4 - Ein Geschenk für den Feind
Zwei Stunden zuvor
Kurz darauf war ein Plan verfasst, der mir eindeutig zu viel Spielraum für Katastrophen ließ, aber mein Mitspracherecht war offenbar mit jeder Injektion, die Demi mir verabreicht hatte, etwas beschnitten worden. In der Tat fiel es mir schwer, geradlinige Gedanken zu formulieren und die Aussicht darauf, ein wenig zu meditieren, wirkte fast schon erleichternd. Obgleich ich gleichzeitig Angst davor hatte, dazu nicht in der Lage und mit meiner Aufgabe, die Nefilim zu lenken, überfordert zu sein.
Aber die Zeit schritt bar jeglichen Mitgefühls für meine Situation voran. Also schob ich meine Angst beiseite, konzentrierte mich lieber auf den Plan, die Gegenwart und meine Umgebung. Mein Ziel hatte ich fest im Blick, auch wenn ich nicht wusste, wie genau ich es erreichen sollte.
Hunderteins schaffte ein Ungetüm von einem Raumanzug herbei. Es war eines jener Modelle, die man für längere Aufenthalte im freien Raum benutzte. Diese Ausführung war jedoch nagelneu, von Meister Odin selbst gebaut und nanitisch verstärkt mit Erebos' Hilfe. Im Grunde war der Anzug ein winziges Raumschiff mit einem ebenso winzigen Antrieb, einem lächerlichen Schild gegen Meteore und unbedeutende Kollisionen, einer Lebenserhaltung für fünf Tage und einer Garantie für klaustrophobische Anfälle.
»Ausziehen!«, sagte Demi.
»Sie sind mir ein bisschen zu direkt. Ich mag es zärtlich«, meinte ich und zog mir die Schuhe und die Hose aus.
»Alles runter und beeilen Sie sich bitte!«, sagte Demi und machte eine nervöse Geste.
»Sie wollen mir immer nur an die Wäsche.«
Der Ernst der Lage war mir bewusst, doch meine einzige Waffe gegen die Angst war mein Humor. Ich wünschte, Demi würde es verstehen, aber sie war so besorgt, dass sie Mühe hatte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Ich stieg mit einiger Anstrengung in den schweren Anzug hinein, schließlich fehlte nur noch der Helm.
»Oh! Ich glaube, das Ding ist kaputt«, rief ich entsetzt und fasste mir wie unter Schmerzen an die Narbe auf meinem Hinterkopf.
Demi wurde kreidebleich und ich lachte.
»Das ist nicht witzig, Iason!«, presste sie zwischen den Lippen hervor.
»Doch. Sie müssen es nur zulassen.«
Sie sah ehrlich wütend aus und ich wusste plötzlich, woher ihre Gefühle kamen.
»Hören Sie, Demi! Wenn mir etwas zustößt, ist das nicht Ihre Schuld, verstanden?«
Sie entspannte sich zumindest ein klein wenig. »Seien Sie einfach nur vorsichtig! Ich werde allmählich zu alt für Gehirnchirurgie. Vielleicht habe ich einen Anschluss falsch verlegt.«
Ich starrte sie an, doch sie grinste schließlich, klopfte mir kumpelhaft auf den Arm.
Musashi trat hinzu und fummelte an der Brustplatte meines Anzuges herum.
»Ich setze diesen Sender in deinen Anzug ein. Er wird die Reichweite des Implantats vergrößern.«
»Wo wirst du mich noch mal hinbringen?«, fragte ich Aristea.
»An einen Ort bei Ilion Prime, in unmittelbarer Nähe der Charybdis. Hast du überhaupt zugehört, als Musashi es erklärt hat?«
Ich seufzte und blinzelte. »Ill-was?«
»Der Planet, auf dem die Niederlassungen in den einzelnen Sektoren errichtet wurden.«
Ich schüttelte den Kopf ein paar Mal und rieb mir die Augen. »Ach ja. Diese verdammten Medikamente lassen alles verschwimmen. Ein L-Vier?«
»L-Fünf«, sagte Musashi.
