henry zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht so leicht, mit mir zu leben.«
»Mit mir auch nicht.«
»Nein?«
Ich schüttelte den Kopf. »Mama fand, ich sei der größte Sturkopf, der ihr je begegnet sei.«
»Und – stimmt das?«, fragte er, um von sich abzulenken.
»Ich kann ganz schön jähzornig sein.«
»Willkommen bei den Roysters.«
»Und welche deiner Frauen war das jetzt am Telefon?«
»Susan. Die Nummer zwei. Die Frau, von der ich dachte, ich sollte sie heiraten. Schön, klug, eine Frau, von der man denkt, sie ist der Weg zum Erfolg. In diesem Fall war es der direkte Weg in die Hölle.«
»Und Nummer eins? Was ist aus der geworden?«
»Wer weiß? Sie hat die Abfindung kassiert und ist auf und davon.«
»Und Nummer drei?«
Seine Stimme wurde weicher. »Krebs«, flüsterte er, und sein Ton machte mir klar, dass er darüber hinaus nichts zu dem Thema sagen würde.
»Tut mir leid.« Ich schämte mich, dass ich das Thema aufgebracht hatte. »Irgendwelche Kinder?«
»Du bist das erste.«
Die Antwort war eine Überraschung, ob eine gute oder eine schlechte, das wusste ich noch nicht. Henrys Kind – darüber musste ich erst mal nachdenken. Ich ging ein Stück näher heran, um zu sehen, was er las. »Worum geht’s in dem Buch?«
Er drehte das Buch um und schob es auf den Bettrand, damit ich den Umschlag ansehen konnte. Eine alte Dame, verschrumpelt wie eine Pflaume und ganz in Schwarz, starrte mir ins Gesicht. Auf der Rückseite war ein niedriges Haus in einer weiten Wüstenlandschaft zu sehen. Ich betrachtete das Gesicht der Frau aufmerksam: Es war alt, aber voller Kraft, und der Blick war durchdringend.
»Georgia O’Keeffe«, sagte Henry. »Sie lebte in der Wüste von Neu-Mexiko. Sie konnte auch sehr aufbrausend sein.«
Ich blätterte in dem Buch und sah farbige Abbildungen von Gemälden – Wüstenlandschaften, große Blumen, Kirchen, Tierköpfe – und noch mehr Fotos, die ihr Haus zeigten und das Land ringsherum, die Ghost Ranch, wie die Bildunterschrift sagte. Es war eine weite, friedliche Landschaft, eine Gegend, in die ich vielleicht gern einmal reisen würde.
»Dein Zimmer gefällt mir«, sagte ich.
»Fred hat erzählt, dass du dich schon hier umgesehen hast.«
»Er hat gesagt, ich sei neugierig.«
»Neugier ist eine gute Eigenschaft.«
»Finde ich auch!«
»Fred wollte dich nur auf den Arm nehmen. Dies ist jetzt auch dein Heim, Zoë. Fühl dich ganz zu Hause. Und sieh dir alles an, was du magst.«
»Ich darf deine Bücher lesen?«
»Natürlich.«
»Gut«, sagte ich und sah von den Bildern auf, »ich hab mir nämlich schon eins geborgt. Über einen Japaner, der Katzen zeichnete.«
Er überlegte einen Moment, dann nickte er, so als wäre es ihm wieder eingefallen. »Eine gute Geschichte«, sagte er. »Und eine wahre.«
»Sie ist wirklich passiert?«
»In einem anderen Sinne wahr«, sagte Henry und deutete auf sein Herz. »Wahr hier.«
Ich sagte ihm nicht, dass ich das Buch noch nicht gelesen hatte.
»Bücher machen es einem so viel leichter als Menschen«, sagte er mit einem Blick auf die vielen Bände in seinem Zimmer.
Der Meinung war ich immer schon gewesen, aber mir war noch nie jemand begegnet, dem es genauso ging.
Ich griff in die Tasche an meinem T-Shirt, zog den Zehner und die zwei Zwanziger heraus, die er mir abends gegeben hatte, und legte sie aufs Bett. »Kleiner Beitrag zu Mamas Rechnung.«
»Versteh ich nicht.«
»Ich hab dein Scheckbuch gesehen. Ich weiß, dass du die Rechnung bezahlt hast. Fünftausendvierhundertfünfzig Dollar, jetzt noch genau fünftausendvierhundert. Es wird eine Weile dauern, aber ich zahl dir alles zurück.«
»Du hast tatsächlich rumgeschnüffelt, wie?«, fragte Henry. Er nahm die Geldscheine, faltete sie und steckte sie mir wieder in die Tasche. »Sagen wir so: Dass ich die Rechnung bezahlt habe, erleichtert mein Gewissen ein bisschen, wenn ich an all die Jahre denke, in denen ich nichts von deinen Eltern und dir wusste.«
»Wie hast du es denn dann rausgefunden? Das mit mir, meine ich?«
»Eines Tages stand ein Mann vor der Tür und hat es mir erzählt. Das war Ray, der Freund deiner Mutter.«
Ich zog eine Grimasse.
