10 - Dazwischen
»Ich sage doch, wir können es ruhig machen.«
Aristea verschränkte die Arme und zog eine Grimasse.
Sie wollte teleportieren, ich wollte mit der Cheiron landen.
Sicher hatte sie recht. Es kam mir dennoch falsch vor. Ich wollte mein neues Schiff unbedingt irgendwo landen lassen. Einfach nur so. Die Logik ihrer Überlegungen war allerdings nicht von der Hand zu weisen, denn Katara II, unser Ziel, war ein gefährlicher Ort, und der tückische Atmosphärenschild hatte mir bei meiner Auseinandersetzung mit Lukas Kylon vor einer halben Ewigkeit schon einmal arge Probleme bereitet. Verblieb die Cheiron außerhalb des Planeten, konnte Ari uns jederzeit an Bord teleportieren und wir waren schnell aus der Reichweite etwaiger Verfolger. Doch hier ging es auch um Gefühle, was jedoch keiner von uns aussprechen wollte.
Musashi trat hinzu und gestikulierte. »Ich muss Aristea zustimmen. Der taktische Vorteil liegt auf der Hand.«
»Solange wir uns auf Aris Fähigkeiten verlassen können.«
Sie breitete die Arme aus. »Warum sollten wir das nicht können? Ich hatte keine Probleme mehr, seit ...«
Ich zeigte mit einem metallenen Finger auf sie. »Ganz genau. Seit Möbius dafür gesorgt hat. Was, wenn er deine Fähigkeiten genauso verschwinden lässt, wie er sie hat entstehen lassen?«
Ari verzog das Gesicht. Der Gedanke schien ihr so unbehaglich zu sein, wie mir, aber ich musste ihn aussprechen.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Der Preis, den wir gezahlt haben, war hoch genug.«
»Was die Unsicherheit der Angelegen-«
Sie brauste plötzlich auf. »Was soll ich deiner Meinung nach tun? Mich in irgendein Loch verkriechen? Ich kann mein Leben nicht so leben, als wäre nichts mit mir geschehen.«
Sie verließ wütend die Brücke und ich seufzte.
Musashi sah ihr nach, dann musterte er mich. »Wovor hast du Angst, Iason?«
Ich sah ihn an, plötzlich zornig. »Angst? Wieso Angst? Warum sollte ich Angst haben?«
Er begutachtete mich mit unbewegter Miene aus seinen blauleuchtenden Augen.
Ich ließ die Arme hängen, setzte mich auf den Pilotensessel. »Vielleicht hast du recht. Meine Möglichkeiten sind nun mal begrenzter als eure. Aristea teleportiert sich einfach fort, du kannst deinen Weg freischießen und dann deinen eigenen Antrieb benutzen, um in jedes beliebige System zu reisen. Ich habe dieses Schiff. Ohne die Cheiron fühle ich mich nackt und ich habe lange genug darauf verzichten müssen, einen eigenen Pilotensessel unter dem Hintern zu spüren.« Ich zögerte und sprach dann leise. »Ich habe womöglich auch Angst davor, wieder zurückgelassen zu werden.«
»So wie in Raronea?«
Ich sah ihn an und brauste meinerseits auf. »Ja. So wie in Raronea.«
»Was sollen wir tun, Iason? Wir können Aris Talente zu unserem Vorteil nutzen. Gleichsam nehmen wir Rücksicht auf dich und fliegen mit der Cheiron.«
»Nicht nur aus Rücksicht auf mich!«
»Zugegeben, es hat mehr Vorzüge. Dennoch können Ari und ich dir am besten helfen, wenn du uns unsere Fähigkeiten gebrauchen lässt.«
Ich atmete tief ein. »Ich bin eben nur ein Mensch, Musashi. Genetisch aufgerüstet, mit einer Faust aus rostfreiem Stahl ... aber dennoch nur ein Mensch.«
»Nefilim-Metall besteht zu ...«
Ich hob besagte Hand. »Ich weiß! Du verstehst jedoch, was ich meine. Ich kann mit euren Superlativen nicht mithalten.« Ich stand auf, trat an die Sichtscheibe der Brücke und sah in den Weltraum. »Vielleicht fürchte ich mich auch davor, endgültig aufgerieben zu werden ... in diesen endlosen Auseinandersetzungen. Wieder ein Schiff zu haben, gibt mir das Gefühl, einen Teil meines alten Lebens zurückgewonnen zu haben. Ich vermisse dieses Leben ein bisschen, auch wenn ich weiß, dass ich nicht mehr der Iason bin, der ich einst war.«
»Dann musst du eben lernen, deinen Freunden zu vertrauen«, sagte Musashi und verließ die Brücke.
Ich dachte über seine Worte nach.
Vertrauen?
War das mein Problem?