Er meinte jenen stabilen Lagrange-Punkt, um den ich rotieren würde, gehalten von den Anziehungskräften der umgebenden Himmelskörper und damit relativ sicher. Falls man überhaupt von Sicherheit sprechen konnte, wenn man jemanden nackt in einen Anzug steckt und im leeren Weltraum aussetzt.
»In Ordnung. Wiederhole noch einmal den Plan in Kurzform, bitte.«
Aristea nickte. »Der L-Fünf befindet sich in der Nähe der Charybdis, also können wir die Reichweite deines Anzugsenders optimal nutzen. Nachdem ich dich abgesetzt habe, springe ich mit dem scheinbar inaktiven Korpus von Musashi an Bord der Charybdis. Ich übergebe ihn als ein Friedensangebot meinerseits, zusammen mit dem Versprechen, Geran zurückzubringen, wenn der Rat meine Wiederaufnahme bewilligt, auch gegen Gerans Willen. Das wird sowohl den Rat als auch die Nefilim lange genug beschäftigen, um Musashi die Ausführung des kleinen Programms zu ermöglichen, das ihm von Odin übergeben wurde. Das Programm ist deine Hintertür in das Kollektiv-Gedächtnis der Nefilim, über das du die Kontrolle ausüben kannst. Danach ...«
»Danach machen wir Urlaub.«
Sie zögerte. »Du meinst, wir beide?«, fragte sie leise, ein Glitzern in den Augen.
Ich lächelte und setzte mir den schweren Helm auf. »Ja.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und sah mir in die Augen. Keine Ahnung, ob die Medikamente eine Rolle spielten, aber ich hatte einfach ausgesprochen, was ich gedacht hatte.
Der Anzug erwachte zum Leben, nahm an zu vielen intimen Stellen Verbindung zu meinem Körper auf und blendete Statussymbole auf einem Bereich meiner Sichtscheibe ein.
»Alle Systeme in Ordnung«, sagte ich, nach einem kurzen Check der Anzeigen und ein wenig Gefummel auf dem Armband, das über ein Bedienfeld zu Steuerung des Anzuges verfügte. »Hey, der Raumanzug ist fitter als ich. Vielleicht sollten wir ihm die Sache überlassen.«
Aristea trat zu mir und legte ihre Hand auf die Sichtscheibe. Sie sagte nichts und sah mich an, als würde sie sich mein Gesicht einprägen.
»Wenn du mich noch länger so anschaust, pinkel ich mir in den Anzug«, sagte ich.
Meine Stimme wurde über einen Lautsprecher auf der Brustplatte wiedergegeben.
Ari wischte sich über die Augen. »Ich weiß nicht, was geschehen wird. Ich habe die Zukunft jenseits des dunklen Ortes nie sehen können.« Sie schluckte und Tränen liefen ungehemmt über ihre Wangen. »Doch ich habe dich und mich gesehen. Also wird wohl alles gut gehen und unser Plan wird gelingen, schätze ich.«
Ich berührte vorsichtig ihr Gesicht mit meinem plumpen Handschuh. »Lass uns aufbrechen. Die Zeit wird knapp und ich habe schon jetzt das Gefühl, mich dringend am Rücken kratzen zu wollen.«
Demi drückte Aristea kurz an sich und sah Musashi und mich nacheinander an. »Viel Glück.«
Ari nahm vor Musashi und mir Aufstellung und versetzte uns in einem Lidschlag nach Raronea.
Um mich herum waren jetzt nur noch Sterne und vor mir Aristea, die sich innerhalb einer schimmernden Blase befand. Sie konnte dieses Feld zum Schutz aufbauen - ein weiteres »Geschenk« von Möbius.
Musashis unverwüstlicher Nefilim-Korpus hatte dem abrupten Wechsel von Atmosphäre zu Vakuum natürlich genauso überstanden, wie mein Anzug, der mir einige Hinweise über Anpassungen an die Situation auf die Sichtscheibe warf.
