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Marianne hielt süße Torten für den angemessenen Trost, Marie hatte Hühnersuppe mitgebracht, Ulla Nudelsalat, und Bremer stellte Schnaps auf den Tisch. Lilly weinte nicht mehr, sie sah so ratlos aus wie ein Kind, das sich verlaufen hatte. Bremer hatte eine trockene Kehle. Zuviel Kaffee. Und er vermißte den alten Wilhelm. Alle vermißten ihn.

Moritz kam später. Er hatte nichts Nahrhaftes mitgebracht, nur Nachrichten.

»Sie haben Walter Manz rehabilitiert. Luca hat ein Mordstheater gemacht, als er von dem Verdacht gegen ihn hörte. ›Der? Wenn der seine schmutzigen Pfoten nach mir ausgestreckt hätte …‹«

»Und die Fotos?« Fotos von Luca, geschminkt und in Frauenkleidern. So hatte der Knabe auch ausgesehen, als Peter Abel ihn aus dem Haus trug.

»Luca hat damit überhaupt kein Problem. ›Warum soll der denn nicht knipsen dürfen?‹ Er hat sich schon immer gern verkleidet, hat Nicole gesagt. Der eitle kleine Fatzke fand sich offenbar schön.«

Lilly holte Besteck aus dem Küchenbüfett. Stellte Teller hin. Stand in der Mitte des Raums, mit hängenden Schultern und leerem Blick. Bremer ging zu ihr und nahm sie in den Arm.

»Und was war mit der Winter?« Mariannes helle Stimme klang noch heller, wenn sie neugierig war.

Bei Sophie gab es die richtigen Klamotten, dachte Bremer. Blumenkindergewänder.

»Dazu sagt der Knabe nichts. Eisern. Außer daß sie ihn Sascha genannt hat.«

»Und was hat sich die kleine Bestie eigentlich dabei gedacht, so lange zu verschwinden?«

»Ich habe versucht, Nicole klarzumachen, daß Luca professionelle Hilfe braucht«, sagte Moritz.

Den Kinderpsychiater. Und wenn man Pech hatte, wurde aus Luca irgendwann ein ganz normaler, furchtbar langweiliger junger Mann, dachte Bremer.

»Warum hat sich die Winter eigentlich umgebracht?« Wieder Marianne. Bremer führte Lilly zurück an den Tisch und goß ihr einen Schnaps ein. »Doch wohl nicht aus Angst vor Peter, oder?«

»Und ich hab gedacht, er hätte was mit ihr! Weil er so oft unterwegs war abends. Und nachts. Er hat Glück gehabt, daß der Winter nichts passiert ist.« Ulla Abel hatte das Staunen der Gerechten in der Stimme.

»Sophie Winter muß geglaubt haben, sie hätte Luca getötet.«

Moritz war beim zweiten Stück Kuchen. Wie machte der Mann das bloß? Bremer nahm schon beim Anblick zu.

»Sie war übrigens geschminkt, so ähnlich wie Luca, und trug eine dieser bestickten Lammfelljacken, als man sie fand. Halb verschneit. Und sie hat gelächelt. Als ob sie eine Erscheinung gehabt hätte, hat Karlheinz gesagt. Der war ganz andächtig.«

Selbst ein Mann fürs Grobe wie Karlheinz, der seit Jahren für die Gemeinde arbeitete, war für tragische Größe empfänglich, dachte Bremer. Das berührte ihn.

Ulla häufte Lilly Nudelsalat auf den Teller. »Du mußt was essen«, sagte sie mütterlich. »Ich bleibe heute nacht bei dir, wenn du willst.«

Der Vorschlag war nicht gänzlich selbstlos. Ulla Abel war ausgezogen. »Ich konnte ihn schon lange nicht mehr sehen«, hatte sie vorhin verkündet. »Aber daß er pervers ist …«

Peter blieb allein zurück. In Freiheit. Da Sophie als betroffene Partei keine Klage mehr erheben konnte, gab es auch keine Handhabe gegen ihn. Grober Unfug ist kein Kapitaldelikt.

»Was hatte eigentlich ausgerechnet Peter gegen Sophie?« Ich kenne welche, die bessere Gründe gehabt hätten, dachte Bremer und blickte hinüber zu Marie, die erstaunlich ruhig wirkte. Weil Sophie tot war? Denkbar ist alles.

Ulla sah auf. »›Die haben schon damals alles kaputtgemacht‹, hat er mir zum Abschied erzählt. ›Und jetzt auch noch meine Ehe.‹« Sie lachte. Dann wurde sie ernst.

»Er hat das ja damals alles hautnah mitgekriegt. Erika ging bei den Abels ein und aus und hat sich zu seiner Mutter geflüchtet, als sie irgend etwas bei den Hippies erlebt hat, das sie erschreckt haben muß. Daraufhin hat Peters Onkel bei Gottfried angerufen. Und dann sind die beiden los, um den Hippies die Meinung zu sagen.«

Ein Dorf vergißt nie. Und ein kleiner Junge manchmal auch nicht.

»Wußte Peter von Sophie Winters Buch?«

»Ja. Und das hat ihn in seinem Haß noch bestärkt. Was er in der Nacht vorhatte, als er in das Haus eindrang, will ich gar nicht erst wissen. Aber wenigstens hat er Luca gerettet.«

Luca. Der Sturm. Die zerbrochene Fensterscheibe. Plötzlich begriff Bremer, warum die Scherben auf der falschen Seite lagen. Der Junge hatte sich damals schon in Sophies Haus verkrochen und von innen die Scheibe eingeschlagen, in der Hoffnung, jemand würde nach Sophie schauen. Ulla Abel hatte das Geräusch gehört, hatte Wilhelm angerufen, der wiederum Bremer zu Sophie geschickt hatte.

Luca hatte Sophie das Leben gerettet. Der Gedanke immerhin war tröstlich.