Der Tag, an dem ich herausfand, dass die Hütte mir nicht allein gehörte, war insgesamt ein seltsamer Tag.
Mitte November, zwei Wochen vor Erntedank, war der Winter endgültig da. Fast jeden Tag gab es eisglatte Straßen durch gefrierenden Regen, oder es war so bitterkalt, dass einem fast die Finger abfroren, und schon gegen fünf Uhr nachmittags ging die Sonne unter. So kam ich immer weniger zu meiner Hütte, denn entweder war es nass und kalt oder gruselig dunkel, und wenn ich mal da war, fühlte ich mich unkonzentriert, immer auf dem Sprung. Es kam mir so vor, als hätte ich gerade mal Zeit, Feuer zu machen und ein Stündchen zu lesen oder zu schreiben, dann musste ich mich auch schon wieder auf den Rückweg machen, weil es dunkel wurde oder das Wetter schlecht war. Ich hatte einen direkten Weg ausfindig gemacht, der nicht steil war und auch nicht durch Brombeergestrüpp führte, trotzdem brauchte ich fünfzehn bis zwanzig Minuten, selbst bei gutem Wetter. Bei richtig schlechtem Wetter blieb ich lieber gleich im Haus.
Als ich an jenem speziellen Samstag aufwachte, klapperten die Fenster im Sturm. Die Bäume bogen sich, und etliche Skulpturen schüttelten sich und klimperten im Wind. Henry war schon früh draußen und sicherte mehrere Arbeiten, damit sie nicht umgeweht wurden. Am späteren Vormittag rauschte der Regen von den Dachtraufen, und als wäre das noch nicht schlimm genug, lag ich auch noch mit einer Erkältung im Bett, und uns war »schlechte Gesellschaft« auf die Bude gerückt, wie Fred sich ausdrückte.
Die Besitzer der New Yorker Kunstgalerie, die Henrys Arbeiten verkaufte, waren unangekündigt bei uns aufgetaucht, gleich nach dem Frühstück. Mr Sasser, der Gründer der Galerie und ein alter Freund von Henry, war im vergangenen Jahr gestorben und hatte die Galerie seinen grässlichen Sprösslingen Lillian und Sid hinterlassen. Als ich die beiden kennenlernte, war ich heilfroh, dass ich Einzelkind war.
Lillian und Sid hatten ein weißes Hündchen dabei mit einer so peinlichen Frisur, einem Krönchen, dass es sich geschämt haben muss. Dieser Hund verschwand als Erstes unterm Haus und stürzte sich auf den Kater. Es gab ein Geheule und Gejaule, einen Kampf mit Zähnen und Klauen, aber ohne Wertung. Anschließend kam der Hund winselnd heraus und versteckte sich unter Freds Pick-up, wo er herumjammerte und seine nagelneue Gesichtstätowierung pflegte. Der Kater zischte, ohne sich um das Wetter zu kümmern, in Richtung Kirche ab. Ich war wirklich sauer, dass er mich nicht mitnahm.
Fred hat Lillian sechsmal gebeten, ihre kleinen schwarzen Zigaretten nicht im Haus zu rauchen, aber sie hat sich trotzdem immer wieder eine angezündet und die Asche in die offene Hand geschnippt. »Wofür zum Teufel hält die sich eigentlich?«, meckerte er. Danach fluchte er noch eine Weile unflätig vor sich hin, aber so leise, dass man es kaum hörte.
Lillian war dürr wie eine Bohnenstange und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Sie hatte lange, rot lackierte Fingernägel und trug die schwarz gefärbten Haare so straff aus dem Gesicht gebunden, dass es weh tun musste. Sie hatte eine so herrische Art zu reden, dass ich Lust bekam, sie in ihr teigig weißes Gesicht zu schlagen. Sid, der hinter seiner Sonnenbrille Lichtjahre entfernt zu sein schien, gab ihr in allem recht, egal, was sie sagte.
Sie nannte jeden »Schätzchen«, aber als sie einmal mit Sid sprach, hörte ich, wie sie mich »diese durchgeknallte Göre« nannte. Als ich das Fred erzählte, gebrauchte er einen Ausdruck für Lillian, den ich lieber nicht aufschreibe. Er wollte es ihr auch ins Gesicht sagen, aber das konnte ich ihm gerade noch ausreden. »Was kümmert es die dicke Eiche, wenn ein Schwein sich an ihr kratzt? Oder wie Manny immer sagte: ›Rache ist süß, Zuckerpüppchen.‹«
Am meisten litt Henry unter Lillians Anwesenheit. Wie eine schwarze Wolke verfolgte sie ihn, sie hing an seinen Lippen.