Ari lächelte mir zu und Musashi hielt mir einen Daumen entgegen.
Ich nickte und winkte, dann waren sie fort.
Es ist eigenartig, vollkommen allein zu sein.
Doch statt der Angst und des Adrenalinkicks, den ich erwartet hatte, fühlte ich mich absolut ruhig. Waren es die Medikamente? Oder war es dieser Augenblick der Ruhe und der Konfrontation mit der Unendlichkeit und Weite des Weltraums, durch den ich mich so ausgeglichen und so ... vollständig, wie nie zu vor fühlte?
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf meine Atmung.
Einatmen.
Ausatmen.
Ich hörte überdeutlich jedes Geräusch aus den Aggregaten des Raumanzuges, ein Pfeifen aus dem Luftausströmer im Helm, ein Klacken der Ventile und ein Summen der Lebenserhaltungssysteme.
Ich blinzelte, unfähig, mich fallen zu lassen und versuchte erneut, mich auf meine Atmung zu konzentrieren.
Einatmen.
Ausatmen.
Einatmen.
Ausatmen.
Dann konzentrierte ich mich auf jedes einzelne Geräusch, was mir etwas half.
Ab irgendeinem Punkt war mein letzter Gedanke, das Implantat zu aktivieren.
Ich tat es.
In der Weite des mich umgebenden Raums war nur Schwärze. Aber ein einziger Stern leuchtete hell in der Ferne, schien mich mit seinem Blinken anlocken zu wollen. Ich fokussierte sein Leuchten und spürte Bewegung, wie von einer unsichtbaren Kraft, die mich auf diesen einen Stern schleuderte.
Als ich dort eintraf, wurde ich von Licht umgeben, bis es die Schwärze vollständig ersetzt hatte.
Ich nahm Musashis schwache Präsenz wahr, konzentrierte mich auf ihn und ...
... stand vor einer Tür.
Verwirrt blickte ich an mir herab. Ich trug eine einfache Hose, Sandalen, ein Hemd aus grobem Stoff.
Der Raum war rund, klein und auf bescheidene Weise mit einer Art von weißem Kalk verputzt. Grobe Fliesen, blassrot und rissig bedeckten den Boden.
Die Tür vor mir bestand aus Holz und machte einen gleichfalls simplen Eindruck. Nur der würfelförmige Knauf mit seinen filigranen Intarsien war eigenartig. Ich erkannte den Kubus schließlich wieder. Es handelte sich um eine in dunklem Holz ausgeführte Version des Symbols, das Odin an die Wand seiner Unterkunft und auf Musashis Korpus graviert hatte.
Ich hob meine rechte Hand - es war ein normaler Arm, keine Prothese.
Ich lachte und befühlte die weiche Haut, die Knochen und Muskeln darunter.
Gleich darauf wurde mir klar, dass ich mich zusammenreißen musste. Dieser Ort war nur virtuell, repräsentierte lediglich die Interpretation meines Geistes von dem, was mir durch das Implantat an Eindrücken vermittelt wurde. In einem eigenartigen Status zwischen Bewusstsein und Ohnmacht verharrend, gelang es mir, die Kontrolle über meinen Willen, meinen scheinbaren Körper zu behalten, wie in einem lichten Traum von ungewohnter Klarheit.
Ich konzentrierte mich, wappnete mich gegen alles, was mich auf der anderen Seite der Tür erwarten mochte.
Dann ergriff ich den Knauf und öffnete die Tür.
Ich trat in einen weiten Raum von gigantischen Abmessungen. Über mir war eine überdimensionale Kuppel mit einem handgemalten Gemälde, das sich über die gesamte Fläche der Wölbung erstreckte. Ich sah darin tausend Dinge, die meinen Blick anzogen. Die Erde, Menschen, Geräte, Nefilim ... auch mich. An einem Punkt im Zentrum war ein dunkler Fleck, den ich länger anblickte, als alles andere. Etwas war darin, löste ein vertrautes Gefühl aus. Ich wusste, dass sich unter den Schatten ein Gesicht verbarg.
