11 - Der Kinuu
Wir besprachen noch einmal unser Vorgehen und kamen schließlich darin überein, dass wir die Cheiron per Autopilot nach Katara II schickten. Ich programmierte den Bordrechner so, dass er das Schiff in den Orbit schwenken ließ, damit ich in der Lage war, einen Landebefehl per Funk über das Steuermodul in dem hässlichen Stirnreif auszusenden, den Odin mir übergeben hatte. Der Bordrechner der Cheiron war dank seiner sorgfältigen Programmierung problemlos dazu fähig, ein Landemanöver selbst durch den Atmosphärenschild durchzuführen, was ich anhand einer Simulation feststellen konnte.
Musashi stimmte mit mir darin überein, dass dieses Vorgehen unsere Sicherheit erhöhte, sollte Aristea etwas geschehen. Gleichzeitig konnten wir zunächst auf eine Landung verzichten und unsere Suche nach Ipsoor schon in Kürze beginnen. Dadurch gewannen wir Zeit und mussten die Cheiron nicht im Raumhafen 4-5-1 landen, wo jegliche Sicherheit überwiegend von der eigenen Feuerkraft abhing.
Schließlich waren wir gut vorbereitet. Aristea und ich waren in praktische und unauffällige Kleidung geschlüpft, Musashi hatte seine Mimese aktiviert und sah nun aus, wie eine Lustpuppe von Zeux. Wir versteckten jedoch genug von ihm, dass er kaum noch zu erkennen war, womit er beinahe als Mensch oder zumindest als eine menschenähnliche Spezies durchging.
Aristea würde uns direkt zu Ipsoors Unterkunft teleportieren, dem Nest, dass er in den Tiefen von Unten zwischen Rohrleitungen und Kanälen unter einer dunklen Decke eingerichtet hatte, wie es die Kinuu zu tun pflegten.
»Wenn wir so weit sind, kann ich uns hinbringen«, sagte Aristea und lächelte.
Ich wusste genau, was sie empfand. Wir unternahmen etwas, dass sich richtig und gut anfühlte und es war ein angenehmer Ausgleich zu dem, was wir in den letzten Monaten hatten tun müssen.
Was sollte schon schief gehen?
Doch bevor ich diesen Gedanken auch nur zu Ende gedacht hatte, meldete sich eine leise Stimme in meinem Hinterkopf. Sie sagte zwar kein Wort, aber ich hörte das mentale Seufzen.
Da kein Grund zur Eile herrschte, versetzte uns Ari in einem allmählichen Übergang nach Katara II. Die hellen Bordwände der Cheiron, ihre saubere Luft und die klare Ordnung ihrer Decks und Korridore verwandelten sich in stinkende Dunkelheit. Dreck und Abfall einer verkommenen Gesellschaft, wie man sie nur Unten vorfinden konnte, häufte sich meterhoch neben uns. Als der Eindruck von trostloser Düsternis, Verfall und Hoffnungslosigkeit perfekt war, wusste ich, dass wir angekommen waren.
Ari hielt sich den Handrücken an die Nase und ich wedelte ein paar Mal mit der Hand, einen Haufen Müll neben mir skeptisch betrachtet.
»Da ist sicher was Totes drin. Und nicht erst seit gestern«, murmelte ich.
Wir befanden uns in einer schmalen Gasse tief unterhalb des Raumhafens 4-5-1, in einem der finstersten Reviere von Unten. Ich suchte mit den bloßen Augen, die sich noch an die Lichtverhältnisse gewöhnen mussten, den Bereich der Decke ab, wo wir Ipsoors Nest finden sollten.
Mein Blick glitt an dicken Rohrleitungen und zerfaserten Kabelsträngen entlang, die unter einer massiven Decke verliefen, die im Laufe der Zeit eine einheitlich grau-schwarze Färbung angenommen hatte. Kleine Vögel und anderes Getier flatterten hin und her, ihren Ballast ungehemmt auf alles verteilend, was nicht ausweichen konnte.
»Dort zwischen den Stützstreben!«, rief ich und deutete auf eine schwer zu erkennende Form in der Dunkelheit.