»Künstler sind Götter«, erklärte sie mir. »Und Henry Royster ist der moderne Zeus. Ich bete an seinem Altar.« Das hat sie allen Ernstes so gesagt, ich schwöre.
»Wie bitte?«, sagte ich und verdrehte die Augen. Nicht, dass Lillian so etwas bemerkt hätte. Sie sah Menschen nie ins Gesicht, wenn sie mit ihnen sprach.
»Zeus, Schätzchen«, sagte sie, als wäre ich blöd. »Der höchste aller römischen Götter.«
Offenbar konnte sie nicht Griechen von Römern unterscheiden, aber ich hatte keine Lust, sie aufzuklären. Als sie irgendwann später Henry in seinem Atelier heimsuchte, kam Sid, der Spinner, auf der Suche nach dem Bad nach oben und blieb anschließend in meiner Tür stehen.
Ich blickte von meinem Referat auf. »Fertig gebetet an Henrys Altar?«
Sid schnaubte verächtlich. »Ich versteh vielleicht nichts von Kunst, Kleine, aber ich hab ’nen Riecher dafür, wo’s was zu holen gibt, und den solltest du dir auch zulegen.« Er zündete sich eine seiner Spezialzigaretten an, inhalierte tief und blies dann den Rauch in meine Richtung aus, so wie Ray das immer gemacht hatte. Er zeigte durchs Fenster auf die Skulpturen draußen. »Wir beide gucken raus und sehen einen Haufen Schrott. Sie sieht Kunst im Wert von einer Million Dollar. Rate mal, wer recht hat.«
Es passte mir überhaupt nicht, dass Sid glaubte, meine Gedanken zu kennen. »Wer denn wir? Wohl ’nen kleinen Mann im Ohr, wie?«
Sid grinste bloß und wankte nach unten. Sobald er aus dem Haus war, rutschte ich das Treppengeländer hinunter und schloss mich im Arbeitszimmer ein – dem einzigen Raum im Haus mit einem Riegel an der Tür –, um die Artikel über Henry in verschiedenen Kunstzeitschriften zu lesen. Die waren nun wirklich nicht in normalem Englisch geschrieben und hörten sich sehr nach Lillian an. In einem war die Rede davon, wie Henry zum Künstler geworden sei (»durch die Tragödie seines Lebens«) und wie er sich entwickelt habe (in »inspirierter Isolation«, was immer das sein soll). Ein anderer beschrieb sein Werk als »monumental, elementar und meisterhaft« und Henry selbst als »einen der großen lebenden Künstler dieses und des nächsten Jahrhunderts«. Was für ein Gefasel!
Am verständlichsten war der Artikel in der Zeitschrift mit dem Foto von dem brummigen Henry auf dem Titel. Darin stand, dass er in zwei Berufen erfolgreich war, als Bildhauer und als Herzspezialist, bis er die Medizin aufgab, um nur noch seine Skulpturen zu machen. Doch nach dem Tod seiner Frau Amanda, die an Krebs gestorben sei, schien er von der Erdoberfläche verschwunden. Die Kunstwelt habe weder gewusst, wo er war, noch, was er machte, und nach ein paar Jahren hielten die meisten Menschen ihn ebenfalls für tot.
Als Fred vom Einkaufen zurückkam, leistete ich ihm in der Küche Gesellschaft, während er den Braten mit dem Fleischklopfer bearbeitete, damit er zart wurde. Bei jedem Hieb stelle er sich vor, es sei Lillians Hintern, sagte er. Ich musste lachen. Dann fragte ich Fred nach den Artikeln.
»Kunstdünger«, sagte Fred. »Das ist jedenfalls Henrys Ausdruck für diesen Mist.«
Ich grinste. »Das ist also alles nicht wahr?«, fragte ich.
»Doch, auf gewisse Weise ist es schon wahr. Eine hochgestochene Version der Wahrheit, viel heiße Luft. Ich würde nicht wollen, dass solche Leute über mein Leben schreiben.«
»Henry ist schrecklich schlecht drauf heute«, bemerkte ich.