Doch welches? Und warum?
War dieser Ort eine Repräsentation meiner eigenen Gedanken und Vorstellungen? Oder sah ich über mir, was mein Verstand aus den Informationen machte, die er durch das Implantat erhielt?
Ich riss meinen Blick von den Schatten und blickte bewusst zum Rand der Kuppel. Sie wurde von mächtigen Säulen getragen - 144, wie ich in dem Moment erkannte, da ich sie erblickte - und auf jeder Säule waren Symbole in unterschiedlichen Farben abgebildet. Ich konnte nichts damit anfangen, bis ich mich einmal im Kreis gedreht hatte und die Säule hinter mir sah.
Sie war weiß und rot - Musashis Farben!
Ich sah mich um. Dort war eine stahlblaue Säule. Zurvan? Daneben eine silberne Säule mit einigen schwarzen Stellen. Sie musste Sargon repräsentieren.
Ich eilte durch die Halle und versuchte im Gehen zu sehen, was sich hinter der Säule befand. Doch dort war nur ein endloser Sternenhimmel.
Als ich die Säule, von der ich nun annehmen musste, dass sie Sargons Bewusstseinsmatrix darstellte, erreicht hatte, eilte ich sogleich um sie herum.
Eine seltsame Anziehung ging von dem Sternenhimmel dahinter aus und versuchte, mich von den Füßen zu reißen. Ich zögerte einen Augenblick, dann ließ ich mich in die Dunkelheit hinter der Säule ziehen.
Nach einem langen Augenblick der Desorientierung fand ich mich einem anderen Ort wieder. Dies war ein langer Korridor. Tausende von Bildern flackerten über seine Wände, über Boden und Decke. Als ich mich in einem der Bilder sah, mit Haaren auf dem Kopf, einen Scanner in der Hand und einen überrascht-dämlichen Ausdruck im Gesicht, zwang ich mich, weiterzueilen. Es musste der Eindruck gewesen sein, den Sargon direkt nach seiner Reaktivierung an Bord der Cheiron I von mir erhalten hatte. Die Bilder übten eine geradezu magische Anziehungskraft aus und der Korridor erstreckte sich noch ein gutes Stück - ich durfte mich also nicht ablenken lassen. Ich ging weiter und sah ein Bild, in dem der Tempel der Kalimbari zur Seite fiel.
Dieser Korridor war eine Darstellung von Sargons Gedächtnis. Mein Verstand machte aus dem zeitlichen Verlauf einen langen Gang, damit ich die Erinnerungen besser zuordnen konnte. Wenn ich in Sargons Gegenwart vordringen wollte, sollte ich die Beine in die Hand nehmen, denn die Ereignisse in diesem Abschnitt lagen eine Weile zurück.
Ich verfiel in einen zügigen Laufschritt und ließ meine Augen über die Bilder huschen.
Impressionen ...
... mir wurde schwindelig und Sterne blinkten vor meinen Augen.
Das Rauschen eines Luftausströmers, das Klacken von Ventilen.
Atmen.
Einatmen.
Ausatmen.
Einatmen.
Das Implantat ...
Ich hatte mich überanstrengt und musste schnell wieder zurückfinden.
Mit einem Gedanken versetzte ich mich zurück in den kleinen runden Raum mit den weißen Wänden und der einzelnen Tür. Nur eine Sekunde lang nahm ich wahr, dass er realer wirkte, als der kurze Eindruck, den ich von meinem Körper im Raumanzug erhalten hatte. Eine leise Stimme in meinem Hinterkopf wisperte etwas, doch ich hatte keine Zeit, ihren ängstlichen Worten zu lauschen.
Wieder ergriff ich den kubischen Knauf.
