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Marie stellte das Radio laut, als die Meldung kam, die sie nun schon so oft gehört hatten. »Vermißt wird Luca, zwölf Jahre alt, aus Klein-Roda bei Bad Moosbach. Der Junge hat blonde Haare, blaue Augen, ist schlank und ca. 1 Meter 65 groß, trägt blaue Jeans und eine rote Windjacke und ist am 27. März zum letzten Mal gesehen worden. Sachdienliche Hinweise bitte an die Polizei in Bad Moosbach oder an jede andere Polizeidienststelle.«
Marianne murmelte etwas vor sich hin, was Bremer für Beten gehalten hätte, wenn er sie nicht besser kennen würde.
»Ruhig bleiben«, sagte Gottfried und faßte nach Maries Hand. Seit einer halben Stunde hockten sie am Küchentisch im Haus von Gottfried und Marie und erörterten die Möglichkeiten, die noch blieben. Es waren nicht mehr viele.
Bremer konnte die Spannung mit Händen greifen. Sein Dorf war dabei, sich in einen Gemütszustand hineinzusteigern, der ihm vertraut war. Er folgte einem uralten Muster: Da draußen ist ein Feind, der das Zusammenleben bedroht. Dagegen rottet man sich zusammen. Und kämpft.
Aber alles Nötige schien bereits getan.
Moritz lehnte an der Tür, hatte die Brille abgenommen und rieb sich die Augen. »Wir haben im Umkreis von etlichen Kilometern alles abgesucht, wo sich ein Kind verstecken kann. Scheunen. Heuschober. Keller. Schuppen. In Mariannes Keller haben wir übrigens Bastis Katze gefunden, wir vermuten jedenfalls, daß sie es mal war.«
Der Kleine hatte vor zwei Jahren das ganze Dorf in Aufruhr versetzt, als seine Katze verschwunden war, nichts hatte ihn trösten können. Nur sein Großvater Gottfried. Und das Akkordeon.
»Im Schuppen von Erwin lagert eine beeindruckende Schnapsflaschensammlung.« Moritz grinste. »Alle leer und antik, natürlich.« Man hatte Erwin nach seiner Heimsuchung durch den Suchtrupp der Nachbarn minutenlang schimpfen gehört, ungewohnterweise in ganzen Sätzen, in denen das Wort »Privatsphäre« eine Rolle spielte. Schließlich trank er schon seit Monaten keinen Tropfen mehr.
»Wer mag schon, wenn bei ihm zu Hause herumgestöbert wird.« Marianne machte schmale Lippen. Eine Superüberhausfrau wie sie, bei der immer alles tipptopp sauber sein mußte, hatte es nicht gern, wenn man Leichen in ihrem Keller fand, und wenn es nur skelettierte Katzen waren.
Bei Bremer gab es keinen Keller, dafür fand man Rattenkadaver und aufflatternde Fledermäuse auf seinem Dachboden. »Hier müßte auch mal was passieren«, hatte Moritz mit kritischem Blick auf den Dachstuhl gesagt, und für ein paar Sekunden glaubte Bremer, im Gebälk den Holzbock ticken zu hören. Aber wahrscheinlich hatte Moritz lediglich an das notleidende Zimmermannshandwerk und eine Vermittlungsprovision gedacht.
»Wenn Luca nicht hier ist, wo ist er dann?« Maries Nerven lagen bloß. Die waren nie gut gewesen, aber seit Lucas Verschwinden brachte sie sich halb um vor Sorge um Basti. Die Eltern des Jungen hatten eine Forschungsprofessur in den USA angenommen, vor einem halben Jahr. Seither wohnte er bei den Großeltern. »Die Verantwortung, weißt du«, pflegte Gottfried zu sagen und das Gesicht in Falten zu legen.
»Und wenn der Junge verunglückt ist und irgendwo hilflos liegt?«
Moritz schüttelte den Kopf. »Wir haben den alten Silberbergwerksstollen abgesucht. Die Polizei hat Taucher zum Baggersee geschickt. Nichts.«
»Und der Tunnel?« Bremers Frage blieb in der Luft hängen und schien sich dort zu einer schwarzen Wolke zu verdichten. Die Frage berührte eine tiefe Wunde. Im Tunnel, einer unterirdischen Anlage bei Ebersgrund, war vor vielen Jahren der kleine Martin getötet worden, eine Tat, die noch Jahrzehnte später Menschenleben zerstört hatte. Etliche Jahre später hatte man dort die entführte Tamara gefunden, gottlob unverletzt. Der Tunnel war die schmerzende Stelle in der Kollektivseele der Region. Er war 1939 entstanden, als die Eisenbahnstrecke zweigleisig ausgebaut werden sollte, aber er wurde nie benutzt. In der weiträumigen unterirdischen Anlage stellten im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter Steuerelemente für Hitlers Wunderwaffe V2 her. Nach dem Krieg fand man auf einem Nebengleis einen komplett eingerichteten Zug mit Salon- und Schlafwagen – den Zug des Führers, wie einige der Älteren andächtig sagten. Mit dem der feige Verbrecher fliehen wollte, behaupteten die weniger Andächtigen.