»Das liegt an diesen Blutsaugern aus New York.«
»Wieso redet er dann überhaupt mit denen?«
»Weil er davon lebt. Früher hatte er einen Vertrag mit dem Vater der beiden, aber jetzt mit Lillian und Sid. Henry hat sich verpflichtet, der Kunstgalerie bis Jahresende fünfzehn Stücke für eine Ausstellung zu liefern, und sie lassen ihn nicht raus aus dem Vertrag.«
»Aber das sind ja keine zwei Monate mehr!«, sagte ich.
»Eben. Und wenn Henry nicht liefert, sagt Lillian, dann verklagt sie ihn. Sie will durch Henry zu Geld kommen, so oder so.«
Henry tat mir leid. Ich habe schon immer eine Gänsehaut bekommen, wenn jemand so tat, als wäre ich eine Marionette an Fäden. Mama machte das gern. Wenn sie mich nicht beschwatzen konnte, damit ich tat, was sie wollte, dann beschimpfte sie mich als widerspenstig und dumm und kein bisschen hübsch; ich würde jedes Mal gehen, wenn ich rennen sollte, und stocksteif dastehen, wenn ich gehen sollte – alles nur aus Trotz. Vermutlich hatte sie sogar recht damit. Sie hat oft die Geschichte erzählt, wie wir einmal über eine vielbefahrene Straße mussten und sie mich an die Hand nehmen wollte. Damals war ich drei. »Gib mir deine Hand!«, hat sie mich angeblafft, und ich habe zurückgeblafft: »Nein, das ist meine!«
Als die Kunst-Geier gegen drei endlich davonflogen, ging Fred nach Hause zu Bessie, und Henry stampfte in seine Werkstatt. Gleich darauf sprang der Winkelschleifer an. Jetzt musste er erst einmal allein sein und diesen Überfall von Lillian und Sid verdauen. Der Regen hatte so weit nachgelassen, dass ich das Gleiche tun konnte, Erkältung hin oder her. Ich zog Stiefel und Jacke an und ein Regencape darüber und machte mich auf den Weg zur Hütte.
Aber bis ich dort ankam, hatte es wieder angefangen zu regnen und zu stürmen. Ich machte gar nicht erst den Versuch, ein Feuer in Gang zu bekommen. Der Wind heulte im Kamin und trieb Asche und Regen über den ganzen Fußboden. Der Holzhaufen vor der Hütte war klatschnass. Ich ließ den Mantel an und saß bibbernd am Tisch, während ich versuchte, das, was an diesem Tag passiert war, in meinem Tagebuch festzuhalten. Aber von der Feuchtigkeit wellten sich die Seiten, meine Schreibhand wurde steif von der Kälte, und mein Kopf ging immer mehr zu, so als sammelte sich darin der Rotz. Ich schaffte gerade mal eine halbe Seite, dann beschloss ich, lieber zu lesen. Ich zündete beide Öllampen an, legte mich komplett angezogen ins Bett und zog sämtliche alten Decken über mich. Aber inzwischen war es draußen schon so dunkel, dass ich trotz der Lampen kaum die Wörter auf der Seite erkennen konnte. Außerdem war ich völlig durchgefroren.
In dem Moment wurde mir erst richtig bewusst, wie wichtig mir Wärme und gutes Licht waren. Wenn ich ganz in die Hütte zöge, müsste ich bei jeder Art von schlechtem Wetter irgendwie klarkommen. Wenn das Holz nass würde, gäbe es eben kein Feuer, und selbst wenn ich es schaffen würde, es trocken zu halten, wäre der Haufen doch irgendwann aufgebraucht. Wenn meine Kleider nass würden, hätte ich nichts Warmes, Trockenes mehr zum Anziehen, und wenn ich nach Hause käme, hätte niemand für mich gekocht und das Essen in den Ofen gestellt, damit es heiß blieb. Und ich hätte extrem wenig Licht, vor allem im Winter.