Aristea sah hin und kratzte sich am Kopf. »Wenn ich uns hineinteleportiere, ist das eventuell sehr unhöflich.«
»Haltet euch an mir fest, ich bringe uns mit meinem Feldantrieb hin«, sagte Musashi.
Wir klammerten uns an ihn, stellten je einen Fuß auf seine Metallfüße und er ließ uns hinaufschweben.
Oben angekommen sah ich, dass das Nest genauso aussah, wie ich es in Erinnerung hatte. Der Kinuu hatte eine Reihe leichter Baumaterialien, die er hier und da im Abfall und verlassenen Gebäuden aufgesammelt hatte, mit erstaunlicher Geschicklichkeit zu einer Art hängenden Behausung zusammengefügt. Er hatte dabei die spinnwebartige Substanz benutzt, die Kinuu absondern konnten, um die Metallplatten, Rohre, Gehäuseverkleidungen und tausend Dinge mehr zusammenzuhalten, die das Äußere vom Inneren trennten.
»Ich klopf mal«, sagte ich und ließ meine Metallfaust scheppernd auf ein Stück Blech hämmern.
Im Inneren regte sich etwas und ich beeilte mich, Ipsoor zu rufen und mich anzukündigen.
»Iason Spyridon?«, kam seine Stimme leise aus dem Inneren.
»Ja. Ich dachte, wir kommen dich mal besuchen. Ich habe einen Vorschlag, den ich dir unterbreiten möchte. Willst du ihn hören?«
»Komm herein und lass deine Begleiter draußen!«
Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern und kletterte auf ein Gitter, das ins Innere des Nestes führte. Drinnen empfing mich ein muffiger Geruch, an den ich mich von meinem letzten Besuch nicht erinnern konnte. Gleich geblieben war die eigenartige Ordnung und Ästhetik der Kinuu. Trotz der Armseligkeit der Behausung war es Ipsoor gelungen, eine gewisse Würde in sein Nest zu bringen. Die wenigen Dinge, die ich für ihn hatte finden können - Überbleibsel seiner Kultur - waren an verschiedenen Stellen ausgestellt wie Exponate in einem Museum. Ich freute mich darüber, denn ich erkannte alles wieder, was ich ihm mitgebracht hatte.
Ich drang in den Bau vor, wobei ich mich ein paar Mal ducken musste. Das spärliche Licht aus chemischen Leuchtkörpern und kleinen Lampen warf Schatten in die Ecken und ich erblickte Ipsoor erst spät. Er hockte auf einem bequemen, wenn auch etwas schmuddelig aussehenden Kissen, seine langen Arme/Beine um sich gewunden.
Sein Zustand erschreckte mich.
War er krank? Oder wurde er allmählich alt?
»Ipsoor, du hast schon mal besser ausgesehen.«
Sein Rezeptorkranz zuckte müde. »Ich gehe nicht mehr allzu oft hinaus. Was bringt dich hierher?«
»Du.«
»Was willst du von mir?«
Seine Stimme, so eigenartig sie auch moduliert war, ließ dennoch eine gehörige Portion Bitterkeit erkennen.
»Eigentlich bin ich gekommen, um dir einen Vorschlag zu unterbreiten.«
»Spinne deinen Faden schneller, sonst reißt er ab!«
»Du hast eine bescheidene Laune heute, mein Freund.«
Ipsoor machte eine zuckende Bewegung mit einer seiner Klauen. »Die Tage werden lang. Ich verliere die Lust. Warum weitermachen?«
»Ich glaube, ich verstehe dich.«
»Ah. Da ist es wieder. Das Verständnis von euch Terranern.« Er richtete sich etwas auf. »Schnell seid ihr mit Worten, schnell mit Beteuerungen. Doch selten sind sie von Dauer.«
»Ich finde, ich habe ein bisschen mehr Freundlichkeit verdient, oder etwa nicht?«
Ipsoor setzte sich anders hin. »Verzeih einem alten Kinuu seine Bitterkeit. Es ist alles, was mir bleibt.«
»Bist du so alt?«
»Was spielt es für eine Rolle? Ich bin der letzte meiner Art, ich bin also stets der Älteste.«
»Oder der Jüngste. Je nachdem, wie man es sieht.«
Ipsoor musterte mich aus seinem Rezeptorkranz.