Er war diesmal schwergängig und ich packte ihn, bis meine rechte Hand von der Anstrengung schmerzte. Ich sah sie an und verwandelte sie kraft meines Willens in jene Prothese aus Nefilim-Metall, von der ich wusste, dass sie irgendwie zu mir gehörte.
Ich ergriff den Knauf mit meiner Faust aus Metall und nun öffnete sich die Tür vor mir.
Erneut stand ich in jener Halle mit den Säulen. Über mir sah ich die unkenntlichen Gesichtszüge, doch etwas stimmte nicht damit. Ein kleiner Teil des Gesichts wurde entblößt, wie von einem Lichtstrahl, der sich verirrt hatte. Grüne Reflexe, wo die Augen sein mussten ...
Ich riss mich von dem Anblick los, erkannte die schwarz-silberne Säule, die Sargons Bewusstseinsmatrix symbolisierte, und eilte darauf zu.
Ich ließ mich erneut in den Sternenhimmel dahinter ziehen und landete wiederum in dem Korridor, den ich zuvor betreten hatte. Diesmal hielt ich mein Tempo unterhalb der Grenze, die ich instinktiv wahrnahm. Es gelang mir, die Geschwindigkeit der Eindrücke so zu halten, dass ich sie aufnehmen konnte und ich kam zügig voran. Wenn auch nicht so rasch, wie zuvor. Die Bilder, wie in leuchtenden Rahmen eingefangen, huschten an mir vorbei.
Wieder sah ich mein dümmliches Gesicht neben dem Scanner, ein ganzes Stück dahinter der Tempel der Kalimbari, danach ein berstender Mond.
Ich ging schnell, doch nicht zu schnell, weiter. Ich kam an Susannahs Gesicht vorbei, schmerzverzerrt und voller Tränen.
Weiter!
Dort die Charybdis ... Geran ... viele Welten, viele Nefilim.
Ich erreichte das Ende des Korridors. Um mich herum entstanden ständig neue Bilder, wirbelten umher, wie Blätter in einem Sturm. Ich musste nahe an jenem Ort sein, der Sargons Bewusstsein war.
Doch eine Zone im Zentrum war vollkommen schwarz.
Ich trat einen Schritt voran.
Fühlte, roch, schmeckte ...
... nichts.
Aber dafür stürmten unzählige andere Informationen auf mich ein.
Messdaten, Fernübertragungen, Schwerkraftwirkungen, wie Strömungen in einem unendlichen Ozean. Im Strudel der Impressionen bildete sich ein absoluter Mittelpunkt ab. Ein Fremdkörper, eine Art harte, hässliche Perle erschien im Abstand einer Armeslänge vor mir. Ich konzentrierte mich auf diesen Ort und ertastete ihn mit meinem Geist. Er war wie eine faustgroße Kugel aus pockennarbigem, schwarzem Mineral. Die abscheuliche Kugel flüsterte eine nicht endende Kakophonie aus Befehlen und Anweisungen. Dies war Gerans Wille, die Essenz seiner Anordnungen für Sargon. Ich streckte meine Hand aus Nefilim-Metall aus, ergriff und zerdrückte die Kugel. Wie ein poröses Gebilde aus trockenen Knochen zerplatzte sie unter meinem Zugriff.
Urplötzlich stoppte der Wirbel der Bildimpressionen und ich wurde in die Halle zurückgeworfen, wo ich unsanft auf den Rücken geschleudert wurde.
Ich lag unter dem von Dunkelheit verhüllten Gesicht, das ein paar Lichtstrahlen einfing. Lippen glitzerten.
Keine Zeit!
Ich raffte mich auf, lief zu der Säule, die Zurvan repräsentierte und sprang in die Finsternis dahinter.
Diesmal trat ich in den Trichter eines Sturms, der um mich herumwirbelte. Was geschah hier? Unter meinen Füßen sah ich ein menschliches Gesicht - eine junge Frau, ihr Hals vom brutalen Zugriff klobiger Finger abgeschnürt.
Was zum Henker ging vor sich?