Ich kam mir beinahe hilflos vor, wenn ich mir vorstellte, von Aristeas Fähigkeiten abhängig zu sein. Aber war es besser, auf ein Schiff, einen leblosen Gegenstand zu vertrauen, als auf ein Wesen, das man - ja, das man liebte?
War es überhaupt Liebe?
Vielleicht hatte ich Angst, mein ... Vertrauen in Aristea auf die Probe zu stellen. Ich mochte meine Unabhängigkeit und die Cheiron bedeutete eben Unabhängigkeit für mich.
Freiheit.
Und nur ein Narr setzte seine Freiheit leichtfertig aufs Spiel.
Aber eigentlich riskierte ich nichts, wenn ich Aristea und Musashi vertraute. Im Gegenteil, die Vorteile lagen auf der Hand, wenn wir Aristeas Teleportationskräfte nutzten. Bisher hatten wir immer aus der Not der Situation heraus handeln müssen und jede Frage nach den Alternativen hatte sich von vornherein erübrigt. Nun ergab sich der Luxus der Wahl. Die Freiheit der Entscheidung. Damit einher gingen all die Ängste, Überlegungen, Empfindungen und der Ballast negativer Erfahrungen, die sich in einem Leben ansammelten.
Gab ich Ari das Gefühl, dass ich sie abwies? Dass ich ihr nicht vertraute? Ich hatte meinen Bedarf nach Unabhängigkeit deutlich zum Ausdruck gebracht. Vielleicht zu deutlich. Ich spürte, dass sich hier und jetzt entschied, wie sich der weitere Verlauf unserer Beziehung gestaltete. Und damit hatte Musashi recht.
Ich musste lernen, zu vertrauen.
Bei Aristea fiel es mir allerdings schwer. Sie hatte mich einmal hintergangen, indem sie mich im Unklaren gelassen hatte, was den »Preis« anbelangte, den Möbius von ihr gefordert hatte. Doch letzten Endes tat ich ihr unrecht. Möbius hatte sie bedroht und unter Druck gesetzt - nicht weniger als ihr Leben hatte schließlich auf dem Spiel gestanden.
Und am Ende hatte sie es in meine Hand gelegt.
Ich gab einem Impuls nach, suchte sie in unserer gemeinsamen Kabine auf. Sie saß auf dem Bett, das wir teilten, die Knie angezogen. Wir hatten mehrmals darin geschlafen, aber einander nicht berührt, trotz der Nähe, die wir damit zwangsläufig eingingen. Es war eine seltsame Situation.
Sie sah mich an und ich ging zu ihr hin, setzte mich auf den Bettrand. »Ari ...«
»Ich weiß, dass du nicht viele Gründe hast, mir zu vertrauen. Aber ich wünsche mir so sehr ...« Sie schluchzte und ballte die Fäuste. »Verdammt! Ich will nicht andauernd jaulen wie ein blödes Balg!«
Ich nahm ihre Hände und küsste sie.
»Meine Nase läuft«, flüsterte sie.
»Stimmt.«
Wir lachten leise.
Dann trat eine Stille zwischen uns, die ich unterbrechen musste, wenn ich sagte, was ich hätte sagen sollen. Sie sah mir in die Augen, doch ich konnte einfach nicht aussprechen, was mir auf der Seele brannte.
Anstelle dessen strich ich ihr über die Wange. »Wir machen es so, wie ihr sagt und teleportieren nach Katara II. Musashi hat recht, es ist natürlich logisch und von großem Vorteil bei unserer Aufgabe.«
Aristea sah mich an, nickte dann und stand auf. »Entschuldige, aber ich muss mal eben mein Gesicht waschen.«
Ich brummte irgendetwas als Erwiderung, einen Kloß im Hals. Sie verschwand hinter der Tür der Sanitäreinheit und ich wusste, dass ich zu feige war, um über meine Gefühle zu sprechen. Als sie zurückkehrte, eine Maske der Ausdruckslosigkeit tragend, war ich bereits aufgestanden.
»Wir sollten uns ein wenig Ausrüstung bereitlegen und die Cheiron ins nächste Zielsystem bringen. Dadurch gewinnen wir etwas Zeit, während wir Unten nach Ipsoor suchen.«
»Hast du denn schon ein anderes Ziel im Blick?«
»Mundahan. Ich habe einen großen Teil der Artefakte der Kinuu auf einem Wrack dort gefunden. Ipsoor könnte uns helfen, die Herkunft des Schiffes zu erklären und eventuell finden wir dabei heraus, wo weitere Kinuu sein könnten. Ich gehe auf die Brücke und gebe den Kurs ein.«
Aristea hob eine Hand. »Iason?«
»Ja?«
Sie ließ die Hand sinken und schwieg, schüttelte den Kopf und lächelte eine Sekunde. »Schon gut.«
Ich verließ die Kabine und wusste, dass es alles andere als gut war.
Ich rief Musashi per Interkom, erklärte unser Vorgehen und er war einverstanden. Dann begab ich mich in den Hangar, wo unsere Ausrüstung untergebracht war und traf auf Zweiundvierzig.
