Habe ich noch einen letzten Wunsch frei?«
Henry lehnte sich in seinen Kapitänsstuhl am Esstisch zurück und trank langsam seinen Kaffee. Die Füße hatte er auf den Stuhl daneben gelegt. »Du musst zur Schule gehen.«
Ich antwortete nicht, sondern stocherte mit der Gabel in meinem Essen herum. Ich hatte noch nichts davon angerührt, denn ich hatte beschlossen, in den Hungerstreik zu gehen, und das, obwohl Fred Hackbraten mit Sahnekartoffeln und Buttererbsen gemacht hatte. Normalerweise hätte ich alles bis auf den letzten Bissen verputzt.
»Hast du mich gehört?«
»Ich bin nicht taub«, sagte ich. »Und auch nicht stumm.«
»Das hat niemand behauptet.«
»Dann seh ich keinen Grund, wieso ich gehen muss. Bei diesen Tests hab ich besser abgeschnitten als alle anderen vor mir, das hat die Beraterin gesagt. Meine Ergebnisse waren so gut wie die von denen, die schon zur Highschool gehen.«
»In manchen Teilen, in anderen nicht.«
»Ich musste noch nie zur Schule gehen. Ich hab immer alleine gelernt, und das ging gut. Das kann ich hier genauso machen. Du kannst es ja nachprüfen.«
»Für mich ist die Diskussion beendet«, sagte Henry. »Wir haben beide unsere Arbeit. Ich gehe jeden Morgen ins Atelier, du gehst in die Schule. Selbst wenn sie dir da nichts mehr beibringen können, wird es dir trotzdem guttun, mit anderen Kindern zusammen zu sein.«
»Du verbringst doch auch mit niemandem Zeit außer mit mir und Fred und deinen dummen Skulpturen!«
»Ich habe nie behauptet, ein Vorbild zu sein. Aber ich bin jetzt für dich verantwortlich. Und deshalb bringe ich dich morgen früh um halb acht zur Schule.«
»Du hast versprochen, mich nie zu verlassen!«
»Jemanden verlassen und für seine Erziehung sorgen sind durchaus verschiedene Dinge.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und kniff die Augen zusammen. »Ich fühle mich nicht gut. Ich habe das Gefühl, dass ich gerade dabei bin, eine tödliche und hoch ansteckende Krankheit zu bekommen.«
Damit schien Henry gerechnet zu haben. »Mit so etwas kenne ich mich aus.«
Er nahm seine Arzttasche vom obersten Bord im Flurschrank, schob mir ein Fieberthermometer in meinen sechsunddreißigkommafünf Grad warmen Mund, maß meinen völlig normalen Blutdruck und prüfte mit einem eiskalten Stethoskop meinen wütenden Herzschlag.
»Ich lasse meine Tasche mal hier stehen, für den Fall, dass du dich morgen früh nicht gut fühlst«, sagte er, und ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht auf ihn loszugehen.
»Ich hab noch ein bisschen Papierkram zu erledigen«, sagte er und ging in sein Arbeitszimmer. Die Tür ließ er offen, damit er mich im Blick hatte.
»Ich haue ab«, flüsterte ich, als ich wusste, er konnte mich nicht mehr hören. »Und du wirst mich nicht finden.«
Ich blieb in meinem Zimmer, solange er arbeitete. Gegen elf schlich ich mich nach unten. Henry saß an seinem PC, spitzte aber die Ohren, als die Treppe knarrte. Ich rannte sofort wieder hoch, schloss meine Zimmertür, setzte mich schmollend auf die Fensterbank und plante meine Flucht. Ich musste an den Kater draußen im Gestrüpp denken. Beide hatten wir reichlich Erfahrung darin, uns unsichtbar zu machen. Henry hatte noch nicht begriffen, mit wem er es zu tun hatte. Aber er würde es schon noch mitkriegen.
Gegen Mitternacht stieg Henry die Treppe hoch, ging aber noch nicht gleich schlafen. Seine Gestalt zeichnete sich schwarz vor dem Licht ab, das aus seinen Fenstern auf den Rasen hinter dem Haus fiel. Sein riesiger Schatten war direkt gruselig. Ich stellte mir vor, ich sei eine Gefangene im Henry-Royster-Hochsicherheitsgefängnis, das mit allem ausgestattet war – Wachtürmen, Flutlichtanlagen, Sirenen und bösartigen Wachhunden. Außerdem hatte der Sheriff meine Fingerabdrücke. Meine Lage war hoffnungslos.