Dies musste eine Szene aus Zurvans Vergangenheit sein. Aus seiner Zeit als Mensch? Hatte er jemanden erwürgt? Oder war es ein Sinnbild für ... Hass? Psychische Probleme?
Ich blickte nach oben und sah einen Wirbelwind wie einen Hurrikan, der alles nach oben zog. Der Wind erfasste meine einfachen Kleider und ich ließ mich von ihm ergreifen. Meine Füße hoben vom Grund ab und ich sah mich um. Bilder und Impressionen unaussprechlicher Sinneseindrücke umfingen mich wie ein schrecklicher Mahlstrom. Entweder war dieser Verstand sehr viel chaotischer, oder es hatte etwas mit meiner Wahrnehmung zu tun. Die Geschwindigkeit der Eindrücke nahm zu und ich bemühte mich, nicht von dem Strudel mitgerissen zu werden. Haltlos stieg ich höher - immer schneller!
Ich protestierte lauthals, doch meine Stimme verhallte tonlos in dem Lärm der Impressionen. Ich ruderte mit den Armen und wechselte hektisch von einer Wahrnehmung zur nächsten, sah, hörte, roch, schmeckte, fühlte und wurde mit Eindrücken jenseits der Möglichkeiten menschlicher Sinne konfrontiert. Ich durfte mich nicht von dieser Informationsflut übermannen lassen. Dann würde ich wieder hinausgeschleudert werden und musste erneut anfangen.
Ich biss die Zähne aufeinander, formte meinen Willen zu virtuellen Flügeln, die mich durch den Orkan hinauf in das Auge des Sturms trugen.
Schreiend stieß ich in Zurvans Bewusstsein und erreichte jene harte Kugel, die offenbar Gerans Willen, seine Befehle repräsentierten. Hier war sie größer, wie aus Metall. Woran lag das? Hatte Zurvan sich leichter Gerans Willen gefügt?
Ich schlug auf die Kugel, doch sie widerstand meinem Angriff. Nicht ein Kratzer war in der Oberfläche erkennbar. Ich untersuchte das Ding, fand keinen Makel und mir wurde klar, dass ich hier keinen Erfolg verzeichnen würde. Das konnte nur bedeuten, dass ich nicht alle Nefilim von Gerans Befehlen lösen konnte. Die Konsequenzen waren weitreichend und schrecklich.
Ich zog mich zurück und landete wieder in der Kuppelhalle. Das Gesicht über mir zeigte ein schmales Kinn über das eine schwarze Strähne fiel. Was passierte, wenn das Gesicht freigelegt wurde?
Instinktiv wusste ich, dass meine Zeit hier dann abgelaufen war. Was auch immer dazu führte, dass sich dieses Bild über mir manifestierte, verursachte auch, dass ich entdeckt werden würde. Dann war es aus, unsere List, mein Eindringen durch die Hintertür in Musashis Bewusstseinsmatrix mittels Odins Algorithmus fand ein jähes Ende.
Ich stand auf und drehte mich einmal im Kreis.
Noch 141 Säulen.
Welche jetzt?
Ich rannte an den Säulen entlang und entdeckte, dass es leichte Unterschiede gab. Eine halbtransparente Säule zeigte Feuer und absolute Finsternis. Es konnte Amaterasus Bewusstseinsmatrix sein, von der ich wusste, dass sie zurzeit nicht in das Kollektiv-Gedächtnis eingebunden war.
Daneben lag eine brüchige Säule, moosüberwuchert, dunkel, von zahlreichen Beschädigungen übersät. In der Dunkelheit dahinter waren keine Sterne. Die Säule repräsentierte offenbar Odin, der vor langer Zeit seinen Zugang zum Kollektiv-Gedächtnis verloren hatte.
Ich rannte weiter, entdeckte weitere Säulen, die entweder transparent oder zerfallen waren. Doch die überwiegende Anzahl war intakt. Ich musste mich entscheiden und trat an eine Säule, die lindgrün gefärbt war. Der Sternenhimmel dahinter zog mich an und ich wurde in einen Korridor gezogen, ähnlich jenem, den ich bei Sargon entdeckt hatte.