»Dein Optimismus kommt unerwartet. Ich habe dich anders in Erinnerung. Was willst du von mir?«
»Ich will, dass du deinen jämmerlichen Kinuu-Hintern emporschwingst und aus deinem Selbstmitleid erwachst! Das ist ja unerträglich! Wie hältst du es bloß mit dir selbst aus?«
Ipsoor schwieg einen Moment, dann machte er ein klackerndes Geräusch, das ich von früheren Gelegenheiten als eine Art Lachen zu identifizieren wusste.
»Du bist ein ungewöhnlicher Mensch, Iason. Ich sollte dir wahrscheinlich dankbar sein, aber noch dankbarer wäre ich, wenn du mich allein ließest.«
»Ich bin eigentlich hergekommen, um mich mit dir auf die ...«, ich hatte plötzlich einen spontanen Einfall und folgte ihm, »... Jagd zu machen. Aber ich sehe, du bist faul und lustlos geworden.«
Sein Rezeptorkranz zog sich zusammen. »Jagd? Wovon sprichst du?«
»Ich suche nach Kinuu. Du bist einer davon. Der Einzige, genau genommen. Aber ich bin bereit, mich auf die Suche nach anderen zu begeben.«
»Eine Suche ist keine Jagd.«
»Aber jede Jagd fängt mit einer Suche an.«
Ipsoor kratzte sich an Körperstellen, für die ich bei seiner Anatomie keine adäquate Bezeichnung fand, dann setzte er sich unruhig erst auf eine Stelle, dann auf eine andere, während seine eigenartigen Finger nervös über eine Art Speer fuhren, der neben ihm an einer Wand lehnte.
»Jagd ... Suche? Nach anderen von meiner Art? Ich weiß nicht, Iason. Es gibt kaum Hoffnung.«
»Das ist richtig. Aber willst du den Rest deiner Tage mit der Frage verbringen, ob sich die Suche nicht doch lohnen könnte? Bis du dich endlich durchringst, nur um festzustellen, dass du wirklich zu alt geworden bist?«
Er zögerte. »Du spinnst ein Netz aus Worten, dem man nicht entfliehen kann. Warum?«
»Es gibt eine Welt, auf der Leute wie du und ich willkommen sind. Ich helfe dabei, sie zu finden und dorthin zu bringen. Es ist schöner als hier. Na ja, es wird langsam schöner.«
»Welcher Planet?«
»Floxa II.«
Ipsoor ließ sich auf sein Kissen zurücksacken und gab laute Klackgeräusche von sich.
»Der Schrottplatz? Du machst dich über mich lustig, ist es das?«
»Du hast keine Idee davon, was auf Floxa II vor sich geht, oder?«
Ipsoor hörte auf zu klackern und sein Rezeptorkranz kräuselte sich leicht. »Was soll dort schon geschehen? Endlose Rivalitäten der armseligen Kreaturen, die sich um ihre Territorien streiten? Stinkende Brände zerfallender Wracks? Und die Luft kann man nicht atmen. Da bleibe ich lieber hier.«
»Du kennst die Türme, oder?«
»Ja sicher. Sind ja nicht zu übersehen.«
»Sie verwandeln die Atmosphäre und Erebos ist es gelungen, jetzt Atemluft mit ihnen herzustellen. Er verwandelt den ganzen Planeten, Ipsoor. Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe ... du würdest deine Meinung überdenken. Es gibt keine Brände mehr, jeder bekommt, was er braucht, auch wenn Lebensmittel noch knapp sind, gibt es sie. Natürlich ist es nicht perfekt.«
Er zögerte sichtlich. »Auf den Wracks gibt es nichts zu jagen.«
Ich lehnte mich vor. »Warst du je in der Tiefe? In den Schrottschluchten, wo die Mechanoiden in Horden jagen? Unerbittlich und tödlich?«
»Warst du?«
»Oh ja. Wäre beinahe draufgegangen.«
Er fingerte an seinem Speer herum. »Und du willst mir diesen Ort zeigen? Einfach so?«
Ich überlegte. Konnte ich Ipsoor davon überzeugen, dass ich keine Gegenleistung forderte? War das überhaupt der Fall? Wollte ich ihn nicht darum bitten, mit mir nach weiteren Kinuu zu suchen?