Ich ließ den Blick durch meine kleine Hütte schweifen und sah zum ersten Mal, was für ein Schuppen sie im Grunde war. Durch die nicht abgedichteten Ritzen zwischen den Balken drang eisige Kälte herein. Der Boden war noch immer so dreckig, dass man ihn für den nackten Erdboden halten konnte. In dem Ding, das als Waschbecken herhalten musste, lag eine dünne Eisschicht. Würde ich wirklich so leben können? Für immer? Und zwar nicht nur ein, zwei Stunden am Tag, sondern Tag und Nacht, im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter, Jahr für Jahr? Das Fernsehen würde mir vielleicht nicht fehlen, aber was wäre mit fließendem heißen und kalten Wasser oder mit sauberen Kleidern? Mit Wärme, für die ich nicht erst selbst sorgen musste? Mit elektrischem Licht? Könnte ich ohne Bad und ohne Toilette mit Wasserspülung zurechtkommen? Und selbst wenn ich es könnte – würde ich es wollen? Und was würde ich essen? Würde ich stehlen, was ich nicht selbst anpflanzen könnte, oder würde ich mit eigenen Händen töten? Könnte ich das wirklich – ein Tier töten? Und es dann häuten, kochen und essen? Würde ich mich irgendwann einsam fühlen? Würden mir Gespräche mit anderen Menschen fehlen? Und was wäre, wenn ich krank würde, so wie jetzt? Oder Hilfe brauchte?
Ein Gewirr von Fragen ging mir durch den Kopf, während ich zitternd und schniefend in diesem armseligen Bett lag. Ich fühlte mich wie ein Häufchen Elend, und entsprechend fielen auch die Antworten aus: deprimierend klar. Ich sah hoch zu dem Bord mit dem Foto der traurigen Frau, der sorgenvollen Mutter eines bemitleidenswerten Kindes, und mir kam der Gedanke, dass noch das härteste Leben von Menschen, über die ich in Büchern gelesen hatte, wärmer und behaglicher gewesen sein dürfte als das dieser beiden.
In dem Moment sah ich sie. Sie stand ganz unauffällig zwischen den anderen, Schulter an Schulter mit dem Eichhörnchen und dem Reh. Ich stand auf, um genauer hinsehen zu können. Auf dem Bord, neben dem Foto der Frau und den sechs kleinen geschnitzten Tieren, befand sich eine siebte Figur, nicht größer als eine halbe Walnussschale. Die Katze, die zusammengerollt fest schlafend dalag, glich in allen Einzelheiten meinem eigenen Kater, bis hin zu dem übergroßen Kopf, den eingerissenen Ohren und dem Fleck auf der rechten Seite seiner vollkommenen, winzigen Nase. Sie war wunderschön, und ich wusste sofort, dass sie für mich sein sollte.
Ich nahm sie in meine gewölbten Hände und staunte über die Ähnlichkeit. Erst dann wurde mir etwas klar: Wer immer diese Katze gemacht und hier hingestellt hatte, musste mich ständig beobachtet haben, egal, was ich machte. Erschrocken fuhr ich herum, fast erwartete ich, jemanden vor dem Fenster oder in der Tür stehen zu sehen, aber draußen war nichts als Wind und Regen.
Ich steckte die Schnitzerei in meine Jackentasche und lief so schnell wie möglich zurück zu Henry. Auf dem ganzen Weg hielt ich die kleine Holzkatze zwischen meinen Fingern. Ich war richtig froh, als ich Henrys Skulpturen sah, die sich wie zu meiner Begrüßung im Wind drehten, und hörte erleichtert das Kreischen seines Schweißgeräts hinter dem Haus. Ich machte im gesamten unteren Stockwerk Licht und stellte den Backofen an, um das Essen, das darin wartete, heiß zu machen. Anschließend setzte ich mich hin, drehte die kleine Katze in den Händen und strich ihr mit dem Finger über den Buckel und die spitzen Ohren. Angst hatte ich eigentlich nicht. Niemand, der mir Böses wollte, würde etwas so Schönes für mich schnitzen. Vielmehr beunruhigte mich, dass derjenige, der diese Katze geschnitzt hatte, mich zu kennen schien, meine tagtäglichen Gewohnheiten und Geheimnisse, Dinge, die niemand wissen konnte, der mich nicht Tag und Nacht beobachtete.
Die Haustür ging auf, und Henry kickte seine Stiefel im Flur in die Ecke. Schnell schob ich die geschnitzte Katze in meine Jackentasche zurück.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er, als er in die Küche kam. Er schrubbte sich die dreckigen Hände im Waschbecken und legte mir dann nach Ärzteart eine Hand auf die Stirn. Als er meine nass geschwitzten Haare und Kleider bemerkte, zog er eine Augenbraue hoch. »Du hättest heute eigentlich ins Bett gehört.«
»Ach, es war so ein komischer Tag«, sagte ich.
