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»Warum wird man Polizist?« Ich mag eigentlich keine, dachte Sophie. Ich habe meine Gründe dafür.

»Was glauben Sie?«

Er bewegte den Schaltknüppel, als ob er beim Getriebe höflich anfragte. Das war angenehm. Auch daß er die Haare viel zu lang trug und sich einen Dreitagebart erlaubte, was sie eigentlich gar nicht mochte, aber es stand ihm.

»Wollen Sie eine ehrliche Antwort?«

Ein kantiges, vernarbtes Gesicht mit langem Kinn. Und dann die Augen: nicht hellbraun, wie ihre, sondern dunkel, tiefliegend, etwas beunruhigend. Wie der ganze Mann.

Sie nickte. Und hoffte, daß er etwas anderes zu bieten hatte als das tief betroffene Geschwätz in den Fernsehkrimis: daß er die Schwachen schützen wolle. Und für die Gerechtigkeit sei. Wer war das schließlich nicht.

»Weil es besser ist, Polizist zu werden, als im Knast zu landen.«

Er manövrierte durch den Stau auf dem Alleenring, als ob er mit der Eleganz des Autos wetteifern wollte. Geschmeidig. Mit gerade dem richtigen Kick, was das Gasgeben betraf. Bei der Hansaallee fuhr er eine Schleife auf die Eschersheimer. Rechts vor ihnen lag das neue Polizeipräsidium. Schade, dachte Sophie.

»Weil ich schon mit 14 ein kleiner Gauner war und mit 15 nicht mehr daran glaubte, das Talent zum großen Gauner zu haben.« Er fuhr auf den Parkplatz, bremste, stellte den Motor aus, drehte sich zu ihr und sah sie an. Dann lächelte er. »Mittlerweile gibt es auch noch ein paar bessere Gründe.«

Wahrscheinlich durfte man ihn nicht reizen. Bestimmt war er eitel, so wie er sich kleidete. Sicher war er launisch. Autoritär. Und doch hatte sie sich bei ihm beschützt gefühlt. Das waren widersprechende Eindrücke, die sie irritierten.

»Darf ich Sie auch etwas fragen?«

Sie nickte.

»Ein zwölfjähriger Junge wird vermißt. Mich beschäftigt das.« Er hielt den Autoschlüssel in den langen Fingern, er schien ihn zu streicheln. »Daß Menschen einfach so verschwinden und nicht wieder auftauchen – das hat mich schon immer beschäftigt.« Sie mußte zu intensiv auf seine Hände gestarrt haben, denn er zuckte fast schuldbewußt zusammen und reichte ihr den Schlüssel.

»Ihr Buch erinnert mich an etwas. Beziehen Sie sich darin auf eine wahre Geschichte?«

Warum fragen sie alle das gleiche, dachte sie.

»Natürlich ist ein Roman Literatur, also Fiktion – aber vielleicht hat Sie irgend etwas inspiriert? Vielleicht ist nicht alles erfunden?«

Wirklich, erfunden, wahr, gelogen. Warum?

»Wir können mit den heutigen Methoden viele alte Fälle aufklären. Manchmal denke ich …«

Und welche Botschaft ist die wirkliche, wahre, wahrhaftige? Die neuen Zeichen auf dem Pergament oder die alte Schrift, die langsam wieder an die Oberfläche steigt?

Sie schüttelte stumm den Kopf. Er fragte nicht weiter. Er war verlegen, als er ihr aus dem Auto half. Sie senkte den Kopf, als sie sich verabschiedeten.

Wie in Trance steuerte sie das Auto aus der Stadt heraus. Sie wäre gerne weiter mit ihm gefahren. Vielleicht hätte er irgendwann zu fragen aufgehört.

 

Es war noch viel zu früh, die Lesung begann erst in vier Stunden. Der Ort lag auf halber Strecke zwischen Frankfurt und Klein-Roda, man war in einer guten halben Stunde da. Aber sie hatte ja auch nicht die Absicht gehabt, den Drehort so früh zu verlassen. Irgendwie war alles schiefgelaufen. Erst das verunglückte Gespräch mit dem Journalisten, wie hieß er noch? Egal. Und dann Verfolgungswahn. Was war das bloß? Ihre Sinne waren überreizt. Sie brauchte Urlaub. Und vielleicht – hatte der Sturz im Sturm doch wesentliche Körperteile beeinträchtigt. Zum Beispiel den Kopf.

Regine würde tief gekränkt sein, wenn sie ihr erzählte, wie das Interview verlaufen war. Und daß sie den Regisseur hatte stehenlassen und geflohen war.

Und wenn der Polizist nicht gewesen wäre … Er hatte ihr gefallen. Obwohl ihr schon lange kein Mann mehr gefiel.

Eine Ampel. Gelb. Dann Rot. Sophie bremste.

Irgend etwas geschah mit ihr, das sich ihrer Kontrolle entzog. Sie hatte das Gefühl, daß etwas nach ihr griff, etwas Dunkles. Tu was dagegen, Sophie, dachte sie. Sie legte die Stirn auf das Lenkrad und atmete tief durch. Wehr dich.

Hinter ihr hupte es. Sie schrak hoch, legte die Kupplung ein, würgte den Motor ab. Jetzt hupten alle.

Rechts ab in die Hügelstraße, zum Autobahnzubringer. Die Abfahrt nach Kassel nicht verpassen. Sophie konzentrierte sich aufs Autofahren wie eine Novizin bei der Führerscheinprüfung. Und endlich war sie auf der Strecke.

Sie fuhr auf der rechten Spur. Sie fuhr langsam. Das schwarze Tuch des Verdecks knatterte, und es zog im Wagen. Aber die Ledersitze rochen vertraut, und das Motorengeräusch gab ihr das Gefühl, geborgen zu sein.