»Die Bedingung ist, dass du mir hilfst, nach anderen von deiner Art zu suchen.«
»Eine Einladung zur gemeinsamen Jagd also?«
»Wenn du so willst.«
»Du wirst nicht verstehen, was für mich als Kinuu damit einhergeht, aber ich werde dich nicht darauf festnageln.« Dann zögerte er einen Moment und sprach leise. »Ich begreife auch, dass du mir die letzte Chance bietest, diesen verfluchten Ort zurückzulassen, die ich vielleicht habe.«
»Dann ergreife die Chance! Wenn es dir nicht gefällt, können wir dich jederzeit zurückbringen, damit du in Bitterkeit und Einsamkeit den Rest deiner Tage in diesem stinkenden Loch verbringen kannst.«
Er überlegte, richtete dann die Mitte seines Rezeptorkranzes auf mich. »Warum willst du andere von meiner Art finden?«
Misstrauen lag in seinen Worten und ich seufzte. Ich konnte ihn verstehen.
»Du und ich, wir ... haben eine Sache gemein. Wir gehören zu denjenigen, die keine Heimat haben, die ausgestoßen und geächtet sind. Die Claifex hat das mit uns gemacht, doch ich bin seit einiger Zeit in Dinge verwickelt, die Auswirkungen auf die Claifex zeigen, sie verändern. Es gibt eine Menge, dass ich dir erzählen könnte. Möglicherweise wird es eine Revolution geben, wenn sie nicht schon im Gange ist. Erebos bietet uns, den Verlorenen, Schutz.«
»Ein Refugium also? Aber aus welchem Grund?«
»Du kennst Floxa II. Der Planet hat nur wenige Bewohner. Erebos will das ändern. Wenn du auf Floxa II leben willst, musst du natürlich einen Beitrag leisten. Aber niemand schreibt dir vor, in welcher Form, es gibt keine Regeln.«
»Dann werden Regeln kommen. Niemand lebt ohne Kontrolle.«
»Mag sein. Erebos übt tatsächlich Kontrolle aus.«
»Wer ist dieser Erebos? Ein Mensch?«
»Nein. Erebos ist Floxa II. Ich kann es schwer erklären. Am besten, ich stelle dich ihm einmal vor.«
»Du hast es geschafft, meine Neugier zu wecken. Einverstanden, ich komme mit. Lass mich ein paar Sachen packen.«
Ipsoor sprang auf seine Extremitäten und eilte weiter nach hinten, wühlte dort herum.
»Du solltest alles einpacken.«
»Du bist dir so sicher, dass ich nicht zurückkehren werde?«
»Ich bin mir nur sicher, dass sonst jemand kommt und dein Nest plündert.«
Er klackerte. »Da hast du wohl recht.«
»Lass mich meinen Freunden Bescheid sagen. Wir können dir beim Abtransport helfen. Es sollte reichen, wenn du deine Dinge auf einem Haufen zusammenstellst. Den Rest übernimmt Aristea.«
»Wie du meinst. Hast du noch diesen Gunda-Raumer?«
»Nein. Ich habe ein neues Schiff.«
»Was ist mit dem anderen Raumschiff passiert?«
»Das ist eine längere Geschichte. Ich erzähle sie dir an Bord.«
»In Ordnung.«
Ipsoor holte Dinge aus allen möglichen Ecken und Winkeln hervor, betrachtete manches und stellte es wieder zurück. Ich sah, dass er die Kinuu-Artefakte sorgsam in Decken einwickelte, und kletterte zurück bis zum Eingang.
Aristea und Musashi warteten am Boden und blickten auf, als ich ihnen winkte.
»Wir haben einen Passagier. Mit Gepäck.«
Aristea grinste breit und hob beide Daumen.