Er nickte, so als fände er das auch, dann holte er den Braten aus dem Ofen und stellte ihn auf den Herd. Er schnitt zwei dünne Scheiben ab, legte sie zusammen mit Möhren und Kartoffeln auf einen Teller und reichte ihn mir. Dann machte er für sich selbst eine größere Portion fertig und setzte sich. »Tut mir leid, das mit diesen Leuten«, sagte er.
»Ich glaube, du tust mir mehr leid.«
»Das exotische Leben der Künstler. Jetzt verstehst du, wieso ich hier lebe.«
Ich stützte den Kopf in die Hand und stocherte in meinem Essen. Es sah köstlich aus, und eigentlich war Schmorbraten mit Gemüse mein Lieblingsessen. Aber an diesem Tag konnte ich weder riechen noch schmecken. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er voller Steine. »Ich kann nichts essen.«
Henry legte sein Besteck zur Seite. »Was hältst du davon, wenn ich dich ins Bett bringe?«
Er trug mich nach oben, half mir, meinen Pyjama anzuziehen, und deckte mich gut zu. Er strich mir die feuchten Strähnen aus der Stirn, dann stützte er mir mit einer Hand im Nacken den Kopf, während er mir mit der anderen ein Glas Wasser hinhielt. Noch nie hatte jemand so für mich gesorgt. Und ich ließ es zu. Ich ließ auch zu, dass er neben meinem Bett saß, bis ich eingeschlafen war.
Trotzdem schlief ich unruhig und bekam schlecht Luft. Irgendwann wachte ich auf und schob mir die kleine Katze unters Kissen; vielleicht würde ich so besser träumen. Doch es half nichts, die ganze Nacht lang jagten die wildesten Szenen durch meinen schweren Kopf. Meine Erinnerungen an den Tag teilten sich in winzige Fetzen, die wie in einem Tornado aufgewühlt wurden und durch meinen Kopf wirbelten. Mama flog auf einem Krankenhausbett vorbei, Ray rannte mit einem Gewehr in der Hand an mir vorüber, auf der Jagd nach dem weißen Reh und dem Kater gleichzeitig, Maud jagte Ray hinterher. Der Kater verfolgte eine Ratte, die größer war als er selbst, Fred sagte zu Bessie und dem Padre, er habe schon die ganze Zeit über gewusst, dass mir etwas Schlimmes zustoßen würde, und Lillian und Hargrove Peters zeigten beide mit dem Finger auf mich, lachten und nannten mich »primitives Gesocks«. Sid steckte mir eine seiner Spezialzigaretten zwischen die Lippen und sagte: »Probier mal, Kleine, danach ist dir völlig egal, was die anderen von dir denken«, worauf Henry in einem weißen Kittel erschien, mir mit einer hellen Taschenlampe in die Augen leuchtete und sagte: »Sie ist völlig verrückt, so wie ihre Mutter, ich kann nichts für sie tun.«
Ich wachte schlagartig auf und hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Als ich endlich wieder einschlief, hatte ich den seltsamsten Traum überhaupt.
Es war keiner von der wirren Sorte, sondern ein absolut friedlicher. Und allein das war schon merkwürdig, denn er handelte von meinem Daddy. Zumindest glaubte ich anfangs, er sei es. Es war dunkel, und ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Wie schon in dem ersten Traum, der im Wald spielte, wusste ich einfach, dass er es war. Er stand an meinem Bett, beugte sich über mich und sah mir zu, wie ich schlief. Er wirkte nachdenklich und neugierig und schien überhaupt keine Eile zu haben. Einmal streckte er eine Hand nach mir aus, zog sie aber gleich wieder zurück, so als hätte er Sorge, ich könnte aufwachen. Ganz lange stand er so neben mir. Das Eigenartigste aber war, dass ich von dem Traum auf einmal ganz ruhig wurde und endlich in einen tiefen, friedlichen Schlaf sank.
Dadurch wusste ich dann aber auch, dass es nicht mein Daddy gewesen war. Das konnte gar nicht sein. Denn wer immer es war, es war jemand, dem ich wirklich wichtig war.