Vor Henry hatten schon andere versucht, mich zur Schule zu schicken, angefangen mit Lester. Damals war ich sechs. Vierzehn Stiche und ein perfekter, bleibender Abdruck meiner Zähne in seinem rechten Arm hatten ihm klargemacht, dass er im Irrtum war. Eineinhalb Jahre später überzeugten sechzig Prozent meiner Wetteinnahmen beim Pferderennen Manny davon, dass die Schule des Lebens genauso gut war wie eine formale Schulbildung. Charlie gefiel es, dass ich seiner Mutter vorlas, und er fand, dass ich eine Menge dabei lernte. Von den späteren Kerlen hat sich nie wieder einer dafür interessiert, ob ich zur Schule ging oder meine Vormittage lesend und schreibend zu Hause verbrachte und meine Nachmittage und Abende in der Bücherei. Sie waren zufrieden, wenn die Hausarbeit gemacht war, und von Mama war in dieser Hinsicht nichts zu erwarten. Alle hatten sie als Kinder die Schule geschwänzt, wieso ich dann nicht auch? Mann, die meisten fragten sich ja nicht mal, wo ich steckte, außer wenn sich das Geschirr im Becken stapelte, die Schublade mit ihrer Unterwäsche leer war oder der Kaffee gegen den morgendlichen Kater fehlte.
Henry war anders. Er hatte Geld und Verstand und außerdem Dokumente und die fixe Idee, dass er für mich zuständig und verantwortlich war. Auch meine gesamten Ersparnisse und ein paar Bisswunden würden an dieser Einstellung nichts ändern.
Ich konnte nur hoffen, dass er endlich einschlafen würde. Dann würde ich die Scharniere der Haustür mit Salatöl schmieren und mich aus dem Haus und in den Wald schleichen. Aber das Licht bei Henry ging und ging nicht aus. Meine Augenlider wurden schwer wie Steine. Ich setzte mich auf meine Fensterbank, richtete mich kerzengerade auf, versuchte mich wachzuschütteln und kniff mir in die Backen, bis sie brannten. Es half alles nichts. Irgendwann gegen halb zwei schlief ich tief und fest.
Es kam mir vor, als wären gerade mal ein paar Sekunden vergangen, als ich plötzlich senkrecht in meinem Bett saß. Henry musste mich auf der Fensterbank gefunden und ins Bett gebracht haben. Wieso konnte er nicht so sein wie die anderen? Wieso ließ er mich nicht selbst für meine Schulbildung sorgen und tun, was ich wollte?
Meine Uhr zeigte halb fünf. Draußen war es dunkel, und auch bei Henry brannte endlich kein Licht mehr. Schnell zog ich mir meine alten Sachen an. Ich verabschiedete mich von meinem Zimmer mit einem langen Blick auf das Bücherregal, das Fred mir gebaut hatte, meine neuen Klamotten, die noch in ihren Tüten lagen, und all die Bücher, die ich mir von Henry hatte ausleihen dürfen. Für einen Tag, vielleicht auch zwei, Maximum drei würde ich weglaufen, nur so lange, bis Henry begriffen hatte, dass er nicht der Bestimmer war. Die anderen hatten es auch kapiert. Er würde schon noch zur Vernunft kommen, und dann wäre ich auch wieder da. An der Treppe warf ich noch einen Blick nach oben in den zweiten Stock, dann schlang ich ein Bein übers Geländer und rutschte geräuschlos nach unten.
Dort drückte ich mich dicht an die Wand und hielt mich an die weniger knarrenden Teile der Dielen, direkt neben den Wandleisten. Ganz leise holte ich einen Küchenstuhl, stellte mich darauf und schmierte die Scharniere der Haustür mit Olivenöl. Zentimeterweise, damit das Öl sich verteilen konnte, zog ich die Tür auf. Dann trat ich lautlos ins Freie.
Zufrieden mit meinem Erfolg blieb ich erst einmal eine Minute auf der Veranda stehen. Es war Herbst, in den Nächten war es jetzt spürbar kälter, und ich zitterte ein bisschen und vermisste schon mein warmes Bett. Dann ging ich zur Holzkiste und sah, dass beide Näpfe des Katers noch voll waren. Ich spürte ihn auch nicht in der Nähe. Also schlich ich hinüber zum Gestrüpp, in der Hoffnung, ihn dort zu erspähen, aber sein üblicher Schlafplatz war verlassen, das Gras platt gedrückt. Die ganze Woche über waren schwere Lastwagen gekommen und mit Henrys Skulpturen wieder abgefahren, vermutlich hatten sie den Kater vertrieben. Hoffentlich nicht für immer. In letzter Zeit hatte er mich schon ein Stück näher an sich herangelassen. Falls Henry wegen der Schule weiter so stur blieb, konnten der Kater und ich auch zusammen im Wald leben, glücklich, wild, frei.