Er trug eine Mütze mit Ohrenklappen, wie man sie in kalten Klimata bevorzugte. Er war damit meinem Befehl gefolgt und hatte die Stelle bedeckt, die er zu polieren versucht hatte.
Der Anblick ließ mich spontan lachen.
Zum Glück waren die Gefühle eines Gaias vollkommen unverletzlich - denn man konnte schließlich nicht verletzen, was es nicht gab.
Der Gedanke ließ mich mit den Zähnen knirschen.
»Manchmal wünschte ich, wie wären alle Roboter«, murmelte ich und riss die Tür des Ausrüstungsschrankes auf.
Ich holte die Sachen hervor, die ich für angemessen hielt und mein Blick fiel auf den Waffenschrank. Einerseits war seit der Sache mit Sieraa eine Abneigung gegen Waffen in mir gewachsen, und andererseits war es beinahe albern, mit Musashi an meiner Seite eine Handfeuerwaffe mitzuschleppen, denn der Nefilim verfügte über das Vernichtungspotenzial einer kleinen Armada.
Ich hielt inne und betrachtete meine Prothese, ein Symbol der Dinge, die ich verloren hatte und ein Zeichen für die Gewalt, die bisher mein Leben beherrscht hatte. Ich hatte diese Gewalt satt.
Die Wahrheit war, dass ich auch Angst davor hatte, dass sich der Vorfall wiederholte, der zu Sieraas Tod geführt hatte, auch wenn er letztlich unabwendbar gewesen war.
Aber was geschah, wenn ich weiterhin gewaltsame Lösungen suchte? Würde ich dann von meinen Widersachern Stück für Stück zerhackt werden, wie Garsun es angefangen hatte? Würde jemand meine verlorenen Körperteile ersetzen, bis ich eines Tages in einem Körper aus Metall steckte?
Wie ein Nefilim?
Sie waren der ultimative Ausdruck dessen, was aus Angst und Gewalt entstehen konnte, eine beinahe unzerstörbare Vernichtungswaffe. Das Implantat von Dr. Tomasi hatte mir gezeigt, welche Konsequenzen es haben konnte, wenn ein einziger Mensch die Nefilim missbrauchte. Und es zeigte mir auch, dass man sein Leben nicht von Angst beherrschen lassen durfte, sonst verlor man alles an Freiheit, was man je besessen hatte.
Ich ballte meine Faust aus Nefilim-Metall - das war ein absolut unvorstellbarer Gedanke für mich.
Ich ahnte, dass Gewalt weiterhin einen Einfluss auf mein Leben nehmen würde, aber ich wusste auch, dass ich einen anderen Weg suchen würde, wann immer es mir möglich war.
Ich ging an den Waffenschrank, zögerte, öffnete ihn und holte die TeQumseh heraus, mit der mich eine lange Geschichte verband.
Der massive Griff lag schwer und kalt in meiner menschlichen Hand. Ich wechselte die Waffe in die rechte Hand und es fühlte sich wie eine vertraute und gewohnte Verlängerung meines Körpers an. Wie ein Teil von mir, der meinen Willen in die Welt hinausschickte, mit tödlicher Gewissheit und unerbittlicher Gnadenlosigkeit.
Ich sah Sieraas feine Gesichtszüge vor mir, in jenem letzten Augenblick, bevor das Licht in ihren Augen erlosch. Noch einmal hörte ich ihre letzten Worte, die ich nicht verstanden hatte und deren Sinn mir doch klar gewesen war.
Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht und ging zur Luftschleuse, den Schmerz der Erinnerungen im Bauch, das Gewicht der verhassten Waffe in meiner Hand.
Als ich bei der Schleuse angekommen war, legte ich die TQ, schwarz verschrammt und schwer wie ein Leichnam in den Druckausgleichsbereich. Der Lauf klickte laut auf dem Metallboden und ich verließ die Schleuse rückwärtsgehend, meinen Blick auf ihn gerichtet.
Ich schloss die Luke, ließ die Luft entweichen und schaltete das Schwerkraftfeld aus. Die TQ schwebte in der Schleusenkammer, rotierte vor dem Sternenhintergrund und schien das Schiff nicht verlassen zu wollen.
Es war mir offenbar nicht möglich, mich von diesem Teil meines Wesens zu trennen. Die TQ gehörte zu mir, ob ich wollte, oder nicht.
Nach einigen Minuten verschloss ich die Schleuse wieder und sah, wie die Waffe zu Boden fiel, als das Schwerefeld reaktiviert wurde.
Ich ließ meine Stirn gegen die Sichtscheibe sacken.
Einige Zeit später öffnete ich die Tür, hob die TQ auf und brachte sie zurück in den Waffenschrank. Der Tag mochte kommen, wo ich sie noch ein Mal brauchen würde.
Und davor hatte ich wirklich Angst.