Das Buch. Es war ihr Triumph über die Vergangenheit gewesen. Sie hatte sie sich angeeignet und neu definiert. Aber nun war eine andere Kraft am Werk und drängte sich in ihre Erzählung. Und mit einem Mal wußte sie nicht mehr, was wirklich war und was nur ein Produkt ihrer Phantasie. Nicht das Buch war zum Leben erwacht – die Vergangenheit forderte ihr Recht und schimmerte wie eine geheime Botschaft durch den Text. Und begann, ihn auszulöschen.

Der Mann. Der Fotograf. Für einen Moment hatte sie geglaubt, ihn zu kennen. Hatte gefürchtet, daß er wie damals Marlene etwas las in ihr, daß seine Fotos sie enthüllen, sie bloßstellen würden. Daß er ihr das Gesicht nehmen könnte – die alte Indianerfurcht. Und dann, als er ihnen folgte, nach draußen, auf den Hof hinter dem Präsidium … Was wollte er von ihr?

Hinter ihr hupte ein LKW. Sie blickte auf den Tacho. Sie fuhr zu langsam, viel zu langsam. Der Mercedes reagierte sofort, als sie beschleunigte und auf die mittlere Spur wechselte. Hinter ihr blendete der LKW-Fahrer auf. Wahrscheinlich hielt er sie für den typischen Fall von »Frau am Steuer«, die an alles mögliche, nur nicht ans Autofahren denkt.

Sie verzog den Mund. Und hatte er nicht recht? Reiß dich zusammen, Sophie. Der Journalist hat dich auf dem falschen Fuß erwischt. Das kommt vor.

Und ihre Angst war nicht real. Vielleicht war es nur die Angst vor Peinlichkeit? Vor dem Moment, in dem einer vor ihr stehen, sie umarmen und »Erinnerst du dich?« sagen würde. Und, wenn sie sich nicht erinnerte, vorwurfsvoll »Ich bin doch der Winnie!« riefe. Der Winnie, der Frank, der Marco, der Paul. Einer der vielen, die ihr nichts bedeutet hatten. Keiner hatte ihr etwas bedeutet. Davor nicht und danach erst recht nicht.

Die Ehe mit Hanswolf Winter war der Versuch gewesen, endlich ein ganz gewöhnliches Leben zu führen. Normal zu fühlen, normal zu leben, normal zu sein. Nachdem alles in Scherben gefallen war, um sie herum, die Zeit der Unschuld vorbei war. Und es hatte sie gegeben, oder? Die Zeit, als der Rausch noch keine dreckige Nadel in der Vene war. Als man das Lied noch nicht zerstört hatte.

1967 in London. Sie war durch die Stadt und die Szene getorkelt wie ein liebestrunkener Schmetterling. Alles war großartig: das Wetter, die Mode, die Musik, die Männer, das LSD, der Shit und die Süßigkeiten danach, wenn man bekifft war. Süßigkeiten, die sich im Mund aufplusterten und groß und wunderbar wurden. Alles plusterte sich auf und wurde groß und wunderbar in diesem unendlichen Rausch, alles hatte Bedeutung, jede Farbe, jeder Geruch, jeder Laut, jeder Mensch. Sogar das Ich, von dem damals alle glaubten, das es in jedem Menschen verborgen war und nur darauf wartete, entdeckt und befreit zu werden.

Sophie hatte alles ausprobiert, hatte gekifft mit Steven, der einen Laden mit indischen Klamotten in Notting Hill besaß, hatte Speed eingeworfen mit David und mit ihm beim Led-Zeppelin-Konzert geknutscht, bis sie unter der Bestuhlung landeten. Peter hatte sie kennengelernt, als sie bei einer Vorstellung des Living Theatre auf die Bühne gegangen war, wo sich alle berührten. Einige zogen sich aus. Andere, vor allem die Älteren, waren auf mehr aus als die keuschen Berührungen, die sich Peter erlaubte. Und dann war da Ben. Und Mandrax. Dann Balamani. Und eine Opiumpfeife.

Und schließlich Max. Das Ende kam mit dem LSD-Trip mit Max. Erst begann der Horizont zu brennen, später sah sie im Wohnzimmer des kleinen Reihenhauses in Clapham Common Würmer aus den Wänden kriechen. Sie hatte geglaubt, tot zu sein.

Sie mußte entsetzlich geschrien haben. Jede seiner Berührungen, mit denen Max sie beruhigen wollte, hatte gebrannt wie Feuer, und sie hatte noch lauter geschrien, bis er ihr in seiner Verzweiflung den Mund zuhalten wollte und sie fast erstickt wäre. Irgend jemand holte die Polizei. Irgendwie landete sie im Krankenhaus. Irgend jemand holte sie wieder heraus und setzte sie in den Zug nach Frankfurt.

Wo schließlich alles begann, die Liebe und die Schönheit. Und erst als die Liebe zerbrach, kamen all die anderen, als ob sie die Wunde hätten schließen können – Winnie und Frank und Marco und Werner und Paul. Vorbei und vergessen. Was machte das schon.

Kurz vor Bad Soden fuhr sie auf einen Parkplatz, senkte die Rückenlehne ihres Sitzes und versuchte zu schlafen.

 

Ein Palimpsest ist ein Stück beschriebenes Pergament, das man abgeschabt hat, um es erneut benutzen zu können. Aber was geschieht, wenn sich die alte Eintragung wieder bemerkbar macht? Sichtbar wird? Mit der neuen Schrift konkurriert? Sie überwältigt? Sie ihrerseits auslöscht?