»Wir haben auch den Tunnel abgesucht«, sagte Moritz. »Wir haben keine Spur von dem Bengel gefunden.«
»Und wenn es doch russische Kinderhändler waren? Wie bei der kleinen Greta?« Der Fall der vierjährigen Greta hatte die Medien monatelang beschäftigt. Marianne kannte unter Garantie noch die schrecklichsten Details und die wildesten Theorien. Aber das Mädchen wurde nie gefunden. Ebensowenig russische Kinderhändler. Doch Marianne wußte, was sie wußte.
»Vielleicht sollten wir Lucas Foto und die Suchmeldung kopieren und an die Bäume hängen?« Der Vorschlag war typisch Mann. Bremer lächelte Gottfried verständnisvoll zu, während Marianne »Das Kind ist doch kein entlaufenes Haustier!« fauchte.
Schweigen. Und dann Marie, mit ungewohnter Bitterkeit in der Stimme. »Habt ihr euch mal in ›Heinrichs Verhängnis‹ umgesehen?«
»Aber natürlich.« Moritz, beruhigend.
»Auch in dem Haus?« Marie klang nicht so, als ob sie sich beruhigen ließe. »In dem Haus, in dem damals … Du weißt, was ich meine, Wilhelm, oder?«
»Damals ist lange her.« Wilhelm sah aus, als ob er lieber woanders wäre. Aber er schien zu wissen, worauf Marie anspielte.
»Dieses verdammte Hexenhaus.« Marie schüttelte Gottfrieds Arm ab, den er ihr um die Schultern legen wollte. Ihre Augen blitzten. »Diese verdammte Hexe.«
»Meint ihr das Haus von Sophie Winter?« Bremer sah von einem zum anderen. »Und was ist damit? Hat wer nachgeschaut?«
»Es war niemand da. Ich gehe morgen wieder hin.« Moritz hatte den Kopf an den Tür stock gelegt und die Augen geschlossen.
»Es war niemand da. Soso.« Marie fauchte wie eine wütende Katze.
»Außerdem neigen Frauen nicht zur Entführung zwölfjähriger Schuljungen«, sagte Moritz müde.
»Und wie ist es mit dem Verführen?« Marie, rote Flecken auf den Wangen. »Neigen Frauen auch dazu nicht?«
»Marie!« Diesmal schaffte Gottfried es, sie in den Arm zu nehmen. Marie brach in Tränen aus. Bremer fiel auf, wie zart und durchscheinend sie geworden war und wie tief sich die Falten in ihr Gesicht gegraben hatten. Sie mußte ähnlich alt sein, aber sie sah weit älter aus als Sophie Winter. »Die Hexe.« Was hatte sie gegen die Frau?
»Laß doch die alten Geschichten, Marie«, sagte Wilhelm leise.
Alte Geschichten. Wilhelm, du wiederholst dich. War das nicht auch die eher schwache Begründung dafür gewesen, daß Ulla Abel nicht nach Sophie Winter gesehen hatte?
»Was für alte Geschichten?«
Wilhelm wich Bremers Blick aus. »Fang du nicht auch noch damit an, Paul«, sagte er leise, mit Blick auf Marie.
»Ich muß dann mal.« Moritz löste sich von der Tür. »Ich sollte mich ein bißchen um Nicole kümmern.«
Lucas Mutter war gestern hinter der Ladenkasse weinend zusammengebrochen – nach Tagen bewundernswerter Haltung.
»Hab mich schon gefragt, wann sie endlich mal ein paar Gefühle zeigt. Ich an ihrer Stelle …«
»Du bist nicht an ihrer Stelle, Marianne. Sei froh«, sagte Moritz leise.
»Ich meine, man geht doch nicht einfach weiter arbeiten, wenn das eigene Kind …«
»Besser, als allein in einem leeren Haus zu sitzen«, murmelte Wilhelm.
Marianne schüttelte trotzig den Kopf. »Sie hätte mal lieber gleich zu Hause bleiben sollen. Als das Kind noch da war. Aber von geordneten Verhältnissen konnte bei Nicole ja nie die Rede sein.«
»Das ist gemein«, sagte Moritz und ging hinaus.
Marianne zuckte die Schultern. Gottfried streichelte beschwichtigend über Maries Arm. Und Wilhelm sah noch besorgter aus als üblich. Auch Bremer verabschiedete sich. So sind sie, die lieben Nachbarn, dachte er, als er den Friedhofsweg hinunterging.
Hoch oben saß der einsame Star auf der Antenne und schnalzte und knödelte seelenvoll vor sich hin. Am Horizont zogen Flugzeuge weiße Streifen hinter sich her. Für einen Moment wünschte Bremer sich wieder weit weg.
Ich vermisse dich
Ich freue mich auf dich