Ich folgte einem schmalen Pfad, der zwischen Brombeerbüschen hindurch zu der kleinen Fußgängerbrücke über den Fluss führte. Es war dunkel, doch der Geruch von Zedernholz und dem trockenen Laub unter meinen Füßen führte mich. Auf die Weise erlebte der Kater die Welt, diese Dinge lernte er, um zu leben und sich seinen Weg zu suchen. Er brauchte keine Schule und keine Lehrer, keine anderen Katzen. Er las den Wind, nahm Unterricht bei den Wäldern, studierte beim Mond und den Sternen und war auf nichts und niemanden angewiesen. Er lebte das Leben, das ich selbst mir wünschte.
Ich schloss die Augen und atmete meine Freiheit tief ein. Im selben Moment spürte ich eine Bewegung hinter mir. Ich fuhr herum und machte große Augen. Vielleicht fünf Meter entfernt von mir, auf der Brücke über den kleinen Fluss, befand sich ein Geist und starrte mich ebenfalls an. Jedenfalls kam es mir vor wie ein Geist. Nur wenige Schritte entfernt, so nah, dass ich es beinahe berühren konnte, stand ein kleines, schlankes, schneeweißes Reh – allem Anschein nach ein Jährling – mit blassrosa Nase, hellen Augen und aschgrauen Hufen.
Fantasierte ich, oder spielte das Mondlicht mir einen Streich? Es war spät geworden, und viel geschlafen hatte ich auch nicht. Doch das Reh blieb, wo es war, und betrachtete mich, als hätte es ebenfalls eine Vision, eine nicht weniger seltsame als ich. Vielleicht war es der Geist eines Menschen, dachte ich, der umherwandernde Schatten einer Seele, die keine Ruhe fand. Lester hatte mir manchmal Gespenstergeschichten erzählt, von ruhelosen Toten, die ständig umherzogen, Untote nannte er sie. Ich hatte seine Gruselgeschichten immer toll gefunden. Aber kaum hatte ich das gedacht, schüttelte das bleiche Wesen den Kopf, so als hätte es meine Gedanken gehört. Dann stampfte es auf, vier kräftige Hufe trommelten auf das dicke Holz der Brückenplanken. Schließlich hob das Reh die rosa Nase und nahm meine Witterung auf.
Es schien eher neugierig als ängstlich, und da es immer wieder über die Schulter nach hinten sah, nahm ich an, dass es nicht allein war. Seine Aufmerksamkeit war geteilt zwischen mir und etwas anderem – einem anderen Tier vermutlich. Eine Eule heulte im Wald – einmal, zweimal und dann ein drittes Mal, und schließlich wandte sich das Reh ab und sprang davon in die Richtung, aus der der Ruf ertönte. Ich rannte hinterher, so schnell ich konnte.
Schnell verlor ich das Tier aus den Augen und musste mich auf mein Gehör verlassen. So leicht berührte es den Boden, dass kaum das Laub unter den Hufen raschelte, aber ich hörte das andere, schwerere Tier, das es jetzt einholte, und nun hasteten beide zusammen davon, weit vor mir. Ich rannte mit erhobenen Armen, um die Äste aus dem Weg zu schieben, trotzdem erwischten mich immer wieder kleinere Zweige im Gesicht und an den Händen und bremsten mich. Der Wald wurde dichter und dunkler, so tief war ich schon hineingelaufen, nur ganz schwach schimmerte noch das Mondlicht zwischen den Baumkronen hindurch. Das Reh und sein Freund rannten schnell wie der Wind, während ich stolperte und mein Pullover an jedem Ast und jedem Brombeerstrauch hängen blieb.
Schließlich blieb ich stehen und lauschte, konnte aber nichts mehr hören. Ein paar Minuten lang ging ich noch weiter in die Richtung, in der ich die beiden zuletzt gehört hatte, doch es war zwecklos. Entweder waren sie bereits außer Hörweite, oder sie standen irgendwo ganz still, um ihr Versteck nicht preiszugeben. Solange sie selbst es nicht wollten, war es unmöglich, sie zu finden. Alles, was ich hörte, war der Wind in den Wipfeln der Bäume und das Rauschen des Flusses in der Ferne.