Auch hier waren viele Bilder und Impressionen um mich herum, bildeten Wände, Decke und Boden. Ich eilte mit höchstmöglicher Konzentration voran, vermied es, meinen Blick auf die Erinnerungen zu richten, die meine Aufmerksamkeit mit aller Macht auf sich lenken wollten. Doch ich durfte mich der Versuchung, sie anzublicken, nicht ergeben, musste mich vollständig auf mein Ziel konzentrieren.
Mit zusammengebissenen Zähnen erreichte ich die schwarze Kugel am anderen Ende des Korridors. Wie bei Sargon, war hier eine kleine hässliche Pille, die meinem Zugriff kaum standhielt und unter einem Griff meiner metallenen Finger zu Staub zerfiel.
Mit einem Schlag wurde ich in die Halle zurückgeworfen.
Ich blieb einen Augenblick auf dem Rücken liegen, desorientiert. Über mir malte ein unsichtbarer Maler Details in jenen schattenverhüllten Fleck, der ein Gesicht zeigen würde, wenn meine Zeit hier abgelaufen war. Schon jetzt sah ich ein Lächeln und den Ansatz eines Halses, den ich vor langer Zeit geküsst hatte.
Ich riss meinen Blick los, sprang auf, hetzte zur nächsten Säule, die solide genug erschien und preschte mit einem Satz in den Sternenhimmel dahinter.
Hier war wieder einer jener chaotischen Impressionsstürme, wie ich ihn bereits in Zurvans Bewusstseinsmatrix erlebt hatte. Nicht bereit, vorschnell aufzugeben, kämpfte ich mich bis in das Auge des tosenden Sturms hinauf. Erneut erwartete mich die stählerne Kugel, die ich zuvor gesehen hatte und wieder gelang es mir nicht, sie zu zerstören.
Ich ließ mich in die Kuppelhalle zurückfallen und landete diesmal auf den Füßen. Ohne einen ängstlichen Blick nach oben zu werfen, rannte ich mit höchster Konzentration auf die nächste Säule zu. Sie schien solide, der Sternenhimmel hinter ihr leuchtete hell und ich sprang hinein.
Diesmal ein Korridor.
Erinnerungen an ein Leben als Mensch...
... und noch eines als Maschine.
Ich fand die poröse Kugel, zerschmetterte sie mit einem kräftigen Hieb und stieß zurück in die Halle.
Diesmal landete ich nicht auf meinen Füßen, sondern flog wie ein Pfeil auf die nächstbeste solide Säule zu, drang in den Sternenhimmel vor.
Ein Bildersturm um mich herum.
Ich wagte ein letztes Mal den Versuch, die stählerne Kugel zu zerstören, doch auch hier hatte ich keinen Erfolg.
Zurück in die Kuppelhalle und zur nächsten Säule!
Ein Sturm empfing mich und ich zog mich sofort zurück in die Halle, stürzte in den Sternenhimmel hinter der nächsten Säule. Hier war ein langgestreckter Korridor und mit Erfolg zerschmetterte ich die poröse Kugel an seinem Ende.
Zurück!
Nächste Säule, hinein in den Sternenhimmel.
Ein Korridor ... eine kleine Kugel ... Staub in meinen Fingern.
Ich hetzte weiter und weiter.
Ich verlor den Überblick, und als ich nach unzähligen Korridoren und Bilderstürmen zurück in die Halle geworfen wurde, stolperte ich erschöpft.
Ich fiel lang hin und rollte mich auf den Rücken.
Über mir lächelte ein Gesicht auf mich herab.
Es war Susannah.
Natürlich.
Das Gemälde, das die gesamte Kuppel bedeckte, geriet in Bewegung. Menschen, Raumschiffe, Dinge flogen umher. Ich hörte Schüsse, Musik, Lachen, ein Flüstern.
Und sie sprach meinen Namen.