Henry sprach weiter. »Er wusste von Owen, deinem Vater. Deine Mutter hatte von ihm erzählt, auch, dass du Owens Kind bist. Den Rest hat er sich selbst zusammengereimt, und so hat er mich ausfindig gemacht.«
Noch nie hatte ich jemanden den Namen meines Vaters aussprechen hören. Sonst hatte er immer nur »dein Vater« oder »der Halbbruder deines Onkels« geheißen. Es gab auch keine Bilder von ihm, zumindest wusste niemand davon. Als ich jetzt seinen Namen hörte, wurde er zum ersten Mal so etwas wie ein Mensch aus Fleisch und Blut für mich.
Und das alles hat Ray dir ganz umsonst erzählt?, hätte ich fast gefragt, aber ich schluckte den Satz schnell runter. Ray tat nie irgendetwas umsonst. Stattdessen fragte ich: »Warst du heute im Krankenhaus, zum Bezahlen?«
»Ja, und anschließend bei meinem Anwalt, um Papierkram zu erledigen. Deshalb hat es auch so lange gedauert.«
Ich dachte an all die Krankenhäuser, in denen Mama gewesen war, alle mehr oder weniger wie Rose Hill. Verschlossene Türen und Fenster, Flure, die nach Zigarettenrauch oder Pisse stanken, und immer schrie irgendwo jemand. Konnte irgendwer da gesund werden? Ich war froh, dass Henry allein gefahren war. Nie wieder wollte ich so einen Ort sehen.
»Die Angelegenheiten deiner Mutter waren …« Er schien nach einem milderen Ausdruck zu suchen als dem, den ich in seinen Augen las. »… kompliziert«, sagte er schließlich.
»Ich dachte …«
»Was?«
»Nichts.« Mich alleinzulassen war ihm nicht in den Sinn gekommen. Jedenfalls nicht heute.
Aber er wusste, was ich gemeint hatte, auch ohne dass ich es aussprach. »Ich lasse dich nicht im Stich, Zoë, nicht willentlich jedenfalls. Einige der Dokumente, die ich heute –« Er warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch, es war schon nach eins. »Einige der Dokumente, die ich gestern unterschrieben habe, regeln den Fall, dass mir je etwas zustoßen sollte, unwillentlich. Sie stellen sicher, dass in so einem Fall alles dir gehört. Alles. Dieses Haus, das Land, alle noch nicht verkauften Arbeiten. Susan erhält nur so lange Unterhalt von mir, wie ich lebe.«
Ich nickte leicht und sah in Henrys müde graue Augen. Ich wollte ihm glauben, aber ich hatte schon zu vielen Versprechungen von Erwachsenen geglaubt, und alle waren gebrochen worden. Was Erwachsene sagten und was sie dann tatsächlich taten, das deckte sich nie, nicht einmal annähernd. Ich versuchte, mich zu freuen über alles, was Henry gemacht hatte, aber ich wusste, am Ende würde er seine Meinung doch ändern, dann würde er sich absetzen, würde abhauen wie all die anderen.
»Ich bin dir wirklich dankbar für alles, was du getan hast, für das viele Geld, das du bezahlt hast.«
Er seufzte. »Ich wollte keine Dankbarkeit von dir«, sagte er. »Ich habe nur versucht –«
Das Telefon schrillte wie eine gellende Stimme. Zorn flackerte in Henrys Augen auf, und er schien ganz zu vergessen, dass ich dastand. Er nahm den Hörer ab und hielt ihn weit weg von seinem Ohr. Eine wütende weibliche Stimme kreischte: »Wie kannst du es wagen, einfach aufzulegen, du elender –« Henry knallte den Hörer wieder auf die Gabel, wickelte sich das Kabel zweimal um die Hand und riss das Mistding mit einem Ruck aus der Wand.
Einfach so.
Ich muss wohl ziemlich erschrocken geguckt haben, denn er sah die abgerissene Schnur an und schien auf einmal verlegen. »Entschuldigung«, sagte er. »Wo waren wir stehen geblieben?«
»Nicht so wichtig«, sagte ich und ging Richtung Treppe, damit mein gläsernes Gesicht ihm nicht verriet, was ich sonst noch dachte: Wenn er bei ihr einfach den Hörer aufknallte, warum dann nicht auch bei mir? »Nacht, Onkel Henry.«
»Träum was Schönes, Zo’.«
»Ja«, flüsterte ich. »Ich geb mir Mühe.«